John F. Kennedy: Unter Deutschen - Reisetagebücher und Briefe 1937-1945 (Hrsg. Oliver Lubrich)

  • Gebundenes Buch mit Schutzumschlag
    256 Seiten, 23,6 cm x 17,4 cm
    Aufbau Verlag
    Erscheinungstermin: 15. Mai 2013




    Ein ambivalentes Stück Zeitgeschichte


    "Ich bin ein Berliner!" Wer sich eingehender mit John F. Kennedy beschäftigt, wird früher oder später auf diesen legendären Satz seiner Rede vom 26. Juni 1963 in Berlin stoßen. In einer Hochphase des Kalten Krieges stand Kennedys Berlin-Aufenthalt in engem Zusammenhang mit der von ihm angestrebten Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion. Durch diese unmissverständliche Solidaritätsbekundung mit den West-Berlinern wurde der 35.Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika damals zum Hoffnungsträger aller Westdeutschen. Weniger bis gar nicht bekannt ist jedoch, dass John F. Kennedy schon zuvor drei mehrtägige Reisen nach Deutschland unternommen hatte.


    Der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Oliver Lubrich ("Reisen ins Reich: 1933 bis 1945 - Ausländische Autoren berichten aus Deutschland") hat sich infolge einer breit angelegten Forschungsarbeit, die die Berichte ausländischer Autoren über Nazi-Deutschland dokumentiert, auch mit diesem Aspekt beschäftigt und schließlich das vorliegende Buch editiert. Es beinhaltet neben den erstmalig veröffentlichten Briefen und Tagebucheinträgen Kennedys aus den 30er Jahren ein Vorwort von Egon Bahr, der bis 1966 als Leiter des Presse- und Informationsamtes des Landes Berlin fungierte und Kennedy noch persönlich kannte, sowie eine ausführliche Einleitung des Herausgebers, eine Zeittafel zu Kennedys Biografie und ein Personenregister.


    Zum ersten Mal kam John F. Kennedy im Jahr 1937 nach Deutschland. Damals reiste der 20jährige Student zusammen mit seinem Schulfreund Lem Billings auf einer Art "Grand Tour" zwei Monate lang durch Europa und machte dabei auch in einigen deutschen Städten halt. 1939 nahm Kennedy sich ein Urlaubssemester und erkundete als Sekretär seines Vaters, der zu diesem Zeitpunkt US-Botschafter in London war, wiederum Europa. Außerdem bereitete er sich dort auf seine Abschlussarbeit in Politikwissenschaften vor. Direkt nach Kriegsende im Sommer 1945 war der zukünftige Präsident von Amerika dann als Berichterstatter im Gefolge des Marineministers James Forrestal unterwegs und konnte sich unter anderem das vollkommen zerstörte Berlin und das ebenfalls stark kriegsbeschädigte Bremen ansehen.


    Den drei Textteilen vorangestellt sind kurze Einführungen, die hilfreiche Informationen zum Kontext beinhalten und so zum besseren Verständnis beitragen. Zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotografien aus der damaligen Zeit zeigen den jungen John F. Kennedy bei verschiedensten Tätigkeiten und die von ihm bereisten europäischen Länder und Orte. Das Buch ist etwas breiter als sonst üblich bei Sachbüchern dieses Typus. Diese Besonderheit in der Gestaltung kommt nicht nur den Fotos zugute, die größer abgedruckt werden konnten, sondern auch dem Lesen der Texte, die dadurch einen Album-Charakter erhalten, was ihrer ursprünglichen Form entspricht.


    Verschiedene Dinge sind mir bei der Lektüre aufgefallen. Mir war natürlich von vornherein klar, dass der junge Kennedy noch weit entfernt vom charismatischen Staatsmann der späteren Jahre war. Dennoch hat mich überrascht, wie unbedarft und naiv John F. Kennedy teilweise über die verschiedenen Nationen und vor allem über die Politik Hitlers und Mussolinis urteilte. Mehrere Gespräche mit hochgestellten Persönlichkeiten der Nazis und Freunden seines Vaters (darunter der spätere Papst Pius XII.) reichten aus, um ihn halbwegs von der Notwendigkeit und Effizienz des Faschismus in Deutschland und Italien zu überzeugen. Manchmal schwingt sogar so etwas wie Respekt in seinen Ausführungen zur deutschen Mentalität mit. Auf der anderen Seite beunruhigte Kennedy das stumpfsinnige Befehlsempfängertum der Nationalsozialisten. Hier wie an anderen Stellen ist eine gewisse Ambivalenz in seinen Ansichten erkennbar.


