Niels Werber: Ameisengesellschaften. Eine Faszinationsgeschichte
S. FISCHER 2013. 480 Seiten
ISBN-13: 978-3100912121. 24,99€
Verlagstext
Seit der Antike dienen Ameisen und ihre Formen des Zusammenlebens als Modell und Vergleich für den Menschen und seine soziale Organisation. Dabei ist das Bild der Ameisengesellschaft, in denen wir unsere Ordnungen spiegeln, äußerst flexibel und kann als Vorlage sowohl für republikanische wie monarchistische, libertäre oder totalitäre Vorstellungen einer Gemeinschaft verwendet werden. In seiner wissenshistorischen Studie verfolgt Niels Werber die wechselhafte Faszinationsgeschichte dieses Vergleichs und untersucht die Evidenzen und blinden Flecken, die er produziert. Was an Ameisen beobachtet wird, so der Befund, gibt Antworten auf soziologische oder anthropologische Probleme – und stellt jenseits aller Disziplinen die Frage, was der Mensch ist und was die Gesellschaft, in der er lebt.
Der Autor
Niels Werber ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Siegen. Er studierte Germanistik und Philosophie und lehrte an zahlreichen in- und ausländischen Universitäten. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Soziale Insekten, Selbstbeschreibungsformeln der Gesellschaft, Literatur und ihre Medien sowie Geopolitik der Literatur.
Inhalt
Flik, die Ameise aus "Das große Krabbeln" fehlte in den 90ern des letzten Jahrtausends in kaum einem Kinderzimmer. Die Großeltern dieser kleinen Ameisen-Fans wuchsen noch mit der Moral der Fabeln Aesops oder Lafontaines auf. Afrikanische Kinder lauschten Märchen mit Abenteuern des listigen Spinnenmännchen Kwaku Anansi. Der erzieherische Einfluss der winzigen achtbeinigen Gliederfüßer ist beachtlich. Die Symbolik der Filmbilder der Gegenwart schätzt Werber als hochpolitisch ein, da Autor oder Regisseur steuern, mit welcher Figur die Zuschauer(masse) sympathisieren wird. Jede Tierart kann als Aggressor oder Verteidiger dargestellt werden, als tugendhaft oder faul, um das Urteil der Zuschauer zu steuern.
Als Literaturwissenschaftler befasst sich Niels Werber mit der Verameisung des städtischen Lebens von Massengesellschaften in Belletristik und Fachliteratur. Der Ameisenstaat als prägnantes Symbol steht für die Polis wie für die anonyme Masse. Die Organisation staatenbildender Insekten kann man als Vorgänger republikanischer Staatsformen sehen. Den Bewohnern eines Ameisenhügels wird von Wissenschaftlern kollektive Intelligenz und die Fähigkeit zur Spezialisierung zugeschrieben, Ameisen gelten als altruistisch, erfolgreich und flexibel. Die Beobachtung und Erforschung eines Insektenstaats sei stets Selbstbeobachtung und lenke den Blick auf die menschliche Kultur, so Werber. Die Organisation eines Ameisenvolkes lässt sich als Abbild von Armeen, Sklavenhaltung, gewaltigen Verkehrsströmen, von optimierten Lagersystemen und durchgeplanter Transportlogistik nutzen. Kein Wunder, dass auch Völkerrechtler, Faschismusforscher und Sozialpsychologen die Verbindung von Ort und Ordnung in Insektensaaten für ihre Untersuchungen heranziehen.
Rückblickend ist es vermutlich kein Zufall, dass Stephenson "Leiningens Kampf mit den Ameisen" im Jahr 1937 veröffentlichte. Stapeltons SF-Roman "Last and First Men" (1930) nimmt laut Werber mit seiner schwarmintelligenten Netzwerkgesellschaft den Diskurs um die Schwarmintelligenz um Jahrzehnte vorweg und bildet nicht nur Bekanntes ab, sondern schafft eine eigene Gesellschaft.
Werber zeigt die Menschenbilder verschiedener Epochen und geht dafür bis zu den Massendarstellungen von Ernst Jünger, Aldous Huxley und Alfred Döblin zurück. Huxley stammte aus einer Familie von Zoologen und Evolutionstheoretikern, sein Bruder Julian Huxley ist laut Werber als Souffleur für die Werke seines Bruders zu betrachten. Auch auf Kiplings und Conrads Romane blickt Werber. Im gegenwärtigen Jahrtausend liefert der Ameisenhügel noch immer Stoff für Romane. Werber stellt am Beispiel des "Ameisenroman: Raff Codys Abenteuer" (Anthill, 2010) des Ameisenforschers Edward Osborne Wilson fest, dass in diesem Fall Belletristik ein größeres Publikum erreiche und wirkungsvoller sei als ein Fachaufsatz. Wilson hätte mit Anthill als Werk fiktionaler Ethnografie die evolutionstheoretische Kontroverse Dawkins versus Wilson mit literarischen Mitteln entschieden. Zwar befasst sich Werber mit Fragestellungen, denen Wissenschaftler am Thema Schwarm nachgehen, das Interesse an Schwarmintelligenz sollte jedoch nicht der einzige Grund sein, zu seinem literaturwissenschaftlichen Buch zu greifen.
Fazit
Für mich war die Lektüre des mit zahlreichen Literaturverweisen versehenen Buches Anregung, mich wieder mit einigen Klassikern zu beschäftigen. Lesern, die an Literaturwissenschaft ebenso wie an Naturwissenschaften interessiert sind, können sich von Niels Werbers interdisziplinärer Arbeit zum Wiederlesen ausgewählter Romane anregen lassen, die Völker als "Masse" darstellen.
9 von 10 Punkten