Ein Brief aus England - Brigitte Beil

  • x Autorin: Brigitte Beil
    x Originaltitel: Ein Brief aus England
    x Genre: Roman mit historischen Anteilen
    x Erscheinungsdatum: 09. April 2013
    x 288 Seiten
    x btb Verlag
    x ISBN: 3442745721
    x Erste Sätze: Da vorne ist er. Zwar kann ich ihn nicht sehen, weil er im Sarg liegt und ein schwarzer Wall von Trauergästen das offene Graf umgibt. Aber dennoch – er ist da. Zumindest das, was von ihm übrig blieb.


    Klappentext:


    Es sind die Geheimnisse früherer Generationen, die uns ein Leben lang prägen.


    Die Münchner Geschäftsfrau Sigrid findet eines Abends ihre Tochter völlig verstört vor. auf dem Küchentisch entdeckt sie einen geöffneten Brief. Ein Amtsschreiben, in dem steht, dass eine Mrs. Linda Hamstadt in Manchester verstorben sei. Linda – Sigrids Mutter, die kurz vor Kriegsende plötzlich verschwand. Von der Sigrid stets behauptet hatte, sie wäre längst tot. Der sorgsam gehütete Mythos, ihr Schutzwall gegen die unheilvollen Vergangenheiten, droht brüchig zu werden. Ist es an der Zeit, ihre Tochter in die Familiengeheimnisse einzuweihen?


    Rezension:


    “Ein Brief aus England” von Brigitte Beil ist von Schwermut gezeichnet. Dies beginnt beim wunderschön melancholischem Cover und setzt sich so durch das ganze Buch fort – Schwermut eingebunden in Melancholie.


    Brigitte Beil lässt die Protagonistin Sigrid selbst sprechen. Eine toughe Geschäftsfrau, die eine verletzte Kinderseele in sich trägt, Nähe meidet und diese Distanz auch an ihre mittlerweile 26-jährige Tochter Judith weitergab. Die beiden leben zusammen in einer großen Wohnung und trotzdem sehen sie sich oft über Tage nicht – ich denke das spricht für sich.


    Die Geschichte kommt folgendermaßen ins rollen: Sigrid kommt eines Tages von der Arbeit nach Hause, ein Brief, der berichtet, dass Sigrids Mutter gestorben ist, liegt auf dem Tisch und Judith ist weg. Nach und nach erfährt der Leser von dem Lügenkonstrukt, das Sigrid um ihre Eltern, angeblich beide längst tot, aufbaute…


    Ganz ehrlich? Ich konnte sie zum Teil gut verstehen – denn wer gibt schon gerne zu, dass der Vater, ein Arzt, im 3. Reich mit den ‘ganz Großen’ verkehrte und die Mutter einen als kleines Kind mit einem solchen Menschen ganz allein zurückließ.


    Im Gespräch mit Judith und dem Kindermädchen Karola, die seit Sigrids Kindheit immer irgendwie da war und nun zu vermitteln versucht, leben vergangene Zeiten wieder auf. Es gibt Passagen, die zu NS-Zeiten spielen, dann wieder welche, die Karola aus ihrer Sicht erzählt und langsam breitet sich die wahre Geschichte aus, während sich Mutter und Tochter zum ersten Mal im gemeinsamen Leben langsam einander annähern.


    Wer Spannung erwartet, ist bei “Ein Brief aus England” falsch – wohingegen Leser, die stille und schwermütige Romane mögen, sehr zufrieden sein dürften. Für mich war dieses Buch allerdings zu still, sodass es leider wahrscheinlich sehr schnell in Vergessenheit geraten wird.


    Fazit:


    Schwermütig, grau und still – ein trauriger Blick in die Geschichte einer Frau, die ein Kind des 3. Reichs war und politische Handlungen ausbaden durfte.


    Bewertung:


    6 von 10 Sternen

  • Großeltern hätte sie nicht mehr, hat die Münchnerin Sigrid ihrer Tochter Judith bisher immer erzählt. Ein Brief aus England informiert über den Tod von Sigrids Mutter und bringt ihr Lügengerüst überraschend zum Einsturz. Linda Hamstad war eine englische Spionin, die zur Tarnung eine Zweckehe mit einem prominenten Münchener Arzt einging. Das ungeplant zur Welt gekommene Kind wird von einem Kindermädchen betreut. Lindas Angst, sich während der Entbindung als Ausländerin zu verraten, gehört für mich zu den bewegendsten Szenen des Buches. Linda flüchtet, als die britische Armee Deutschland besetzt, und lässt Sigrid beim Vater zurück. Auch unter schwierigen Bedingungen sucht Karola, Sigrids Kindermädchen, stets den Kontakt zu ihrem Schützling, der ins Kinderheim und später in eine Reihe von Internaten abgeschoben wird. Die Ereignisse wiederholen sich in der Gegenwart, die ungeliebte Tochter kann ihr eigenes Kind nicht lieben. Karola springt als Kinderfrau ein, so dass auch Judith wie ihre Mutter Liebe nur bei einer Fremden findet. Das schwierige Verhältnis zwischen Mutter und Tochter eskaliert mit Eintreffen des Briefes, weil Judith sich von ihrer Mutter speziell zur nationalsozialistischen Vergangenheit ihres leiblichen Vaters belogen fühlt. Sigrid öffnet sich in einer schicksalhaften Situation ihrem Groll und ihren Ängsten, das genetische Erbe eines Nationalsozialisten an ihre Tochter weitergegeben zu haben. Die Konfrontation mit ihrer Vergangenheit führt ihr vor Augen, dass ihr in ihrer Kindheit nicht nur hartherzige Erzieher begegneten und dass es allein bei ihr liegt, ihre Mitmenschen in der Gegenwart nicht in einer Rolle als Dienstboten auf Distanz zu halten. Karola hat Sigrid ihr Leben lang unterstützt - und vermutlich wegen dieser Aufgabe auf eine eigene Familie verzichtet.


    Die Romanhandlung ist rein fiktiv und könnte circa in den 70ern spielen, wenn Sigrid während des Zweiten Weltkriegs zur Welt gekommen ist. Den Beginn des Romans fand ich zunächst schwer zugänglich; denn die Darstellung von Sigrids verständlicherweise traumatisierter Persönlichkeit ist mir etwas zu aufdringlich geraten. Dass einem verlassenen und hospitalisierten Kind Elternliebe und Vorbilder fehlen, wäre mit nur wenigen Andeutungen zu verdeutlichen gewesen. Je mehr ihrer ehemaligen Weggefährten Sigrid aus ihrer emotionalen Abstellkammer zurückholt, umso mehr Spannung entfaltet Brigitte Beils Handlung, bis Mutter und Tochter mit Unterstützung von außen schließlich ihre ungewöhnliche Familiengeschichte aufgedeckt haben. Abgesehen vom historischen Hintergrund hat Sigrid Beil einen lesenswerten, zeitlosen Roman über eine gestörte Eltern-Kind-Bindung und deren Folgen geschrieben.


    7 von 10 Punkten