„Schwarzbuch Waffenhandel. Wie Deutschland am Krieg verdient“ / Jürgen Grässlin
Mord(s)geschäfte im Visier
Buchtipp von Harry Popow
Ein Aufschrei! Erst Irak, Afghanistan, Libyen, Syrien, Mali – und bald auch noch Iran? „Neuerliche Kriege und Bürgerkriege, neuerliche Schlachten und Massaker, Exekutionen und weitere Menschenrechtsverletzungen schlimmster Art werden folgen, wenn die Weltgemeinschaft nicht endgültig handelt.“ Das steht geschrieben auf Seite 573 in dem soeben veröffentlichten Buch von Jürgen Grässlin mit dem Titel „Schwarzbuch Waffenhandel. Wie Deutschland am Krieg verdient“.
Jürgen Grässlin ist ein mutiger Publizist und ein Missionar. Wie es heißt, zählt er zu den profiliertesten Rüstungsgegnern Deutschlands. Er ist Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) und u.a. Sprecher der Kampagne „Aktion Aufschrei: Stoppt den Waffenhandel!“ Er ist Autor zahlreicher kritischer Sachbücher über Rüstungsexporte sowie Militär- und Wirtschaftspolitik. Er wurde mit dem »Aachener Friedenspreis« ausgezeichnet. Er ist ein Mann der gründlichen Recherche und der Tat. Auch der juristischen Auseindersetzung. Er spricht von erfolgreichen Kampagnen aus der Friedens-, Frauen, Menschenrechts- und Entwicklungsarbeit, aus Kirchen und Gewerkschaften und von solchen Aktivisten, die sich „gegen die Produktion und den Export besonders verwerflicher Waffensysteme – wie Landminen oder Streumunition – oder gegen den Waffenhandel als solchen“ wenden.
Im „Schwarzbuch“ liefert er sich erneut ein Duell mit der Macht, denn es geht um die Wurst. Um Profit und Ressourcen, weltweit. Und wenn es sein muss – mit Krieg und Mord und eiskalt einkalkulierten Toten, angeblicher „nationaler Interessen“ wegen. Ist da nicht ein „Empört Euch!“ angesagt? Wer sekundiert da Jürgen Grässlin und den immer zahlreicher werdenden Protestierenden? Wer wagt sich aus der Deckung und spuckt den Kriegsprofiteuren kräftig in die Suppe? Und das aus allen friedlichen Kanonen? Gleich zwei weitere Attacken gab es jüngst im Monat Mai gegen Wirtschaftsbosse und deren politische Handlanger. Da nahmen das ZDF mit seinem Beitrag „Tödliche Deals“ die Schuldigen an weltweiten Morden und Kriegen unerbittlich aufs Korn. Und auf dem Marktplatz in Friedrichshagen schmetterten am 27. Mai dreitausend empörte Widerständler dem Flughafendesaster, der Verschleuderung von Steuergeldern, dem unzumutbaren Fluglärm von 22 bis 06 Uhr ihr Nein entgegen. Es war die hundertste Montagsdemo!! Die Helden der Bürgerinitiativen von Berlin und Brandenburg proben den Aufstand.
Sie erweisen sich ebenso wie Tausende andere als Sekundanten des Autors Grässlin für eine bessere Welt. Er fährt mit über 600 Seiten argumentativ und polemisch einer Elite, die sich dem totbringenden Rüstungsexport verschrieben hat, in die Parade. Das friedliche Waffenarsenal der Publizistik im Hocheinsatz kontra dem Arsenal der Tötungsmaschinerie. Ein weitgehend totgeschwiegenes Thema, fährt dieses Mordgeschäft doch unerhörte Profite ein, ungeachtet der Tatsache, dass mit deutschen Waffen gemordet und gelyncht wird, Demonstranten niedergeschossen werden. Von Ethik und Moral keine Spur. Einen ganzen Sack von brisanten Daten und Dokumenten schüttet der Autor vor den Lesern aus, dazu 20 Täterprofile und 23 Infokästen. So erhalten die Opfer eine Stimme und die Täter „Namen und Gesicht“, wie er schreibt.
