Europe Central - William T. Vollmann

  • Zum Buch sagt der Verlag:
    Europe Central ist ein historischer Roman mit Abweichungen, ein Krieg und Frieden für das 21. Jahrhundert, ein postmodernes Epos aus 37 teils umfangreichen Geschichten, die, paarweise zusammengespannt, den zweiten Weltkrieg auf sowjetischer und deutscher Seite heraufbeschwören, indem sie das Leben von Künstlern (wie Käthe Kollwitz und Dmitiri Schostakowitsch) und Militärs (wie Wlassow und Paulus, dem Verlierer von Stalingrad) und vielen anderen erzählen. Europe Central, eine Bezeichnung für Mitteleuropa, ist in Vollmanns Epos vor allem eine riesige, unsichtbar bleibende Schaltstelle und Telefonzentrale, ein Kommunikationskrake, dessen schwarze Bakelittentakeln sich jeden jederzeit und überall »greifen«.


    Zum Autor habe ich gefunden:
    William T. (= Tanner) Vollmann wurde 1959 in Kalifornien geboren. Er ist Journalist, Romanautor, Essayist, arbeitete aber auch als Computerprogrammierer. Das Thema Gewalt scheint ihn nicht loszulassen; nicht schreibt nicht nur über diese Thematik, ihre Ursachen, ihre Auswirkungen, sondern reist auch an die Orte, an denen Gewalt ausgeübt wird wie Afghanistan, Kambodscha, Somalia.


    Übersetzt wurde der Roman von Robin Detje.



    Meine Meinung:
    Insgesamt 1026 Seiten, davon 934 Seiten Romantext mit einigen Fußnoten.
    Drei Seiten Quellen, eine Seite Anmerkung des Übersetzers, Textanmerkungen von Seiten 941 bis 1020, zweieinhalb Seiten Text „Eine erfundene Dreiecksbeziehung“, zweieinhalb Seiten Dank und zwei Seiten „Inhalt“.
    Ein Lesebändchen.
    Kein Schutzumschlag.
    Schwarzer Einband, Aufdruck in Rot und Weiß.


    Nein, er gefällt mir nicht. Der Einband, meine ich. Aber er passt hervorragend zu Thema und Zeit. Schwarz, Weiß, Rot, sie werden nicht nur für die Fahne des damaligen Deutschen Reiches stehen. Das Schwarz dominiert, allzu dunkel die Zeit damals, in beiden Ländern, in denen die Handlung des Romans stattfindet, Deutschland und Sowjetunion. Das Weiß sticht hervor, Kälte beherrschte die Zeit, in der jeder für schuldig erklärt werden konnte, die Zeit Hitlers und Stalins. Das Rot drängt sich auf, wie blutige Spuren wirkt es, Blut der Opfer und Täter von Gewalt im Namen eines Landes, eines Staates, eines Diktators.


    Von 1918 bis 1975 reicht die Zeitspanne, die der Roman behandelt. Der Schwerpunkt liegt auf den Jahren der Diktaturen Hitlers und Stalins. Das Personal des Romans ist groß, vor allen Dingen die Namen haben einiges an Gewicht: unter anderem Käthe Kollwitz, die Militärs Wlassow, von Manstein und Paulus, Hilde Benjamin, der Regisseur Karmen, Anna Achmatowa, Kurt Gerstein, Van Cliburn und immer wieder Dmitiri Schostakowitsch. Daneben die Namenlosen, die wohl für die stehen, die mitmachten, die überzeugt waren von der Richtigkeit ihres Tuns, die schwiegen, die sich anpassten, weil sie es mussten oder glaubten, es zu müssen. Von ihnen wird erzählt, von ihrem Leben, manchmal von einem Moment ihres Lebens, auch von den Kontrapunkten, von den Brüchen. Musik spielt eine Rolle, besonders und fast ausschließlich die von Schostakowitsch; die Interpretationen nicht nur der 7. und 8. Symphonie spielen eine wesentliche Rolle.


