Kafka- Vor dem Gesetz

  • Liebe Eulen.


    Ich mag die Parabel "Vor dem Gesetz" von Kafka aus "Der Prozess" und möchte sie hier gerne einmal einstellt für alle, die sie nicht kennen.



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    Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen.


    «Es ist möglich», sagt der Türhüter, «jetzt aber nicht.»


    Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt:

    «Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kam nicht einmal ich mehr ertragen.»


    Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen.


    Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei:


    «Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.»


    Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergißt die andern Türhüter, und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert.


    «Was willst du denn jetzt noch wissen?» fragt der Türhüter, «du bist unersättlich. »


    «Alle streben doch nach dem Gesetz», sagt der Mann, «wieso kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?»


    Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an:


    «Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.»
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    Ich würde gerne mal hören, wie ihr diese Parabel versteht und interpretiert, es gibt so viele Sichtweisen dazu. Also wer mag: Immer los! Ich werd eine meiner Interpretationen auch gleich mal posten.

  • Also. Ich sehe sie mit der Standardinterpretationsvariante Biographie bezogen in einer gekürzten Form etwa so:


    Der Mann vom Lande ist Kafka selbst. Er sieht sich selbst als einfach und nichts wirklich besonderes.
    Der Türhüter ist sein Vater, zu dem er zeitlebens versucht hat, ein gutes Verhältnis aufzubauen. Dieser ist übermächtig und steht ihm im Weg, sein Ziel, glücklich zu werden, zu erreichen.
    Das Gesetz ist zum Einen das für Kafka anstrebenswerte Ziel, zu der Gesellschaft dazuzugehören, zu Anderen ein glückliches und zufriedenes Leben.
    Die Flöhe im Kragen stehen für seine Mutter, die zwischen den Fronten steht, aber trotzdem mehr zu ihrem Mann hält.



    Der Versuch, einzutreten, ist der Versuch, ein gutes Verhältnis mit seinem Vater herzustellen, die Bestechungsversuche sind die Momente, in denen Kafka das tut, was sein Vater von ihm erwartet. Da diese aber halbherzig sind, wird deutlich, dass Kafka zwar einige der Sachen, die sein Vater wollte, gemacht hat, aber er hat bei weitem nicht alles gemacht, was ihm möglich gewesen wäre zu machen (= sich komplett nach dem Wunsch seines Vaters zu richten).
    Dass sich die Tür letztlich schließt, ohne das Kafka Eintritt bekommen hat, zeigt, dass er unrein mit sich, aber auch mit seinem Vater gestorben ist.

  • Weil kein anderer Kafkas Weg gehen konnte außer er selber. Allerdings deckte sich die Vorstellung des Vaters von den Voraussetzungen, einzutreten, nicht mit denen von Kafka selbst. Und darum hat er ihn nicht reingelassen, er war zeitlebens der Mächtigere, weil Kafka immer unter ihm gelitten hat, ob er nun nach dessen Willen gehandelt hat oder nach seinem eigenen.