Die Aula - Hermann Kant
ISBN: B0050YX2YW
Verlag: Rütten & Löning
Erscheinungsjahr: 1965 (1.Auflage) 1968 (7.Auflage) gelesen
Seitenzahl: 432
Über den Autor:
Hermann Kant wurde 1926 in Hamburg geboren und absolvierte eine Ausbildung zum Elektriker. Wie vielen Gleichaltrigen entging auch Hermann Kant nicht dem Schicksal, als Soldat in den letzten Kriegsjahren eingezogen zu werden, infolge dessen er in polnische Kriegsgefangenschaft geriet. Nach seiner Entlassung holte er das Abitur an der Arbeiter- und Bauernfakultät an der Universität Greifswald nach und studierte im Anschluss Germanistik. Es folgten Tätigkeiten als wissenschaftlicher Assistent und als Chefredakteur einer Studentenzeitschrift.
Später arbeitete Hermann Kant als freiberuflicher Schriftsteller.
Neben Tätigkeiten für den PEN-Club war Hermann Kant auch Mitglied der Akademie der Künste. Aus beiden Vereinigungen trat er nach der Wiedervereinigung aus.
Die gegen ihn erhobenen Vorwürfe für die Staatssicherheit als IM tätig gewesen zu sein, bestreitet der Schriftsteller bis heute.
Von Hermann Kant erschienen sind bis heute u.a. folgende Bücher:
Die Aula (1965), Das Impressum (1972), Bronzezeit (1986), Kennung (2010).
Über den Inhalt:
Ein halbes Jahr vor Schließung der ABF Greifswald erreicht den Publizisten Robert Iswall im Jahr 1962 ein Fax mit der Bitte, als ehemaliger Absolvent der Einrichtung eine Abschlussrede zu halten. Iswall willigt widerwillig ein und beginnt sich an die drei Jahre und seine Mitbewohner Gerd Trullesand, Karl-Heinz Riek und Jakob Filter zu erinnern. Zehn Jahre sind mittlerweile vergangen und Iswall spürt die Geschichten der Kriegsheimkehrer mit proletarischem Hintergrund auf. Mehr als eine Vorbereitung auf seine Rede wird die Recherche zu einer Erinnerung Iswalls an die Nachkriegsjahre und an Freundschaften, die auf die Probe gestellt wurden.
Meine Meinung:
Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen. Was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen, wenn wir zu wissen wünschen, was jener will.
Dieses Heinrich-Heine-Zitat, das Hermann Kant seinem bekanntesten Roman "Die Aula" voranstellt und ältere Umschlagseinbände ziert, ist Leitmotiv für den Publizisten Robert Iswall, der den Auftrag erhält, die Abschlussrede für die Schließung der ABF Greifswald zu halten.
Robert Iswall, der es mittlerweile zum Literaturkritiker gebracht hat und selbst Absolvent der ABF war, ist ungehalten darüber, den Auftrag bereits ein halbes Jahr vor Schließung zu erhalten.
Nach und nach lässt Hermann Kant sich seinen Protagonisten an die Anfänge der ABF und seine dortige Aufnahme erinnern.
Der gelernte Elektriker und nunmehr angesehene Publizist Iswall, der mit der ehemaligen Absolventin und späteren Augenärztin Eva verheiratet ist, rekapituliert seine Entlassung aus der polnischen Kriegsgefangenschaft und seine Arbeitslosigkeit, als sein Meister in den Westen verschwindet.
Die Arbeiter und Bauernfakultät, kurz ABF genannt, diente in den Anfängen der DDR als eine an Universitäten und Hochschulen angegliederte Einrichtung dazu, Arbeiter wie Bauern gleichermaßen die Chance zu bieten, ihr Abitur nachzuholen und im Anschluss daran zu studieren.
Als Kriegsheimkehrer nutzt Robert Iswall die Möglichkeit, seinem Leben eine neue Wendung zu geben. Zur Seite stehen ihm dabei drei weitere, gänzlich verschiedene Absolventen der ABF, die mit ihm im Internat ein Zimmer teilen.
