Wilfried Witte - Tollkirschen und Quarantäne

  • „Tollkirschen und Quarantäne“, dieser Titel, dazu ein altes Foto eines Pärchens, beide angetan mit einer Art gekappter Schnabelmaske, auf dem Cover: das hat mich irgendwie neugierig gemacht.


    Allerdings hätte ich den Untertitel, „Die Geschichte der Spanischen Grippe“, ernster nehmen sollen, denn Witte legt doch bedeutend mehr Wert auf die historischen, denn auf die medizinischen Aspekte der Grippe, und zwar ziemlich konsequent anhand zeitgenössischer Quellen.
    Zunächst gibt der Autor einen Überblick über die Pandemie von 1918, also wann sie wo warum auftauchte und was sie dort dann anrichtete. Es folgt ein Rückschau auf ältere Grippeepidemien, die freilich selten als solche erkannt wurden, und erste Versuche, ihrem Verursacher auf den Grund zu gehen.
    Nach diesen recht allgemeinen Kapiteln schildert Witte dann einzelne medizinische Besonderheiten der Spanischen Grippe, die sie begleitende Lungenentzündung etwa oder die lethargische Enzephalitis, ebenso wie zeitgenössische Therapieversuche, aber auch, welche gesundheitspolitischen Folgen die spanische Grippe hatte.


    Das alles bleibt jedoch weitestgehend auf der Ebene der historischen Dokumentation, was für mich am Ende doch ziemlich unbefriedigend war. Er zitiert viele zeitgenössische Quellen; Krankenakten, Veröffentlichungen, politische Beschlüsse, doch leider kommt das alles ein wenig trocken daher. Wie die damalige Gesellschaft, wie das Gesundheitswesen funktionierte, welche Vorstellungen von dieser Krankheit in der Bevölkerung, aber auch in Wissenschaftskreisen kursierten, das alles muss der Leser sich selbst erarbeiten. Das mag für einen Historiker täglich Brot sein, ein Laie wie ich hätte gerne eine etwas anschaulichere, lebendigere Schilderung der Ereignisse gelesen. Immerhin handelt es sich bei diesem Buch nicht um einen Fachaufsatz, sondern um eine populärwissenschaftliche Publikation.


    Ein weiteres Manko: Witte klärt die medizinischen Rätsel um die Spanische Grippe, vor denen die Menschen damals standen, nicht wirklich auf. Was hat es denn nun, aus heutiger Sicht, mit dieser seltsamen Enzephalitis letharigca wirklich auf sich? Oder diese sensationelle, für das Buch namensgebende Tollkirsch-Therapie eines bulgarischen Bauern, die damals so viel Aufmerksamkeit erregte: hat die in der Rückschau irgendwelche Effekte oder war jener Bauer eher eine Art Rasputin, dem die Erkrankten in ihrer Verzweiflung auf den Leim gingen? Oder, und das ist zumindest für mich die spannendste Frage: wieso war ausgerechnet diese Epidemie so verheerend?
    Alle diese Fragen werden nicht beantwortet.


    Dieses Buch ist also eher was für geschichtlich Interessierte, Leser wie ich, die zusätzlich auch noch an den medizinisch-biologischen Besonderheiten der Spanischen Grippe interessiert sind, die zum Beispiel gern wissen wollen, warum diese Epidemie nicht, wie andere Epidemien, alte Menschen und Kinder eher verschonte, dafür aber gesunde mittelalterliche Menschen massenweise dahinraffte, werden in diesem Buch keine Antwort finden. Deshalb passt dieses Buch auch besser in die Rubrik Zeitgeschichte als in die Rubrik Medizin :rolleyes

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)