Originaltitel: The Kindness of your Nature
Kurzbeschreibung:
Marion Flint lebt allein an der rauen Nordwestküste Neuseelands. Nach einer großen Enttäuschung hat sie sich hierher zurückgezogen, um die schmerzhaften Erinnerungen an die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Eines Tages begegnet sie am Strand dem scheuen Jungen Ika. Zwischen den beiden entwickelt sich zaghaft eine Freundschaft. Mehr und mehr wächst ihr der Junge ans Herz. Und sie ist bereit, um ihn zu kämpfen, als sie droht, ihn zu verlieren. Dabei kommt sie auch ihrem eigenbrötlerischen Nachbarn George näher. Am Ende söhnt sich Marion nicht nur mit ihrer Vergangenheit aus – sie findet auch ein neue Liebe.
Über die Autorin:
Linda Olsson, geboren in Schweden, studierte Jura und arbeitete im Finanzgeschäft. Sie lebte in Kenia, Singapur, Japan und England und hat sich schließlich mit ihrem Mann in Neuseeland niedergelassen. 2003 gewann sie den Kurzgeschichten-Wettbewerb der Sunday Star Times. Ihrem Debütroman "Die Dorfhexe" gelang sofort der Sprung auf die internationalen Bestsellerlisten. Auch ihr zweiter Roman "Die Nacht trägt deinen Namen" ist ein internationaler Erfolg.
Meine Eindrücke:
Marion, die früher Marianne genannt wurde, lebt in einem abgelegenen Strandhaus an der Küste Neuseelands. Sie braucht nicht viel zum Leben: Strandspaziergänge, Ausblicke auf das Meer und den weiten Himmel, einen Unterschlupf und vor allem: Abgeschiedenheit. Sie hat sich in ihrer selbst gewählten Einsamkeit eingerichtet. Eines Tages trifft sie am Strand auf Ika, einen etwa sechsjährigen Jungen, der sehr still und mager und in unbestimmter Weise schutzbedürftig ist. Seit jenem Donnerstag, an dem sie ihm zum ersten Mal eine Suppe kocht, kommt er sie donnerstags besuchen, und sie ertappt sich dabei, dass sie auf ihn wartet.
Ika rückt Marions Leben unmerklich in eine andere Perspektive. Er braucht einerseits Hilfe, andererseits stellt er keine Forderungen, ist einfach da, donnerstags. Manchmal kommt er nicht. Marion fragt ihn nie nach seinem Zuhause; er würde ihre Fragen ohnehin nicht beantworten. Oder doch? Hätte sie ihn fragen müssen? An einem Donnerstag wartet sie vergebens und bricht am Abend zu einem Strandspaziergang auf. In den wogenden Wellen entdeckt sie einen hellen Fleck - Ika. Er treibt bewusstlos im Meer. Ist er ins Wasser gegangen? Was ist passiert? Marion entdeckt Spuren von Misshandlungen an seinem Körper und beschließt, Ika zu sich zu nehmen. Seine Großmutter, bei der er lebt, ist einverstanden, und Ika auch. Alles, was er zu Marion mitnimmt, ist ein zerbeulter Schuhkarton mit Erinnerungen: ein Babyzahn, ein Foto seiner Mutter, Muschelschalen.
Marion beginnt, sich ihren eigenen Erinnerungen zu stellen. Das, was geschehen ist, führte unweigerlich zu dem, was sie heute ist. Die Vergangenheit führt zur Gegenwart - führt sie auch in eine Zukunft?
In die Geschichte mit Ika wird Mariannes Geschichte auf zwei Zeitebenen eingeflochten. Die Geschichte der kleinen Marianne ist wie die von Ika die eines vernachlässigten Kindes, dem viel zu viel zugemutet wird. Wie Ika, der wohl an einer milden Form von Autismus leidet, ist Marion in sich selbst gefangen und streckt erst jetzt mit ungefähr fünfzig Jahren wieder zaghaft die Fingerspitzen nach dem Glück aus.
Die Geschichte wird ruhig - für manche LeserInnen vielleicht zu ruhig - von Marion in Ich-Form erzählt und widmet sich ernsten Fragen. Vielleicht hat die Autorin während des Schreibens der Mut verlassen, mögliche Antworten in aller Härte zur Diskussion zu stellen. Sie weicht sie auf, indem sie Marion einen gutherzigen, ebenfalls einsamen Nachbarn zur Seite stellt, den sie durch Ika näher kennenlernt, und sie schafft ein Happy End, das mir ein wenig zu kitschig gerät.
Die Beschreibungen des Meeres sind grandios. Ich hatte den Wind im Haar, das Salz auf den Lippen, weich und rund geschliffenes Strandgut in der Hand, feinen Sand unter den Fußsohlen und blickte mit hinaus auf die immer gleichen, doch nie ganz gleichen Wellen.
Leseempfehlung für alle, die das Meer und Geschichten über besondere Kinder lieben und die keine Scheu vor zu viel Nähe zu einer spröden Ich-Erzählerin haben.