Jürgen Grässlin verweist auf den Seiten 22 und 23 auf die Potsdamer Konferenz, die vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 stattfand. Dort wurde u.a. die völlige Abrüstung und Entmilitarisierung Deutschlands und die Ausschaltung der gesamten deutschen Kriegsproduktion beschlossen. Sowohl in der Präambel des Grundgesetzes als auch im Artikel 26 sei die Friedenssicherung „festgeschrieben“, die Führung eines Angriffskrieges für „verfassungswidrig“ erklärt und „Zur Kriegführung bestimmte Waffen dürfen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden“.
Doch Wort und Tat klafften auseinander. „Zur Remilitarisierung Deutschlands gehörte neben einer eigenen Armee auch der Wiederaufbau einer eigenständigen Rüstungsindustrie.“ (S. 24) Vor allem die USA habe Interesse an der deutschen Wiederbewaffnung gezeigt, was die Adenauer-Regierung weidlich zu nutzen wusste. „Die Gespenster der Vergangenheit kehrten in neuem Gewand zurück“, so Jürgen Grässlin. Nicht zu vergessen: Erwiesenermaßen mit Unterstützung alter Nazikader!
Jürgen Grässlin lässt keinen Zweifel daran: Rüstungsexporte müssen generell verboten werden. Und wenn sie schon praktiziert werden, unterliegen sie laut Grundgesetz und vielmals überarbeiteter politischer Grundsätze strengen Auflagen. So darf nicht in Staaten und Länder exportiert werden, die Menschenrecht verletzende Handlungen praktizieren. Verwiesen wird zum Beispiel auf Seite 34 mit den im Jahre 1971 beschlossenen „Politischen Grundsätzen“ auf den Willen der jeweiligen Bundesregierungen, „Rüstungsexporte nach eigenen politischen Vorstellungen zu gestalten“. Vom Export deutscher Kriegswaffen, so die Grundsätze wenig später ergänzend, wurden grundsätzlich Spannungsgebiete ausgeschlossen, „wenn eine Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine erhebliche Störung der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu befürchten“ war. (S. 36) Trotz dieser Beschränkungen muß der Autor immer wieder aufs Neue feststellen: Die Wirklichkeit sieht anders aus. Kriegswaffen würden sehr wohl an Staaten ausserhalb des atlantischen Bündnisses, in Spannungsgebiete sowie in Länder der Dritten Welt „grenzenlos“ geliefert. (S. 36)
Der Publizist blickt mit einer unglaublichen Akribie hinter die Kulissen der Viereinigkeit Politik, Konzerne, Banken und Bundeswehr. Sie alle ziehen an einem Strang wenn es darum geht, nicht nur Profite zu sichern, sondern ihre politische und ökonomische Vormachtstellung in Europa und in der Welt weiter auszubauen. An vorderster Front der Waffenfabrikanten, so der Autor, stehen u.a. Eurofighter Jagflugzeug GmbH, Heckler&Koch, EADS, Krauss-Maffei Wegmann, MTU Friedrichshafen, Rheinmetall Defence, Daimler AG und Daimler Trucks North America. Nehme man nur Heckler&Koch unter die Lupe. Dieser Konzern unterhält enge Beziehungen nach Saudi-Arabien, denn die feudale Golfdiktatur habe die Erlaubnis erhalten, deutsche Sturmgewehre in Lizenz selbst zu produzieren. Man verweist auf die massiven Menschenrechtsverletzungen, die das Regim in Riad verantwortet, vor allem auf die blutige Unterdrückung der schiitischen Minderheit im Osten des Landes. 2012 habe Berlin „Kleinwaffen“-Exporten im Wert von über 76 Millionen Euro zugestimmt. Kleinwaffen sind u.a. Pistolen, Maschinenpistolen und Sturmgewehre. Experte nennen sie die „Massenvernichtungswaffen des 21. Jahrhunderts“.
