Adam Johnson: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

  • Adam Johnson: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
    Suhrkamp Verlag 2013. 687 Seiten
    ISBN-13: 978-3518464250. 22,95€
    Originaltitel: The Orphan Master's Son
    Übersetzerin: Anke Burger


    Verlagstext
    Pak Jun Do hat noch nie einen Film gesehen, kaum je ein Werbeplakat, er findet es merkwürdig, dass woanders Leute Tiere im Haus halten, und wundert sich über Maschinen, die Geld auswerfen. Er kennt keine Ironie, keine Kunst, keine Mode und keine Magazine. Aufgewachsen im nordkoreanischen Waisenhaus »Frohe Zukunft«, ist er ein winziges Rädchen im großen Getriebe der absurd-grausamen Herrschaft des »Geliebten Führers« Kim Jong Il. Nur ein falsches Wort kann jeden sofort ins Lager bringen. Doch mit der Zeit beginnt Jun Do an etwas zu glauben, was stärker ist als Staatstreue: Freundschaft und Liebe. Als er die Schauspielerin Sun Moon trifft, lernt er das bedingungslose Vertrauen in einen anderen Menschen kennen. Und nur dafür lohnt es sich zu überleben. Adam Johnsons kühner Nordkorea-Roman ist ein wahres Feuerwerk der Erzählkunst, eine wahnwitzige Geschichte über Freiheit, Wahrheit und Identität. Er ist ebenso die Geschichte verlorener Unschuld wie Spionagethriller und Liebesroman, bevölkert von eigenwilligen, schrägen Figuren – poetisch, erschütternd und unvergesslich.


    Der Autor
    Adam Johnson, geboren 1967 in South Dakota, lehrt in Stanford Creative Writing. 2002 erschienen die Short Storys Emporium, 2003 der Roman Parasites like us. Er hat in Magazinen publiziert und zahlreiche Preise und Stipendien erhalten. Für den vorliegenden Roman reiste Adam Johnson ins abgeschottete Nordkorea.
    »Ehrlich gesagt hatte ich das Gefühl, Nordkoreas tatsächliche Schwärze noch etwas verharmlosen zu müssen.«
    Interview mit Adam Johnson


    Inhalt
    Ein Staat, zu dessen Wortschatz der Begriff Republikflucht gehört, ist uns Deutschen so vertraut wie die Propaganda von Diktaturen gegen einen vermeintlichen Agressor, mit der von diversen Defiziten in der Versorgung der Bürger abgelenkt werden soll. Pak Jun Do ist im nordkoreanischen Waisenhaus "Frohe Zukunft" aufgewachsen, weil sein Vater dort als Aufseher arbeitete. Der Staat Korea macht in diesem Roman seine Kinder zuerst zu Waisen, indem er ihre Eltern sich in Arbeitslagern zu Tode schuften läßt und "adoptiert" anschließend die elternlosen Kinder, um sie wiederum im Bergbau schuften zu lassen oder sie mit 14 Jahren in spezielle Waisen-Kompanien der Armee zu stecken. Jun Do, einziger Bewohner der "Frohen Zukunft" mit zumindest einem lebenden Elternteil, überlebt zu seinem Glück die Ausbildung in der Armee, kann einen Englischkurs belegen und wird schließlich als Funker auf einem Fischkutter zur Spionage im Gebiet zwischen Nordkorea und Japan eingesetzt. Durch einen sonderbaren Auftrag für den "geliebten Führer" an der japanischen Küste kann Jun Do zum ersten Mal Nordkorea verlassen. Eine Flucht nach Japan ist undenkbar; denn der Staat behält die Angehörigen der Besatzung als Pfand zurück. "Witwen" Geflüchteter werden zwangsweise neu verheiratet. Der Junge hat sein Leben bisher in einem Schlafsaal mit einhundert Kindern verbracht. Mangel an allem ist für Jun Do Normalität. Nach Einbruch der Dunkelheit herrschte in Nordkoreas Hauptstadt Ausgangssperre, zum Stromsparen wurden alle Lampen ausgeschaltet. Das verschwenderisch erleuchtete Japan wirkt auf Jun Do reichlich sonderbar, er beginnt zu ahnen, von wie vielen Dingen er bisher keine Ahnung hatte. Der Mensch ist im System des geschilderten Nordkorea unbedeutend, beliebig austauschbar, entscheidend ist die Geschichte, die das System ihm überstülpt oder die er für sich erfindet. Die Erzählungen seines Kapitäns, der vier Jahre als Gefangener auf einem Fabrikschiff verbrachte, warnen Jun Do davor, jederzeit für die Wahrheit ins Gefängnis kommen zu können. Mehrfach gelingt es Jun Do seinen Kopf durch seine blühende Phantasie zu retten, wie ein asiatischer Münchhausen, der sich selbst aus dem Sumpf zieht.


