Stadt der Engel – Christa Wolf

  • oder The Overcoat of Dr,Freud


    Suhrkamp, 2010
    413 Seiten


    Kurzbeschreibung:
    Los Angeles, die Stadt der Engel: Dort verbringt die Erzählerin Anfang der Neunziger einige Monate auf Einladung des Getty Center. Ihr Forschungsobjekt sind die Briefe einer gewissen L. aus dem Nachlass einer verstorbenen Freundin, deren Schicksal sie nachspürt. Eine Frau, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die USA emigrierte. Sie beobachtet die amerikanische Lebensweise, taucht ein in die Vergangenheit des New Weimar unter Palmen, wie Los Angeles als deutschsprachige Emigrantenkolonie während des Zweiten Weltkriegs genannt wurde. Ein ums andere Mal wird sie über die Lage im wiedervereinigten Deutschland verhört: Wird der Virus der Menschenverachtung in den neuen, ungewissen deutschen Zuständen wiederbelebt? In der täglichen Lektüre, in Gesprächen, in Träumen stellt sich die Erzählerin einem Ereignis aus ihrer Vergangenheit, das sie in eine existentielle Krise bringt und zu einem Ringen um die Wahrhaftigkeit der eigenen Erinnerung führt.


    Über die Autorin / Sprecherin:
    Christa Wolf, 1929 in Landsberg an der Warthe geboren, machte 1949 Abitur in Bad Frankenhausen (Kyffhäuser), Beitritt zur SED. Von 1949 bis 1953 studierte sie Germanistik in Jena und Leipzig, Diplomarbeit bei Hans Mayer. Von 1953 bis 1959 arbeitete sie in Berlin als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Deutschen Schriftstellerverband, Lektorin, Redakteurin der Zeitschrift "neue deutsche literatur" und als Cheflektorin des Verlags Neues Leben. Von 1959 bis 1962 Lektorin des Mitteldeutschen Verlags in Halle. Seitdem arbeitete sie als freie Schriftstellerin. Christa Wolf zählt zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart; ihr umfangreiches erzählerisches Werk wurde in alle Weltsprachen übersetzt und mit zahlreichen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Georg-Büchner-Preis, dem Thomas Mann Preis und dem Uwe-Johnson-Preis. Christa Wolf starb bis 2011 in Berlin.


    Mein Eindruck:
    Stadt der Engel ist das letzte große Prosawerk von Christa Wolf, das sie zu Lebzeiten veröffentlicht hat. Ein umfangreiches, komplexes Werk voller Erinnerungen und Reflexionen.
    Handlungsort ist Los Angeles, wo Christa Wolf Anfang der neunziger Jahre einige Zeit verbrachte. Auch ihn diesem Werk ist autobiographisches Erzählen vorherrschend.
    Aber es gibt auch ausgezeichnete Beobachtungen der amerikanischen Gesellschaft. Es ist auch viel los in den USA. Präsident Bush geht, Hillary und Bill Clinton kommen. Einige Monate später wird Bagdad bombardiert. Christa Wolf interessiert sich aber auch für das alltägliche Leben in Kalifornien, dass sie am Strand, bei Busfahrten oder bei Treffen mit Freunden beobachtet und diskutiert. Häufiger Ansprechpartner ist ihr guter Freund Peter Gutman oder auch der Arzt Dr. Kim, den sie wegen Hüftproblemen konsultiert. Später besucht sie auch noch andere Orte wir Las Vegas oder das Death Valley.


    Für Christa Wolf ist der Besuch in Kalifornien auch ein Rückzug aus den Schwierigkeiten in Deutschland nach der Wende und dem Skandal mit ihrer IM-Akte.
    Daher denkt sie immer wieder über entscheidende Geschehnisse in der DDR nach, ihre Erinnerungen gehen sogar weiter zurück bis in die Zeit ihrer Kindheit in der NS-Zeit.
    Aber auch über die unmittelbare Zeit nach der Wende denkt sie nach. Wie konnte es sein, dass sie die Vorgänge 1959-1962 vergessen hatte, als sie Berichte anfertigte, die nach Ende der DDR als IM-Tätigkeiten für die Staatssicherheit gewertet wurden. Begrifflichkeiten wie Täterakte und Opferakte wurden gebildet. Gleichzeitig kam es zu deutschen Übergriffen mit ausländerfeindlichen Hintergrund und Ausschreitungen auf Asylbewerber. Eine Tatsache, auf die sie in den USA immer wieder angesprochen wird. What about german? Ein junges amerikanisches Paar, die nach Deutschland übersiedeln wollten, fragen sie sogar, ob man Kinder in so ein barbarisches Land bringen darf.


    In den USA macht sie sich Gedanken über deutsche Emigranten während der Nazizeit wie Brecht und insbesondere Thomas Mann, dessen Tagebücher sie immer wieder liest.
    Das fand ich sehr interessant zu lesen, doch für einige Literaturkritiker war das Anlass für Kritik. Christa Wolf würde sich dadurch in die Nähe der Emigranten rücken, das wäre unangemessen. Das habe ich, ehrlich gesagt, so nicht gelesen. Die Kritiker haben anscheinend mit einem Werk gerechnet, das reines Bekenntnis, ein Schuldeingestehen ist. Aber das zu erwarten, heißt auch, den literarischen Wert des Buches zu übersehen.
    Die Themenvielfalt ist groß, das Buch hat einen Ton, der für mich funktioniert.
    Für mich war das Buch das Monatshighlight!

  • Tolle Buchvorstellung. Herzlichen Dank dafür. Das Buch wird dann auch gleich auf meiner Wunschliste gelistet.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud" startet furios, nach wenigen Seiten schon war ich mir sicher, mein Monatshighlight in Händen zu halten. Ganz so euphorisch war ich bei der weiteren Lektüre dann aber doch nicht mehr, obgleich dieses ungewöhnliche, komplexe und Konzentration fordernde Buch sicher lesenswert ist.
    Besonders interessant waren für mich die Betrachtungen der Erzählerin über die amerikanischen Zustände, über die verschiedenen Nuancen von Begrifflichkeiten in Englisch und Deutsch und die berühmten Emigranten.
    Dennoch, gegen Ende hin war ich schon froh, Licht am Ende des Tunnels zu sehen, auf Dauer sind diese inneren Monologe, Reflexionen und Gedankengänge auch ein wenig anstrengend, vor allem, wenn man ansonsten fast nur Romane liest.
    Der Schreibstil hingegen ist sehr ansprechend, Christa Wolf versteht ihr Handwerk ganz ausgezeichnet und läßt den Text dahinfließen.