    Nein, ich möchte nicht behaupten, dass ich das Buch gerne gelesen habe. Dazu ist die Thematik nicht unbedingt angetan.


    Und doch: Vollmanns Roman hat mich gefesselt, die Art seiner Darstellung, die Art seines Erzählens hat mich nicht losgelassen. Kein Erzähler, um Objektivität bemüht, sondern mehrere Erzählstimmen, gefangen in ihrer politischen Situation, beherrscht von ihrer Subjektivität, mal mitfühlend, mal eifersüchtig, mal ihren Kunstverstand betonend, mal vulgär. Die Erzähler sind ganz bei ihrem „Objekt“, besonders bei den Schostakowitsch-Kapiteln hatte ich den Eindruck, der Erzähler fühle sich fast allmächtig, er bestimmt die Regeln, bestimmt, was richtig und was falsch ist, nicht nur in Bezug auf das Tun und Lassen „seines“ Protagonisten, sondern auch, was dessen Musik angeht.


    Es waren die Erzählstimmen, die mich faszinierten, die aus einer Art „Pflichtübung“ eine fesselnde Lektüre machten. Wie viele es im Einzelnen sind, habe ich irgendwann nicht mehr hinterfragt. Vielleicht, so aber auch eine Überlegung, ist es aber auch nur eine Stimme, angepasst an das Bedürfnis des Tages, an die politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, angepasst an den Überlebenswillen in dunklen, allzu dunklen Zeiten. Eine Stimme, die weiß, wie sie in Nationalsozialismus und in Stalinismus, im Sozialismus der DDR und auch anderenorts zu klingen hat. Die vielleicht auch weiß, wie sie ihre Interessen mit den Interessen der Macht in Einklang zu bringen hat.


    Im Großen und Ganzen liest sich das Buch recht flüssig, trotzdem hatte ich hin und wieder Mühe zu verstehen, um was es eigentlich geht, über was da eigentlich berichtet wird. Das erste und das letzte Kapitel stehen dafür exemplarisch; im ersten ist „Hauptdarsteller“ das „plumpe schwarze Telefon“ (Seite 13), im letzten, „Die weißen Nächte von Leningrad“ betitelt, Farben, Rot beispielsweise (Seite 931) oder die Abstufungen von Grau (Seite 932). Hin und wieder haben mich Vergleiche gestört, die mir zum Teil befremdlich vorkamen: Da wird der Kummer, der aus Augen „herausplatzt“ (Seite 80) mit „Leichen, die in die Luft fliegen, wenn eine Granate in ein Massengrab einschlägt“ verglichen, Karajans Dirigat der 10. Sinfonie von Schostakowitsch muss herhalten zum Vergleich mit zunehmend „reifer und erfahrener“ werdender körperlicher Liebe (Seite 95), oder gar die „Schönheit im Opus 110“ von Schostakowitsch, die „zerstückelt“ ist, „der Tod quillt aus ihr heraus wie Gedärm ...“ (Seite 869 – den Rest des Satzes erspare ich mir). Verstörende Bilder, die mir ein Heimischwerden im Roman nicht ermöglichten, die mich immer wieder aufschreckten. Zunehmend ermüdet hat mich, wenn Schostakowitschs Art zu sprechen (ob es wirklich so war?), immer und immer wieder zu lesen ist, das Stottern, diese oftmals so sehr zerhackten Sätze, abgebrochen auch, ein wenig in der Luft hängen bleibend. Dagegen stehen Szenen, Kapitel, die ich so schnell nicht vergessen werde, das Lachen, zu laut und vielleicht auch verzweifelt, des Kurt Gerstein, wenn er in den Geruch kam, kein „vollwertiger“ SS-Mann zu sein, Hilde Benjamin, die vielleicht – auch - ihre Angst, ihre Verletzungen in ihrer Gnadenlosigkeit, ihrer Kompromisslosigkeit versteckte, oder das Kapitel „Warum wir über Freya nicht mehr reden“, in dem nicht nur über die Vergewaltigungen der russischen Soldaten berichtet, sondern auch die ganze Scheinheiligkeit und Verlogenheit des - damaligen - gutbürgerlichen Denkens vorgeführt wird.


