übers. von Julius Sandmeier
Ein Fremder 1936 in Deutschland erschienen, ist ein Band mit vier Erzählungen, die bis in die 1950er Jahre zum Standardrepertoire in Anthologien gehörten, dann aber verschwanden und heute nahezu vergessen sind.
Ein Fremder (En fremmed, 1908), die erste und titelgebende Geschichte, ist mit ihren fast 150 Seiten schon ein Kurzroman. Undset widmet sich hier einem Thema, das sie immer wieder beschäftigt, dem Sinn des Lebens für die junge Frauen ihrer Zeit, die zwischen Berufstätigkeit und den Ansprüchen der bürgerlichen Gesellschaft eine Rolle der Ehefrau und Mutter zu finden, hin - und hergerissen und leidend glücklich werden. In Ein Fremder erleben wir das am Beispiel von Edele Hammer, einer jungen Frau von ca. Mitte zwanzig. Edele ist einfache Sekretärin, ungebunden. Sie hält sich eher fern von anderen, das Leben der jungen Leute um sie herum, zieht sie nicht an. Sie ist ernsthaft und selbstgenügsam, sie hütet ihre ein wenig verschwommen Vorstellungen von einem höheren, weniger oberflächlichen Zweck des Daseins. Der einzige Freund, den sie hat, ist der um zwanzig Jahre ältere Per Dryßen, ein Architekt. Er nimmt Edele ernst, betrachtet sie als gleichwertig, sie diskutieren viel, auch über seine Arbeit.
Dryßen allerdings ist eben dabei, zu heiraten, seine alte Jugendliebe. Die Heirat läßt Edele vereinsamt zurück. Sie bemüht sich, Anschluß an Gleichaltrige zu finden. Den bekommt sie auch, unter den neuen Bekannten ist ein junger Mann, in den sie sich, naiv und weltfremd, Hals über Kopf verliebt. Leider ist er alles andere als ein geeigneter man für sie.
Vor diesem Hintergrund geht Undset Schritt für Schritt den Probleme nach, den die Rollenzwänge den jungen Frauen auferlegen. Für das Erscheinungsjahr 1908 wird erstaunlich offen über Sex diskutiert. Moralische Probleme werden geradezu schmerzhaft detailliert betrachtet, es geht um Respekt für anderem vor allem aber vor sich selbst. Verschiedene Formen von Liebe, Verliebtheit, Schwärmerei, Begierde, entsagende und erfüllte Liebe sind wichtige Themen. Das Gefangensein der Frauen in dem gesellschaftlich auferlegten Korsett wirkt heute befremdlich, die moralischen Fragestellungen und nicht wenige Erkenntnisse machen aber unverändert betroffen, etwa, wenn Edele merkt, daß sie ihren jungen Mann eigentlich leiden kann, obwohl sie ihn liebt. Edeles Weg ist ein Leidensweg, ihr Leid auch selbstverschuldet, Undsets Weise, die Lösung des Problems in die Wege zu leiten, erschreckend gewalttätig.
Nicht leicht zu lesen, auf den ersten Blick oft unzugänglich, aber insgesamt ein spannender Einblick in das Denken junger Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Simonsen, die zweite Geschichte, hat für einmal einen Mann als Hauptperson. Anton Simonsen ist ein älterer Arbeiter, der gerade wieder einmal seine Stellung verloren hat. Undset gibt hier eine Analyse eines schwachen Menschen, eines eher kindlichen Charakters, freundlich, aber den Umständen oft nicht gewachsen. Sezierend, scharfsichtig, aber immer mitfühlend, eine insgesamt schmerzliche kleinere Erzählung, über die man lange nachdenkt.
Das glückliche Alter (Den lykkelige alder) erschien zusammen mit ‚Ein Fremder’ 1908. Dieses glückliche Alter ist, so eine der auftretenden Figuren, eben die Zeit zwischen ca. achtzehn Jahren und der als selbstverständlich angesehene Eheschließung samt Kinderzucht, in der sich von da an das wahre Leben der Frau erschöpft. ‚Glücklich’ ist die Zeit davor, weil, vermeintlich, alles möglich ist.
