Gebundenes Buch mit Schutzumschlag
541 Seiten, 22 Schwarz-Weiß- und Farbfotografien
Erscheinungstermin: August 2011
Originaltitel: The Fry Chronicles
Einfach umwerfend
Meine erste prägende Begegnung mit Stephen Fry hatte ich Ende der 90er Jahre vor dem heimischen Bildschirm. Damals spielte der allein von seiner äußeren Erscheinung her sehr beeindruckende Fry die Rolle des Oscar Wilde in dem gleichnamigen Film. Doch nicht nur die Physis des Engländers, sondern auch seine typisch britische und ausnehmend elegante Schauspielkunst ließen mich staunen. Zwar war mir Stephen Fry zuvor schon in der bekannten Serie "Blackadder" von Rowan Atkinson ("Mr Bean") aufgefallen, doch hatte ich mich dort mehr auf die Handlung und andere Dinge und Personen konzentriert. Später sah ich Fry noch in den Filmen "Peter's Friends" und "Gosford Park", bis ich vor einiger Zeit auf die in den 20er und 30er Jahren spielende Comedy-Serie "Herr und Meister", die auf der literarischen Vorlage von P.G. Wodehouse basiert, aufmerksam wurde. Darin verkörpert Stephen Fry den loyalen, ungemein distinguierten und klugen Butler Jeeves, der seinem leicht naiven, tollpatschigen, aber enorm von sich selbst überzeugten Arbeitgeber Bertram Wooster alias Hugh Laurie ("Dr. House", "Sinn und Sinnlichkeit", "Der Mann in der eisernen Maske") aus so mancher gesellschaftlicher und zwischenmenschlicher Katastrophe heraushelfen muss. Seitdem habe ich ein großes und bislang unerschütterliches Faible für diesen durch und durch sympathischen Mimen.
Abgesehen von den bereits genannten Filmen war Stephen Fry im Laufe der vergangenen 30 Jahre noch in vielen weiteren Filmen, Theaterstücken und Serien zu sehen. Daneben schrieb der 1957 in Hampstead bei London geborene Fry zahlreiche Drehbücher, Stücke und Gedichte, führte Regie, verfasste einige erfolgreiche Romane, war als Hörbuchsprecher (z.B. "Harry Potter") tätig und drehte verschiedene Dokumentarfilme. Seit fast drei Jahren ist er außerdem Verwaltungsratsmitglied des Norwich City Football Club ("The Canaries"). Weiterhin moderierte er schon mehrfach die British Academy Film Awards.
Zum Glück für Leser wie mich hat Stephen Fry es neben all diesen Beschäftigungen auch noch fertiggebracht, seine Memoiren zu schreiben. Diese liegen mittlerweile in zwei Teilen vor. In "Columbus war ein Engländer" berichtet der Schauspieler von seiner Kindheit und Jugend. Vom Aufwachsen in den 60er und 70er Jahren in der englischen Provinz, seinen guten und schlechten Erfahrungen mit dem Internatsleben, Mitschülern und Freunden und vor allem von seinen Schwierigkeiten, sich selbst in einem positiven Licht zu sehen. Daraus erwächst ein fataler Hang zum Lügen, Stehlen und Betrügen, der Stephen Fry als jungen Mann sogar kurzzeitig ins Gefängnis bringt.
Im Nachfolger "Ich bin so fry" hat Fry seine jugendliche Sturm- und Drangzeit gerade hinter sich und ist durch ein Stipendium an das Queens' College der Universität von Cambridge gelangt. Dort studiert Stephen Fry Englisch und schließt sich nebenbei verschiedenen Theatergruppen an, mit denen er regelmäßig auftritt und auch eigene kleine Stücke zur Aufführung bringt. Im Zuge dieser sehr zeitintensiven Betätigung bahnen sich neue Freundschaften mit anderen jungen Studenten an, darunter Emma Thompson ("Sinn und Sinnlichkeit", "Wiedersehen in Howards End", "Was vom Tage übrigblieb", "Tatsächlich … Liebe", etc.) und besagter Hugh Laurie. In Cambridge werden die Weichen für das spätere berufliche Schaffen von Stephen Fry gestellt. Nach Abschluss des Studiums zieht Fry nach London und macht erste Schritte Richtung Fernsehen und kommerzielle Comedy. Man merkt an dieser Stelle ganz klar, dass im richtigen Berufsleben dann schon ein härterer Wind weht, als es im elitären Mikrokosmos Cambridge der Fall war. Einige Schwarz-Weiß- und Farbfotografien geben einen kleinen Einblick in Stephen Frys damaliges privates Umfeld. Das Buch endet mehrere Jahre und viele turbulente Ereignisse später mit einer gänzlich unerwarteten Pointe und der Aussicht auf einen dritten Teil der Autobiographie.