    Von der Kritik wird der Roman größtenteils gefeiert. Ob er „groß“ ist, ob man in 50 oder 100 Jahren noch darüber sprechen wird, weiß ich nicht. Was ich weiß: Er hat mich unendlich traurig gemacht, weil er mit großer Wucht und immenser Eindringlichkeit zeigt, wie Menschen in Zeiten der Diktatur - und vielleicht nicht nur dort – mittun, zu Mitläufern, zu Mittätern, zu Opfern werden, zu welcher Erbarmungslosigkeit man fähig sein kann, wie auf der anderen Seite erbarmungswürdig manches Verhalten anmutet, wie man sich fast schon prostituieren muss, um Leben und Arbeit „in Sicherheit“ zu bringen. Weil er zeigt, wie das Auf und Ab des menschlichen Lebens besonders in totalitären Zeiten vom Grad der Anpassungsfähigkeit – ganz abgesehen von eigenen Interessen und Vorstellungen von politischer und gesellschaftlicher Relevanz – abhängt und es trotzdem so etwas wie Sicherheit, Kontinuität nicht gibt, es sei denn die der Gewalt, die des Terrors.


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  • Vielen Dank für die interessante Rezension, Lipperin!


    In der aktuellen Sendung des Literaturclubs wurde dem Roman Längen vorgeworfen, insbesondere in den Schostakovich-Abschnitten.
    Ich habe aber den Verdacht, dass die Kritiker (Elke Heidenreich, Stefan Zweifel, Hildegard Keller und Rüdiger Safranski) bei dem langen Buch vielleicht nur etwas faul waren ;-)


    Wie hast Du das empfunden? Gab es wirklich Längen oder konnte man den umfangreichen Text flüssig lesen?

  • Die Sendung hab ich mir jetzt mal angeschaut. Hm, was soll man dazu sagen? Etwas irritierend, das Ganze. Deutlich war ja Rüdiger Safranski, als er vom "Reichtum" eines Buches sprach, wenn es das nicht hätte, läse man (er) eben nur ... hier und dort (mein Wort).


    Für mich liest sich der Roman sehr flüssig, Längen hat er - da gebe ich den vier Diskutanten recht -, wenn überhaupt, in den Schostakowitsch-Passagen. Allerdings fand ich nicht das, was Stefan Zweifel sagte, "lang" (die Geschichte mit der Geliebten) resp. ermüdend, sondern das ständige Zitieren der Sprechweise des Komponisten, wobei ich ja voraussetzen muss, er habe wirklich so gesprochen.


    Als Stefan Zweifel anfangs sagte, es gehe um Wagner und Schostakowitsch, dachte ich zunächst, es wäre ein anderes Buch an der Reihe. Um Letzteren geht es intensiv, aber um Ersteren? Na gut, es werden die "Nibelungen" angesprochen, zitiert wird aus der "Edda", aus Gottfried von Straßburgs "Tristan und Isolde", aus Wolfram von Eschenbachs "Parzival". Von Wagner habe ich da nicht so viel gesehen. Eigentlich nur die gedankliche Querverbindung, dass dieser sich der Stoffe angenommen hat und der Lieblingskomponist Hitlers war.


    Interessant, dass fast alle Kritiker immer wieder betonen, der Roman habe über 1000 Seiten - was er nicht hat, aber das Buch verfügt über diese Seitenanzahl. In der Sendung wies Rüdiger Safranski ja auf die Anmerkungen hin - in denen, so möchte ich hinzufügen, nicht nur der Autor darauf hinweist, was erfunden und was historisch belegt ist, sondern auch eine Erzählstimme sich zu Wort meldet.