Das ‚alles’ ist aber nur ein Traum und hat mit der Realität wenig zu tun. Die junge Frau, die sich hier aufreibt, ist Uni Hirsch, die spätere Frau Hjelde, deren Anfänge in Oslo, bei Undset nach Christiania, wir in dieser Geschichte folgen. Die Geschichte hat fünf Kapitel, jedes umfaßt etwa ein Jahr in Unis Entwicklung.
Wir treffen zuerst eine verträumte, zugleich lebenslustige Neunzehnjährige, ein Waise, die vom Land eben in die Hauptstadt gekommen ist. Sie hat Talent zum Singen und Schauspielen, sie möchte zur Bühne und das gelingt ihr auch. Die Ehe lockt aber auch, zum einen, weil das eben erwartet wird, zum anderen, weil sie einen sehr verständnisvollen Mann findet. Er ist bereit, ihre Karriere zu unterstützen, aber es stellt sich heraus, daß Unis Talent eher knapp bemessen ist.
Undset wagt mit Das glückliche Alter eine Geschichte über lebensbestimmende Entscheidungen und die ewige Sehnsucht, die man spürt, doch etwas anderes zu sein und zu tun. Eine von Unis Freundinnen zerbricht daran. Uni hält die Spannung aus, aber es macht sie unglücklich.
Von der ewigen Sehnsucht einer Frau und der Unmöglichkeit, sie zu erfüllen handelt auch die letzte und kürzeste Erzählung, Frühlingswolken (Vårskyer). Ein Frühlingstag weckt in einer Mutter Erinnerungen an die Jugend. Sie ist selbst noch eine junge Frau, kaum Mitte dreißig, hat drei Kinder und fast völlig verdrängt, daß es einmal ein anderes Leben gab. Am Ende bleibt ihr nicht einmal die Sehnsucht, sondern die Sehnsucht nach dem Sehnen und eine seltsam glücklich-schmerzliche Resignation im Leben für ihre Kinder.
Schwierig und wegen der längst veränderten Lebensumstände von Frauen in manchen Teilen nur schwer zugänglich, sind diese Geschichten ein Weg durch eine uns fremdgewordene Welt. Beim näheren Hinsehen erkennt man aber einige Probleme, die sich nicht verändert haben. Die Frage nach dem, was ein erfüllte Leben ausmacht, welche Stellung man in der Gesellschaft einnehmen möchte und welche man einnehmen kann, die vielfältigen Formen von Liebe, die nicht leicht auseinanderzuhalten sind. Die genaue Beobachtung gerade sehr junger Menschen, die Fallen, auch Denkfallen, in die man aus schiere Unerfahrenheit, aber auch Naivität und Idealismus geraten kann.
Verwunderlich ist der freizügige Umgang Undsets mit dem Tod von eigener Hand, nicht wenige Frauen wählen Selbsttötung als Lösung des Konflikts zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlichen Ansprüchen. Es ist viel Unglück in diesen Geschichten, für Frauen scheint es vor allem Ergebung in die Selbstgenügsamkeit zu sein, die ihnen bleibt, Erfüllung in der Aufzucht von Kindern. Sie gehen an der bürgerlichen Ideologie Stück für Stück zugrunde.
Zugleich zeigt Undset schwache Menschen, wenn auch moralisch unbestechlich um den Preis der Selbstaufgabe, weil die Moral eine überkommene ist und nie hinterfragt wird. Keine denkt daran, daß auch Moral Veränderungen unterworfen ist. Keine nimmt den kampf auf, sie sind schon verloren, während sie sich noch sehnen.
Im Hintergrund wächst das neue Christiania, ein Industriestadt, Straßen werden gebaut, Straßenbahnschienen wachsen in die Landschaft, Vororte werden zu Stadtgebieten. Nur die Menschen scheinen sich nicht zu verändern.
Am meisten beeindruckt heute Undsets Meisterschaft bei den Naturschilderungen. Winterlandschaften, Frühlingswälder, Sommerwiesen. Die Fjorde, Waldseen und der Himmel darüber, Licht und Lichtreflexe, Farben und Nachtdunkel.