    Der Staat schreibt seinen Bürgern vor, was sie zu denken und zu fühlen haben und verkündet diese Weisheiten regelmäßig per Lautsprecher. Jun Do ist es so gewohnt und würde sich ohne diesen Rahmen nicht wohlfühlen. Dennoch fühlt er sich von Menschen und Ereignissen außerhalb seines staatlich organisierten Gefängnisses angezogen. Adam Johnson beschreibt den Kulturschock des Jungen, der nie zuvor auch nur einen Film gesehen hat, in sehr liebenwerter Weise, ohne Jun Do und seine Kultur damit bloßzustellen.


    Der zweite Teil des Buches, der mich weniger angesprochen hat als Jun Dos Jugend-Erlebnisse, befasst sich mit dem Lagerkommandanten Ga, dessen Identität mitsamt seiner realen Familie sich Jun Do vermutlich übergestreift hat.


    Fazit
    Mit seinem ausgerechnet in Nordkorea angesiedelten abenteuerlichen Roman hat Adam Johnson das Setting kühn gewählt. Wie ähnlich Diktaturen nach außen und innen agieren wird bei manchem Leser für eine Gänsehaut sorgen. Johnson hat sich meinen Respekt mit seiner humorvollen wie phantasievollen Annäherung an ein Land verdient, das normalen Reisenden verschlossenen ist. Leser des umfangreichen Buches sollten mit heiteren Szenen, sowie unvorstellbarer Not und menschenverachtenden Handlungen rechnen.


    8 von 10 Punkten

  • Herzlichen Dank für diese hochinteressante Buchvorstellung. Das Buch wird dann auch sofort auf meine Wunschliste gelistet. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Meine Meinung: Zurzeit ist das Säbelrasseln Nordkoreas wieder einmal sehr häufig in den Medien und so war es der perfekte Zeitpunkt, für das Erscheinen dieses Buches, in dem Adam Johnson seine Geschichte genau dort angesiedelt hat. Es ist kaum etwas über das abgeschottete Land bekannt und auch im Internet nur sehr wenig in Erfahrung zu bringen. Die Berichte über Nordkorea reduzieren sich auf den Führer des Landes und geben keinerlei Anhalt auf das alltägliche Leben der Bevölkerung.


    Adam Johnson ist dorthin gereist und auch wenn man in seinem Buch leider keine weiteren Erklärungen zu dieser Reise findet, so kann man sich vorstellen, dass er das Land sicher nicht allein ansehen durfte, sondern, genau wie die Journalisten in China, einen staatlich geschulten Begleiter zugeteilt bekam, der an sich schon eine Art der Zensur darstellte.
    Um Zensur und absolute Kontrolle geht es auch zum großen Teil in seinem Buch. Der Waise Jun Do, aus dem Waisenhaus „Frohe Zukunft“, Protagonist des Buches, erlebt die ganze Härte des Regimes. Er wird zum Tunnelkämpfer ausgebildet und lernt das Töten in absoluter Dunkelheit, absolviert Schmerztrainingseinheiten, wird abkommandiert, um für den Staat Menschen zu entführen, muss als Nachrichtendienstler auf einem Fischkutter arbeiten und wird dann auf eine Mission nach Texas geschickt. Wohin es ihn auch verschlägt, wie gut oder schlecht er seine Aufgaben erfüllt, spielt keine Rolle, denn für jede Kleinigkeit kann man in einem Straflager landen.
    In jeder einzelnen Station seines Lebens wird er vom Staat vereinnahmt, der Menschen zu austauschbaren Objekten degradiert, doch Jun Do lässt sich nicht eben nicht vereinnahmen und geht seinen eigenen Weg. Sein Leben ist abenteuerlich und voller Wendungen, mit denen man als Leser nicht rechnet.


