"Wir sind der Staat" - das neueste Buch von Daniela Dahn

  • Die Mauer muß weg…


    Buchtipp von Harry Popow


    Die Mauer muß fallen. Eine Mauer, die seit der Antike für das größte marktbeherrschende Eigentumsrecht, das Privateigentum an Produktionsmitteln, vor dem Zugriff des Volkes zu schützen hat. Es ist eine Mauer um das Big Business, wie man in den USA sagt. Ein Schutzwall, der im Laufe der Jahrhunderte immer wieder durch Volksrevolutionen unter Beschuss geriet und sich doch noch hält, durchlöchert zwar, aber immerhin. Angeblich unzerstörbar…


    Die neueste Kanonade gegen diese Mauer um das Reich der Kapitalmächtigen und der Politiker herum hat keine geringere losgelassen als Daniela Dahn, die Autorin von „Wehe dem Sieger“, zu DDR-Zeiten u.a. Gründungsmitglied des „Demokratischen Aufbruchs“. Ihre neueste Denkschrift: „Wir sind der Staat“. Die Autorin stellt darin „die morsch gewordenen Grundstützen des bürgerlichen Staates in Frage.“ Es gehe allerdings nicht um eine Schwächung des Staates, „sondern um seine stärkere demokratische Legitimierung“. (S. 107)


    Mit scharfer Zunge geißelt sie den Kapitalismus mit einer erstaunlich analytischen Tiefgründigkeit. Ihr zentraler Gesichtspunkt: Das seit dem Römischen Reich zum Heiligtum erhobene Privateigentum an Dingen des Gemeinwohls. Es beherrsche jahrhundertelang die Völker und lasse eine demokratische Mitbestimmung in grundsätzlichen Fragen nicht zu.


    Auf 176 Seiten spannt sie den Bogen von der Antike, dem Römischen Recht, bis in die Gegenwart und in die Zukunft. Zum geistigen Genuss der deutschen Aktivbürger, die laut Forsa zu 84 Prozent gegen Privatisierungen sind. (S. 67). Bürger, die gegen Fluglärm, gegen Atomlager, gegen Stuttgart 21, gegen Drohnen, gegen Bundeswehreinsätze im Ausland, gegen Arbeitslosigkeit, gegen die Verdummung durch die Medien zunehmend energisch ihre Stimme erheben.


    Und zum Verdruss derjenigen, die die unveränderlichen Prinzipien der im Grundgesetz festgeschriebenen freiheitlich demokratischen Grundordnung, das Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, auf Volkssouveränität, auf Gewaltenteilung (S.133) und den Artikel 20 des Grundgesetzes „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ glatt unter den Tisch gefegt haben.


    Daniela Dahn stellt fest: Volkssouveränität und Gewaltenteilung existiere so gut wie nicht. Die Verantwortlichkeiten der Regierung seien längst auf die Wirtschaft übergegangen, die Unabhängigkeit der Justiz sei eingeschränkt und durch die Praxis der Parteienspenden und der ungleichen Zuwendung der Großmedien gäbe es keine Chancengleichheit. (S. 133)


    Bleiben wir zunächst bei diesem Zustandsbericht, wie die Autorin den ersten Teil ihres Buches bezeichnet. Scharf kritisiert sie, dass zum Beispiel bundesweite Volksentscheide nicht vorgesehen sind, dass die wechselnden Eliten im Parteienkarussel um dieselbe Macht ringen und gar nicht gewillt sind, des Volkes Meinung zu hören. Es reiche doch, wenn die Wähler ihre Stimme abgeben und sich nicht einmischen, wenn es um die im Verborgenen herrschende Macht des Kapitals gehe. (S. 9) Die Beschränkung auf alle vier Jahre stattfindende Wahlen würde von vielen nicht mehr als zeitgemäße Demokratie akzeptiert. (S. 32) Die Autorin mahnt an, zum Beispiel bei Richtungsentscheidungen wie Krieg und Frieden – das sei der höchste Punkt der Souveränität – das Volk mitentscheiden zu lassen. (S.46)