Angesichts einer mittlerweile unüberschaubaren Masse an Autobiographien von Möchtegern-Stars, C-Prominenten und den peinlichen Nabelschaubetrachtungen von Hinz und Kunz empfand ich es fast als Erlösung, das Buch von einem so geistreichen und feinsinnigen Menschen wie Stephen Fry lesen zu dürfen. Er beschreibt sein Leben und seine Erfahrungen in einem überaus humorvollen und lockeren Plauderton, geht zeitgleich aber absolut schonungslos mit sich und seinen vermeintlichen sowie real existierenden Schwächen und Fehlern ins Gericht und prangert nebenbei viele Missstände im englischen Bildungs- und Sozialwesen und der Politik an. Die angesprochenen Themen sind vielfältig und reichen von der Analyse der Londoner Schwulenszene in den 80er Jahren über die wechselhaften Entwicklungen auf dem Comedy-Sektor, die schwere Rezession während der Thatcher-Ära und genaue Details über das College-Leben bis hin zur ersten längeren Beziehung und besonderen Vorlieben in den Bereichen Musik und Kleidungswahl. Liebhaber eines genüsslichen, anspruchsvollen und wortreichen Umgangs mit Sprache dürften beim Lesen ganz auf ihre Kosten kommen.
Stephen Fry ist bekennender Homosexueller und spricht ganz offen über seine diesbezüglichen Gefühle. Pikante Einzelheiten werden dabei ausgespart. Daneben erzählt Fry regelrecht anrührend von seiner bereits jahrzehntelang andauernden rein platonischen Freundschaft zu Hugh Laurie. Im Buch tauchen so viele berühmte und weniger berühmte Persönlichkeiten des englischen Kulturbetriebs auf, dass man sie als deutscher Leser gar nicht alle kennen kann. Namen wie Harold Pinter, William Somerset Maugham, Oscar Wilde, Monty Python mit John Cleese und Eric Idle, James Mason, Lord Byron und Robbie Coltrane dürften dem England-Interessierten jedoch geläufig sein. Zu einigen Personen gibt es am Schluss eine kurze Erläuterung. Für das bessere Verständnis des Textes ist ein umfangreiches Vorwissen vielleicht ganz nützlich, aber nicht ausschlaggebend. Manchmal schweift Stephen Fry ein wenig ab und beschreibt mit Wonne Nebensächliches, hält den Leser durch seine unterhaltsame Art auch in solchen Momenten bei der Stange. Und wer wollte schließlich nicht schon immer mal wissen, wie eine Pfeife richtig gestopft wird?
Wenn man die Memoiren eines Menschen liest, von dem man sich ein gewisses Bild gemacht hat, besteht grundsätzlich die Gefahr, die eigene subjektive Einschätzung beim Lesen vollständig und radikal revidieren zu müssen. Deshalb bin ich sehr dankbar, dass ich den Autor nach dem Lesen des Buches weiterhin beziehungsweise noch mehr als einen absolut loyalen, hochintelligenten, sehr warmherzigen und ehrlichen Menschen sehen kann, der wie wir alle Schwächen hat, die er bestmöglich zu verbergen sucht. "Ich bin so fry" kann problemlos ohne Kenntnis des ersten Teils gelesen werden und bietet erstaunliche Einblicke in die Psyche eines grandiosen und ziemlich liebenswert wirkenden Engländers, der einer der letzten seines Schlags zu sein scheint. Nach dem angekündigten Folgeband werde ich frühzeitig Ausschau halten!
Volle Eulenpunktzahl (am liebsten mehr)!
Edit: Noch drei blöde Flüchtigkeitsfehler beseitigt!
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