Während Robert Iswall Linientreue zum System und eine gewisse Unnahbarkeit auszeichnen, ist es der Zimmergeselle Gerd Trullesand, der mit Herz und Verstand und immer schelmenreich diesen Roman belebt. Karl-Heinz Riek, kurz Quasi genannt, ist zweifelslos systemtreu und doch undurchschaubar, während der zurückhaltende Waldarbeiter Jakob Filter am Ende überraschen wird.
So unterschiedlicher die vier Absolventen nicht sein könnten, so verbindet sie doch der gemeinsame Wunsch das Abitur zu erreichen.
Hermann Kant lässt seinen Roman in verschiedenen Zeitebenen spielen und verwebt kunstvoll Rückblenden mit aktuellen Geschehnissen. So erinnert sich Robert Iswall während einer Zugfahrt von Berlin nach Hamburg und während seines dortigen Aufenthalts an seine Zeit in Paren, bevor er nach Greifswald an die ABF ging. In Hamburg recherchiert er über die Flut von 1962 und nutzt diese Gelegenheit, seinen geflüchteten Freund Quasi aufzusuchen, der dort inzwischen eine Kneipe betreibt. Merklich treiben den Protagonisten Robert Iswall widerstreitende Gedanken um. Darf er in seiner Abschlussrede den Verräter Quasi erwähnen?
Hermann Kant wurde insbesondere in der Nachwendezeit seine unbestätigte Tätigkeit für die Staatsicherheit vorgeworfen. Verbunden wurde dieser Vorwurf oft genug mit seiner schriftstellerischen Tätigkeit, die ganz im Sinne eines sozialistischen Leitbildes ausfällt. Bei genauer Betrachtung jedoch fällt auf, dass Hermann Kant mit Mitteln der Satire und Ironie und wenig subtil Missstände anprangert, die diesen Roman mit einem Veröffentlichungsverbot hätten belegen können. Er erzählt davon, wie Robert Iswall nach seiner Rückkehr aus Hamburg erkennen muss, dass sämtliche Akten über Quasi aus der ABF nicht mehr auffindar sind und niemand darüber Informationen hat, er berichtet über die Denunziation des dritten Mannes seiner Mutter, die die Mutter für wenige Wochen ins Gefängnis bringt und sie am Ende eine geräumte Wohnung vorfinden lässt, über die niemand Auskunft geben möchte.
Dass die vier Freunde nach ihren drei gemeinsamen Jahren nicht als Freunde auseinandergehen, auch diesen Umstand vergegenwärtigt sich Robert Iswall. Gerd Trullesand, der oft genug seine Tante mit einem Herz aus Schwarzbrot erwähnt, und selbst ein eben solch weiches Herz besitzt, verdankt seinem Freund ein Sinologiestudium in China.
Allerdings nicht ohne zuvor und auf parteilichen Druck unter Einfluss von Robert Iswall zu diesem Studium und einer Hochzeit gedrängt worden zu sein. Der spätere Publizist hatte seine parteiliche Stellung genutzt, um seinen Freund und angeblichen Konkurrenten um die Gunst von Eva auszuschalten.
"Die Aula" ist ein großer und lesenswerter, manchmal auch etwas zäher und belehrender bildungsbürgerlicher Roman über die Anfänge der DDR, über eine politische Entwicklung, über Chancengleichheit im Bildungssystem und über Freundschaft.
Mit Humor und Satire begegnet Hermann Kant Fehlentwicklungen und verleiht der Handlung und seinen Figuren eine notwendige Ausgewogenheit.
Die Komplexität des Romans, seine klugen Anspielungen und die bildhafte Nachzeichnung der Nachkriegszustände lassen diesen Roman zur Pflichtlektüre für all diejenigen werden, die sich mit der Literatur des Nachkriegsdeutschland auseinandersetzen möchten.
Nachtrag: Die gelesene und die verlinkte Ausgabe sind nicht identisch.