Saudi-Arabien sei seit jeher ein Verbündeter im Kampf gegen Terror und al-Qaida, Kritik an völkerrechtswidrige Militäraktionen würde – falls überhaupt – nur zurückhaltend vorgebracht, und Schwarz-Gelb warf jegliche Bedenken über Bord und steigerte die Ausfuhr von Waffen 2010 auf ein einmaliges Rekordniveau. (S. 138) Schließlich verkamen die „Politischen Grundsätze“ in der Ära Merkel/Steinmeier endgültig zur Makulatur. (S. 107) Es sei besonders verwerflich, wenn z. B. Rot-Grün die Aufrüstung des Regimes in Riad betrieb. So stiegen der Wert der Waffenexportgenehmigungen durch die Bundesregierung und nachgeordneter Kontrollbehörden von 51,1 Mio. DM (1999) auf 72,8 Mio. DM (2000). Ganz legal wanderten Teile für Gewehre und Karabiner, Schießanlagen, Herstellungsausrüstung für Teile von Maschinenpistolen und automatischen Gewehren, für Munition für Haubitzen und Teile für Kampfflugzeuge nach Saud-Arabien. (S. 81) Nach siebenjähriger Regierungszeit habe der Waffenexport einen Umfang von rund 8,3 Mrd. US-Dollar betragen – ein Fiasko. (S. 92)
Als klassische Kriegsprofiteure bezeichnet Jürgen Grässlin die Rüstungskonzerne und Zulieferbetriebe. In der Ära der christlich-sozialen und dem ersten Jahr der christlich-liberalen Koalition von 2005 bis 2010 lieferten allein die „sechs führenden Rüstungskonzerne Deutschlands (mit MTU Aero Engiges) Kriegswaffen im Gesamtwert von 127,71 Mrd. US-Dollar an NATO-Staaten, NATO-assoziierte Länder und Drittländer, darunter zahlreiche kriegführende und die Menschenrechte missachtende Staaten“. (S. 224)
Wer entscheidet letztendlich über Waffenlieferungen? Das ist der Bundessicherheitsrat – aber weitgehend hinter verschlossenen Türen. Bescheinigt wird den Bundesregierungen seit Mitte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts eine desaströse Gesamtbilanz. CDU/CSU, SPD und FDP etablierten Deutschland an dritter Stelle der Weltwaffenexporteure nach den USA und Rußland. Treffgenau die folgende Feststellung, auch hinsichtlich kommender Wahlen: „Dabei spielte es letztlich keine Rolle, welche Koalition aus den vier Altparteien die Regierungsgewalt innehielt.“ (S. 66)
Dass Konzerne und Banken vom Geschäft profitieren ist ja nicht neu. Weniger im Blickpunkt stehen die Mittel des Lobbyismus, bei dem, so der Autor, durch persönliche Kontakte der personelle „Austausch zwischen Industrie und Amtsseite“ für eine „enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit“ zu sorgen habe. (S. 192) Wörtlich dazu auf Seite 193: Laut Recherchen des Magazins stand fest, dass „die Waffenfirma Heckler&Koch aus Oberndorf am Necktar 20 000 DM für die Parteikasse der FDP gespendet habe, nachdem das Unternehmen im (…) Wirtschaftsministerium um die Genehmigung für den Export von Gewehrteilen für eine Waffenfabrik, ebenfalls in Saudi-Arabien, eingekommen war“. (S. 193)
Entlarvend wirken jene Textstellen, die sich mit der vielfachen Schönfärberei, den Verhüllungen der Geschäftsbeziehungen, den Tricks in der Wortwahl und den Vertuschungen hinsichtlich der Motivation befassen. Statt Krieg sagt man zum Beispiel „Stabilisierungseinsätze“. Da müssen, und das betont der Autor mehrfach, Scheinargumente herhalten, zuallererst das der Arbeitsplätze, wobei der Rüstungsexport nur 0,12 Prozent zum Gesamtexport beiträgt. (S. 16) Noch schlimmer wird es, wenn die Denkweisen und Beweggründe der Rüstungsprofiteure ans Tageslicht kommen und so die Täter bloßstellen und deren wahre „humane“ Absichten im „Interesse der Sicherung des Friedens“ offenbaren. Man schlägt förmlich die Hände über dem Kopf zusammen, wenn man beispielsweise solche Aussagen liest: Den Eurofighter betreffend misst der „Referent im Führungsstab der Luftwaffe dem mehrrollenfähigen Kampfflugzeug eine entscheidende Rolle in kommenden Kriegen zu“. (S. 234) Und an anderer Stelle: „Für zukünftige Luftkriege sei der neue Militärtransporter in den Spannungsgebieten des Nahen und Mittleren Ostens“ vorzüglich geeignet, so das Königshaus in Riad. (S. 245) Erschreckender geht es nicht. Da beschreibt ein Wolfgang Dürr vom EADS Astrium die Bedeutung „der Raumfahrt für den Einsatz im Krieg. (…) Da die Zeit nationaler Kriege weitgehend vorbei sei, müssten diese Systeme international kooperationsfähig sein. (…) Kriege sollen vom Weltraum aus geführt und gewonnen werden“. (S. 258/259)
Eines der wichtigsten Motive für Waffengeschäfte äußert der Mitbegründer der Angolanischen Antiimperialistischen Menschenrechtsinitiative Matondo, den Jürgen Grässlin so zitiert: Letztlich gehe es auch für Deutschland „um Ressourcen und Rohstoffe“, so Matondo. Deutschland wolle sich „den militärischen Einfluss und damit den Zugang zu den Rohstoffen (…) sichern, wie auch die Handelswege für Öl und Gase“.