    Nebenbei lernt man den normalen koreanischen Alltag kennen, wie der Autor ihn sieht. Immer wieder werden Lautsprecherdurchsagen eingestreut, in denen die Bürger oft abstruse Märchen zu hören bekommen, oder in denen teilweise Propaganda, aber auch ganz normale Meldungen oder Vorschriften mitgeteilt werden. Diese Lautsprecher sind in jeder Wohnung und auf allen öffentlichen Plätzen angebracht und irgendwann wird dann auch die Geschichte um Jun Do dort Verbreitung finden – eine sehr geschickte Integration, eine Geschichte in der Geschichte sozusagen.
    Gern hätte ich wesentlich mehr über den Autor erfahren; die Gründe, die er hatte, genau dieses Buch zu schreiben, seine Erfahrungen, die er auf seiner Reise gemacht hat, doch das bleibt leider im Dunkeln. In den Leseexemplaren soll es eine Beilage dazu gegeben haben und es ist sehr schade, dass sie nur einem kleinen Publikum vorbehalten war. So kann man Wahrheit und Fiktion nicht unterscheiden, ist verunsichert, ob die staatlichen Methoden, mit Menschen umzugehen, tatsächlich so grausam sind, oder ob es sich nur um Gedankenspiele des Autors handelt. Vieles hätte ich gern näher erfahren und so bleiben neben einer abenteuerlichen Geschichte, die mir ausnehmend gut gefallen hat, Unsicherheit und Neugier zurück.


    Das Buch hat aber auch genau aus diesen Gründen einen noch länger nachwirkenden Eindruck hinterlassen. Die Figuren sind teilweise sehr eigenwillig und oft habe ich über den hintergründigen Humor geschmunzelt.


    Mein Fazit: Es gibt einen vermeintlichen Blick hinter die Kulissen eines unbekannten Landes, empört, beeindruckt, reißt mit und lässt einen nicht mehr los. Die Handlung ist spannend und voller Überraschungen. Ich freue mich, dass es den Pulitzerpreis bekommen hat und wünsche ihm noch sehr viele Leser.

  • Beim englischen Hörbuch gibt es ein Nachwort, vielleicht mal über Amazon versuchen, ob Du dort in die englische Buchausgabe reinlesen kannst? Sonst beim nächsten Treffen über meinen MP3-Spieler.

    "It is our choices, Harry, that show what we truly are, far more than our abilities." Albus Dumbledore
    ("Vielmehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind.")


    "An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die Schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern."

    Erich Kästner.

  • Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
    OT: The Oprhan Master's Son
    Autor: Adam Johnson
    Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch: Anke Caroline Burger
    Verlag: Suhrkamp
    Erschienen: März 2013
    Seitenzahl: 685
    ISBN-10: 3518464256
    ISBN-13: 978-3518464250
    Preis: 22.95 EUR


    Ein ganz gewiss nicht alltägliches Buch. Ein Buch das eine Geschichte aus einem Land erzählt, dass für die meisten Menschen unbekannt ist, ein Land von dem man gerade einmal ein klein weg mehr als den Namen weiß: Nordkorea.
    Nordkorea – die große Unbekannte im Fernen Osten.


    Aber nur weil ein Buch nicht alltäglich ist und weil es über ein weithin unbekanntes Land erzählt, ist es dann auch ein gutes Buch. Mitnichten. Denn zu einem wirklich guten Buch gehört ein wenig mehr, als das was Adam Johnson hier seinen Lesern präsentiert. Im Grunde ist dieses Buch sogar ziemlich enttäuschend.


    Johnson erzählt die – zum Teil in einigen Punkten phantastisch anmutenden Geschichte – des Waisen. Jun Do. Der Junge wächst in einem Waisenhaus auf, ist aber keine Waise, vielmehr ist sein Vater der Leiter dieses Waisenhauses. Dann wird Jun Do Teil der Besatzung eines Fischereischiffes, das in internationalen Gewässern unterwegs ist und das alles andere als ein normaler Fischdampfer ist. Die Besatzung entführt Menschen aus Südkorea und Japan und bringt sie dann ins heimische Nordkorea wo die entführten Menschen besonderen Aufgaben zugeführt werden. Und Jun Do muss nebenbei auch noch mit einem Funkgerät den Funkverkehr auf den befahrenen Gewässern abhören. Dann nimmt er aber mit einer Regierungsdelegation an einem Besuch in Texas teil. Staunend betrachtet er die westliche Welt, die so völlig anders ist als sein Heimatland Nordkorea.