    Die Tagebucheinträge Kennedys sind kurz gehalten und bestehen hauptsächlich aus Belanglosigkeiten, die neben privaten Angelegenheiten touristische Attraktionen und kulturelle Aktivitäten betreffen. In zwischendurch eingestreuten Überlegungen bezüglich der Vor- und Nachteile der so unterschiedlichen Staatsformen Faschismus, Kommunismus und Demokratie tritt aber auch das erwachende politische Interesse Kennedys zutage. Sein Blick auf die Europäer ist der eines privilegierten, jungen Mannes, der sich gern amüsiert und nicht in der Lage ist, Land und Leute anders als durch die amerikanische Brille zu beurteilen. Persönliche Kontakte ergaben sich kaum, dafür bewegte sich Kennedy auch zu sehr in seinem angestammten Umfeld, immer protegiert durch seinen noch übermächtigen Vater Joseph, der auch Kontakte zu nationalsozialistischen und antisemitischen Gesellschaftsgrößen pflegte.


    Im Reisebericht von 1945 zeichnet sich eindeutig ein Fortschritt in der politischen Einschätzungsfähigkeit John F. Kennedys ab, trotzdem liegt er mit seinen Prognosen und Beobachtungen öfter mal daneben. So geschehen meiner Meinung nach bei einem Vergleich der erlittenen Kriegsgräuel anhand der Bevölkerung von Berlin und Bremen. Bekanntermaßen erging es den Berlinern, insbesondere den Frauen, beim Einmarsch der Russen ausgesprochen schlecht. Das weiß Kennedy nur zu genau. Die begangenen Untaten der Briten und Amerikaner in Bremen kehrt er im Folgenden nicht gänzlich unter den Tisch, ist aber der Ansicht, wer keine Bekanntschaft mit den Russen gemacht habe, dem ginge es doch eigentlich ziemlich gut. Und das bei einer zu 59 Prozent zerstörten Stadt mit fast 4000 Toten durch die vorangegangenen Bombenangriffe und weiterer Not durch die sich anschließenden Plünderungen seitens der Briten. Dieser nachgerade zynische und recht nüchterne Unterton zeigt sich nicht nur hier. Der durchaus humorvolle junge Mann von 1935 ist angesichts der veränderten Situation durchgängig ernsthaft.


    Ich bin mir nicht sicher, inwieweit Kennedy bekannt bzw. bewusst war, welche grausamen, menschenverachtenden Verbrechen die Hitler-Diktatur sowohl an den Juden, als auch an anderen verfolgten Gruppen und Regimegegnern begangen hatte. Von John F. Kennedys Seite aus erfolgt dazu - abgesehen von ein oder zwei oberflächliche Bemerkungen am Rande - keinerlei Stellungnahme. Kennedy schien sich im Großen und Ganzen mehr für technische Errungenschaften zu interessieren als für menschliche Schicksale. Seine detaillierten Angaben unter anderem zur Größe und Leistungsfähigkeit von Kriegsschiffen sprechen jedenfalls dafür.


    Trotz oder gerade wegen der unerwarteten Einblicke in die Gedankenwelt des jungen John F. Kennedy halte ich das Buch für ein erhellendes und auf seine Weise sehr informatives Stück Zeitgeschichte. Nicht immer formulierte Kennedy seine Gedanken eindeutig, so dass ein Spielraum für eigene Interpretationen bleibt. Man sollte sich bei der Lektüre immer darüber im Klaren sein, dass Kennedy sich auf allen drei Reisen nur kurz in Deutschland aufhielt. Eine umfassende Analyse der vorherrschenden Lebensverhältnisse war ihm also kaum möglich und er stützte sich in seinem Urteil auf die sehr subjektiven Informationen seiner Gesprächspartner. Im Nachhinein sah Kennedy sicherlich vieles differenzierter. Das hoffe ich zumindest. Jedenfalls machte er als politisches Oberhaupt der amerikanischen Nation einen gänzlich anderen Eindruck auf mich. Es stellt sich jedoch die Frage, wie viel hierbei Schein und wie viel Sein war. Wir werden es wohl nie erfahren.


    8 Eulenpunkte!


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