    Sehr interessant sind Ausagen von Autoritäten, die sie in den Zeugenstand ruft: So schrieb einst Aristoteles, das erste Ziel der Oligarchie sei, ihre Besitztümer zu verteidigen. (S.46) Die Griechen bestanden darauf, dass der Staat das Eigentum der Bürger sei. Die machtbewussten Römer pochten auf das egoistische Interesse der Grundeigentümer. „Das Recht, seine Sache zu gebrauchen und zu missbrauchen, soweit es die Idee des Rechts zulässt. Und diese Idee bestand gerade in der Heiligung des Eigentums.“ (S. 47/48) Jean-Jacques Rousseau fragte, „wie Menschen sich eines riesigen Landgebietes bemächtigen und es dem ganzen Menschengeschlecht rauben können, wenn nicht durch eine strafwürdige Aneignung…“ (S. 51)


    Was war nach der Befreiung vom Faschismus 1945 angesagt und vordringlich? Der endgültige Bruch mit dem Römischen Recht! Der Bruch mit den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen besonders in Deutschland. Die Chancen waren da. In der damaligen SBZ wurden sie durch die Enteignung der Wirtschaftsmächtigen und Schuldigen am Weltkrieg genutzt. In den „westlichen Besatzungszonen verurteilten CDU/CSU und SPD gleichermaßen scharf das versagt habende ´kapitalistische Wirtschaftssystem´ und setzten auf eine ´gemeinschaftliche Ordnung´, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht“. (S. 52) Welch eine Chance für einen Neuanfang… Doch verpasst. Durch Marhallplan, Währungsunion und „eine Wachstum fördernde Gesetzgebung des Wirtschaftsrates unter dem Einfluß der Westallierten…“ (S. 54)


    Gustav Heinemann klagte in den 50er Jahren nach seinem Austritt aus der CDU: „Sieht man denn wirklich nicht, dass die dominierende Weltanschauung (…) aus drei Sätzen besteht: viel verdienen, Soldaten, die das verteidigen, und Kirchen, die beides segnen.“ Für die sich für das Wirtschaftswunder Abrackernden war das schließlich, so Daniela Dahn, eine Luftnummer letztlich ohne Netz. (S. 57)


    Das Defizit im System liege in der Allmacht der Besitzenden, in deren Einfluss auf die Politik im Interesse des weiteren Wachstums. In der unechten Demokratie, in der das Volk in Grundsatzentscheidungen überhaupt nicht einbezogen werde. „Demokratie und Freiheit“ als Aushängeschild einer untergehenden Gesllschaft, die nach dem Kollaps des Weltsozialismus nunmehr unverblümt einst soziale Fortschritte in Frage stellt. „Die repräsentative Demokratie der Bundesrepublik, die im Grunde eine Großparteienherrschaft ist, wehrt nach wie vor alle Ansätze direkter Demokratie und Kontrolle von unten ab.“ (S. 109)


    Der grosse Vorzug dieser Denkschrift von Daniela Dahn besteht nicht nur in ihrem Weitblick zurück, auch nach vorne lenkt sie mit klugen und diskussionswürdigen Überlegungen die Aufmerksamkeit der interessierten und nachdenklichen Leser. (Ab S. 103) Sie bleibt nicht stehen bei der Aufforderung nach Ungehorsam (S.15) und Empörung. So schwerwiegend das Problem der Mitbestimmung auch ist, jeder solle sich nicht nur fragen „hier bin ich Mensch, hier kaufe ich ein“, sondern auch „hier bin ich Mensch, hier greif ich ein“. (S. 18)


    Aber wie? „Subversiv“, so bezeichnen die Geheimdienste diejenigen, die in den Augen der Obrigkeit aufgrund der krisenhaften Zerrüttung der Politik und der Wirtschaft eine friedliche Systemänderung anmahnen und mit Wort und Tat dafür einstehen. Wie dem „Heiligtum Privat“ und der Phrase von „Freiheit und Demokratie“ – vermittelt durch die in den Seilschaften der Oberen hängenden und von ihnen bezahlten bürgerlichen Medien - kurz- und langfristig beikommen, denn es ist keine Zeit zu verlieren?


    Ein weiterer Bruch mit dem Römischen Recht sei dringend nötig, so die Publizistin. Sie wäre nicht die kluge und scharfsinnige Autorin, wenn sie nicht gleichzeitig Wege aufzeichnen würde, wie aus dieser Diktatur des Heiligtums herauszufinden sei. Im Gegensatz zu manchen Männern der Politik und der Medien appelliert sie nicht schlechthin an die Vernunft, schon gar nicht an Gott. Sie fordert dringlich dazu auf, die demokratischen Rechte des Volkes als dem eigentlichen Souverän endlich wahrzunehmen.