    Doch dann nach dieser Reise wird auch die Staatsmacht auf ihn aufmerksam. Zu abenteuerlich und unglaubwürdig ist die Geschichte, wie er zu seiner Narbe auf dem Arm, resultierend aus einem Haifischbiss, gekommen ist. Jun Do landet so wie unglaublich viele seiner Landsleute in einem Lager. Von dort kann er ab entfliehen, nachdem er den Kommandanten Ga, einen der führenden Männer des Landes, getötet hat und sich dann für diesen ausgibt. So trifft er dann die Schauspielerin Sun Moon, die Ehefrau des Kommandanten Ga und nimmt auch dort dessen Rolle ein. Sun Moon war lange Zeit ein Günstling des Geliebten Führers Kim Jong Il. Jun Do alias Ga will dann Sun Moon und deren beide Kinder zur Flucht aus Nordkorea verhelfen. Die Gelegenheit dazu ergibt sich, als der texanische Senator zu einem Besuch nach Nordkorea kommt um dort in erster Linie eine junge Ruderin, die angeblich in den Hoheitsgewässern Nordkoreas aufgebracht wurde, wieder mit in die USA zu nehmen.


    In dieser Geschichte wird fleißig in der Gegend herumgefoltert, jeder gegen jeden, wer heute noch oben war, der ist oder kann morgen schon ganz unten oder auch gar nicht mehr sein.


    Sicher beschreibt dieses Buch in Ansätzen das Leben in Nordkorea. Aber so wie es beschrieben wird, wirkt vieles einfach nur surreal und unwahrscheinlich. Sicher hat Nordkorea riesige Probleme damit die eigene Bevölkerung zu ernähren und es wird auch wohl kaum jemand widersprechen, wenn man dieses Land als einen reinen Unrechtsstaat bezeichnet, in dem Willkür und schlimme Repressalien an der Tagesordnung sind. Aber die Art des Erzählens wirkt dabei nur unglaublich arrogant. Auch wenn in Nordkorea Terror und Unterdrückung herrschen, auch wenn dort eine notorische Unterversorgung besteht, so sind die Nordkoreaner und deren Staatsführung unter Garantie keine dummen Menschen die, wenn man dem Autor glauben darf, auf eine ganz besondere Art verblödet sind. Natürlich gibt es gerade in solchen totalitären Staaten ein riesiges Heer von Speichelleckern – aber daraus den Schluss zu ziehen, die Menschen in ihrer Gesamtheit wären beschränkt – ist eine ziemlich schlimme Sache.


    Das Buch wirkt insgesamt oberflächlich und wird das Gefühl nicht los, dass Adam Johnson halt eben das aufgeschrieben hat, von dem er meint, dass seine Leser es hören wollen. Auch wenn der Autor selbst in Nordkorea gewesen ist, so macht es nur sehr selten den Anschein, als ob er auch nur ein wenig von dem was dort passiert, verstanden hat. Zudem wirkt manches von dem was er schreibt fast schon surrealistisch verklärt. Er schreibt aus der Sicht des US-Amerikaners, er schafft es aber nicht, sich in die Menschen aus Nordkorea hineinzuversetzen. Aber das schaffen die Amerikaner in der Regel ja eh nicht – sich in andere Menschen hinzuversetzen, deren Lebensweise mal nicht aus der eigenen Sicht zu beurteilen.


    Die Menschen in diesem Land werden gnadenlos unterdrückt und überwacht, der Personenkult wird dort in Vollendung gelebt, die kommunistische Idee wird tagtäglich immer wieder neu verraten – aber kann man daraus auch ableiten, dass die Menschen naiv sind und das sie ihre eigene Situation nicht vielleicht doch real einschätzen können?


    Nordkorea ist durchaus eine Bedrohung für den Weltfrieden, es ist ein Land das sich abschottet und aus dem nur sehr wenig nach draußen dringt – aber wird dadurch das Schreiben eines relativ oberflächlichen Buches gerechtfertigt? Naja – Papier ist geduldig und auch ein Schreibcomputer leistet keinerlei Widerstand.


    Mich hat dieses Buch enttäuscht, zum einen durch seine unglaubliche Arroganz und zum anderen durch seine Oberflächlichkeit. Für die Idee gibt es 10 Eulenpunkte, für die Ausführung müssen dann aber 5 Eulenpunkte wieder abgezogen werden. 5 Eulenpunkte sind es dann auch nur geworden. In erster Linie wird damit der Versuch gewürdigt, mal ein Buch über Nordkorea zu schreiben. Und nicht jedes Vorhaben gelingt halt.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von Voltaire



    Die Menschen in diesem Land werden gnadenlos unterdrückt und überwacht, der Personenkult wird dort in Vollendung gelebt, die kommunistische Idee wird tagtäglich immer wieder neu verraten – aber kann man daraus auch ableiten, dass die Menschen naiv sind und das sie ihre eigene Situation nicht vielleicht doch real einschätzen können?