Ein Aufschrei müsste umgehen. Mehren sich die Tendenzen zu gewaltsamen Konfliktlösungen? Wie ist der wahnsinnige Rüstungswettlauf, der zum Kriege drängt, zu stoppen? Das Fazit des Autors sieht so aus: „Diese Faktenlage verweist auf eine der unbequemsten Wahrheiten des 20. und 21. Jahrhunderts: Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union – des Friedensnobelpreisträgers 2012 – und der UNO (…) haben mit ihrer Lieferung von Kriegswaffen und Rüstungsgütern an Aggressoren und Kriegstreiber, Despoten und Diktatoren weltweit Kriege und Bürgerkriege ermöglicht.“ Deshalb stelle sich die Frage: Wie kann der Teufelskreislauf von Waffenproduktion, -export und –einsatz durchbrochen werden? (S. 575)
Das ist die Frage aller Fragen. Immerhin: Der Autor hat die Rüstungsindustrie im Fokus. Sie ist ein - wenn auch der aggressivste – Teil einer von Intrigen und Arroganz strotzenden Industriedynastie. Das wird man nicht vergessen dürfen. Illusionäre Vernunft-Anmahnungen greifen da wohl zu kurz. Auch nicht ein Austausch von Verantwortlichen und Schuldigen. Die Rüstungsgegner, die auf dem Marktplatz Friedrichshagen gegen die Wirtschaftsbosse demonstrierenden und tausende andere Bürger, die sich eine andere Wirtschaftsordnung vorstellen können, mögen ihre Kräfte bündeln, denn Einzelkämpfer haben keine Chance. Das ist das Fazit aus dieser Super-Kampfschrift gegen die Allmacht des Kapitals. Solange die Mord(s)brüder das Sagen haben, müssen sie im Visier bleiben. Das friedliche Duell mit den Waffen, die der Kultur zu Gebote stehen, möge nicht im Gegenfeuer der bürgerlichen Medien untergehen. Empört Euch! ruft der Autor. Was tun? fragt er. Vielleicht ein ordentliches Dacapo? Land und Staat in die Hände des Volkes? Ziviler Ungehorsam? Es geht nicht nur um den Aufschrei, sondern auch um`s Tun, so die Bürgerwehr im Südosten Berlins zum Beispiel gegen die Müggelflugroute. Denn: „Wer den Profit über Menschenleben stellt, macht sich moralisch und ethnisch mitschuldig am massenhaften Tod unschuldiger Menschen“. (S. 552) Das Schwarzbuch von Jürgen Grässlin ist ein Buch der Superlative, das zum Nachdenken anregen sollte. Ein Glücksfall für den Widerstand, denn der Duellierende benötigt Sekundanten.
Jürgen Grässlin: „Schwarzbuch Waffenhandel. Wie Deutschland am Krieg verdient“ Taschenbuch: 624 Seiten, Verlag: Heyne Verlag (13. Mai 2013), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3453602374, ISBN-13: 978-3453602373
Erstveröffentlichung der Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19007
Mehr über den Rezensenten: http://cleo-schreiber.blogspot.com