Clemens Berger: Ein Versprechen von Gegenwart

  • Die zweite Welt


    Valentin, von dem man annehmen kann, er wäre zwischen Ende zwanzig und Mitte dreißig, führt als angestellter Kellner eine elegante Bar in Wien, und außerdem mit einer Julia eine Beziehung ohne viel Engagement, die er also als gegenwärtig hinnimmt: zeitlich und örtlich vorübergehend präsent. Diese Julia spielt in Clemens Bergers Roman allerdings keine aktive Rolle, wie auch der ich-erzählende Kellner, dessen Name ein einziges Mal genannt wird, in der Hauptsache Beobachter ist; Beobachter vor allem jenes faszinierenden Paars, das eines Abends in der Bar auftaucht, nach Mitternacht, und fortan häufiger kommt, ein-, zweimal pro Woche. Sie ist offenbar wohlhabend und so unfassbar schön, dass "neun von zehn Männern alles Hab und Gut für sie aufgeben würden", er verströmt unprätentiöse Lässigkeit, was Valentin vermuten lässt, es mit einem Schauspieler zu tun zu haben. Sicher ist er sich, dass sie immer nach dem Sex kommen, höchstwahrscheinlich nach betrügerischem Sex, wofür ein Indiz ist, dass er die Frau - sie heißt Irina - eines Tages in der Stadt trifft, mit Ehering am Finger und zehnjährigem Kind an der Hand. Alles andere errät und vermutet der Kellner, der mehr und mehr in den Bann der beiden gerät, über Gesprächsfetzen, die er hört, über Gesten, Kleidung, Attitüde - alles notiert er akribisch auf den hinteren Seiten eines alten Kassabuchs. Die über alle Maßen begehrenswerte Frau und ihr cooler Begleiter, die ein eigentlich nicht zusammenpassendes Paar bilden, verkörpern für Valentin die "zweite Welt", jenes Dasein hinter den Kulissen, die die erste, "richtige" Welt bildet, die ohne jene verruchte, direkte, emotionale, gefährliche zweite nicht existieren könnte und kann.


    Das recht kurze, wunderbar dichte und im positiven Sinn eigenartige neue Buch des Österreichers, von dem u.a. der hinreißende Roman "Das Streichelinstitut" (2010) stammt, erzählt von Projektion und Wunschdenken, vom Begehren nicht nur sexueller Art, in gewisser Weise sogar von Ständen und Klassen, die längst überwunden sein sollten. Einziger Makel ist der Klappentext, der eine überwiegend erotische Geschichte vorgaukeln will: "Ein Versprechen von Gegenwart" hat seine erotischen Momente und thematisiert Sex, handelt aber nicht hiervon. Leseempfehlung!