    Wie soll das gehen? Sich einbringen. Sich rühren. Sich überwinden, um dem Kapital als Ganzem Paroli zu bieten. Der Einzelne – das steht fest – kann da wenig tun. Erst in der Gemeinschaft, im Zusammenhalt und der Solidarität von Hunderttausenden entstünde jene Kraft, die Veränderungen im System erzingen könnte. Was und wie muß etwas getan werden? Aufklären, teilnehmen, aufwachen. Lethargie, uneffektives Verhalten, Gleichgültigkeit - wie ist dieser Politverdrossenheit beizukommen?


    Fertige Rezepte gibt es nicht, aber sie plädiert wiederholt für die Verwandlung von „Wutbürgern“ in Aktivbürger. Und diese wiederum müssten „ein ureigenstes Interesse haben, so viele Mitstreiter wie möglich zu gewinnen“. (S. 139) Sie erinnert an die zur Wende installierten „Runden Tische“ in der DDR, an zielgerichtete Aktionen, um Teilnahme an Bürgerversammlungen auf allen Ebenen, an die Installation von Räten und verweist dabei auf die Geschichte. Sie widerlegt das Argument, den Leuten fehle die Sachkunde. Dann könne die praktische Befähigung auf dem Nachweis „eines Zivildienstes, eines Praktikums, einer ehrenamtlichen oder öffentlichen Tätigkeit in sozialen und pflegerischen Einrichtungen,“ (…) in Vereinen usw. beruhen.


    Sie schreibt ganz volkstümlich von einer Fahrerlaubnis für Demokratie, von einem „Demokratie-Diplom“, das man erlangen könne und schlägt in diesem Zusammenhang auch materielle Anreize vor. (S. 141) Wolle man aus der Zuschauerdemokratie heraustreten und die Teilnehmerdemokratie anstreben, meint die Autorin, dann ist eine Qualifikation nötig. Es gehe um eine beratende Parallelstruktur von Räten mit Befassungs- und Vetorecht dem Parlament gegenüber. (S. 140) Ohne Umschweife schreibt die Autorin auf Seite 170: „Die Räterepublik als Alternative wird die Parteien auf den zweit- oder drittrangigsten Platz verweisen, der ihnen gebührt.“ (S. 170)


    Nur Quasseln ist kein Mitregieren. Dagegen sind Aktivbürger Vorreiter, sind Pioniere des klaren Denkens und Handelns, sind Menschen, die den Glauben an eine menschlichere Zukunft nicht verloren haben, die Veränderungen nicht nur herbeiwünschen, wie es nahzu 80% der BRD-Bürger im Grunde ihres Herzens anstreben, sondern dafür aktiv einstehen. „Wir sind der Staat – das ist Anspruch und Bedingung für Akzeptanz.“ (S. 174)


    Der Vordenkerin Daniela Dahn sei gedankt für ihren Mut, für ihre aufklärerische Kraft, geistigen Widerstand zu leisten, für ihre klare Sprache, für ihre tiefe Menschlichkeit. Ja, es bleibt dabei, Unruhe stiften, „subversiv“ sein mit friedlichen Mitteln ist eine Ehre. Die alte Mauer zwischen Oben und Unten, zwischen Arm und Reich, zwischen Kapital und Arbeit muss weg! Wer winkt da ab? Lassen wir noch einmal Jean-Jacques Rousseau zu Wort kommen: „Ich besitze nicht die Kunst, für jemand klar zu sein, der nicht aufmerksam sein will.“ (S. 21)


    Daniela Dahn: „Wir sind der Staat. Warum Volk sein nicht genügt“, gebundene Ausgabe: 176 Seiten, Verlag: Rowohlt (12. März 2013), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3498013335, ISBN-13: 978-3498013332, Größe und/oder Gewicht: 21 x 13,2 x 1,8 cm, Preis: 16,95 Euro


    Daniela Dahn, geboren 1949 in Berlin, Journalistikstudium in Leipzig, danach Fernsehjournalistin. Seit 1981 arbeitet sie als freie Autorin; Mitglied des P.E.N seit 1991, Gründungsmitglied des «Demokratischen Aufbruchs». Sie ist Trägerin des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik, der Luise-Schroeder-Medaille der Stadt Berlin und des Ludwig-Börne-Preises. Bei Rowohlt erschienen bislang neun Essay- und Sachbücher.



    Erstveröffentlichung der Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung


    Mehr über den Rezensenten: http://cleo-schreiber.blogspot.com