    Ich habe die Menschen (und den Blick des Autors auf sie) gar nicht als naiv empfunden. Die gesichtslose Masse wirkt natürlich auf eine gewisse Weise stumpf und scheint Befehle ohne nachzudenken auszuführen, dieser Eindruck zeigt sich ja in vielen totalitären Regimen, doch im Moment fällt mir niemand speziell ein, den ich als naiv empfunden hätte. Meinst du eine bestimmte Person, oder bestimmte Handlungsweisen? :wave

  • In einer durch die DDR-Grenze getrennten Familie aufgewachsen und mit Alltagserfahrungen in einer anderen Diktatur fand ich die symbolische Wirkung des Buches sehr beklemmend, das seinen Lesern eine Diktatur vorführt. Allerdings habe ich mich gefragt, ob diese Wirkung auch in den USA und ihrer "geographically challenged" Bevölkerung zu erzielen wäre. Ob ein USA-Amerikaner sich überhaupt in eine andere Kultur einfühlen kann, sehe ich sehr skeptisch; denn dazu müsste die Person sich zuvor auf Augenhöhe herunterbeugen. Es ist meiner Meinung nach nicht zwingend Aufgabe eines Romans, Realität abzubilden oder Wissen zu vermitteln, auch wennn sich das im Fall von Nord-Korea mancher Leser wünschen würde.

  • Zitat

    Original von Eskalina


    Ich habe die Menschen (und den Blick des Autors auf sie) gar nicht als naiv empfunden. Die gesichtslose Masse wirkt natürlich auf eine gewisse Weise stumpf und scheint Befehle ohne nachzudenken auszuführen, dieser Eindruck zeigt sich ja in vielen totalitären Regimen, doch im Moment fällt mir niemand speziell ein, den ich als naiv empfunden hätte. Meinst du eine bestimmte Person, oder bestimmte Handlungsweisen? :wave


    Vielleicht wäre es besser, man würde hier von einer fatalistischen Naivität sprechen. Eigentlich handelten die meisten Personen dieses Buches sehr gewöhnungsbedürftig, sie hinterfragten nicht - obwohl ich mir sehr sicher bin, dass es auch in Nordkorea viele Menschen gibt, die sich über ihr Land Gedanken machen und die auch wissen, dass das was da läuft schlichtweg menschenunwürdig ist. In diesem Buch aber wurden die Menschen so dargestellt, als das sie alles mit sich machen ließen; nicht ein Jota von einem Ansatz zum Widerstand.


    Zitat

    Es ist meiner Meinung nach nicht zwingend Aufgabe eines Romans, Realität abzubilden oder Wissen zu vermitteln, auch wennn sich das im Fall von Nord-Korea mancher Leser wünschen würde.


    Dieser Roman handelt über ein konkret existierendes Land dieser Erde. Insofern erwarte ich schon, dass die Handlung realistisch ist. Ansonsten hätte der Autor hier ein fiktives Land zur Grundlage seines Buches machen sollen. Denn wenn ich allzuviel frei Erfundenes über einen konkreten Staat in meine Geschichte packe, dann bestünde immerhin die Möglichkeit, dass die Leser das Erzählte für bare Münze nehmen, das ihr Blick auf dieses Land vollbepackt ist mit frei erfundenen Dingen.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von Voltaire
    Dieser Roman handelt über ein konkret existierendes Land dieser Erde. Insofern erwarte ich schon, dass die Handlung realistisch ist. Ansonsten hätte der Autor hier ein fiktives Land zur Grundlage seines Buches machen sollen. Denn wenn ich allzuviel frei Erfundenes über einen konkreten Staat in meine Geschichte packe, dann bestünde immerhin die Möglichkeit, dass die Leser das Erzählte für bare Münze nehmen, das ihr Blick auf dieses Land vollbepackt ist mit frei erfundenen Dingen.


    Genau das hat mich ja auch verunsichert. Was ist Fiktion, was Realität - wenigstens eine Erklärung dazu hätte ich mir vom Autor gewünscht. Das Leseexemplar soll eine Beilage enthalten haben, doch weiß ich nicht, ob darin etwas aufgeklärt wurde.

  • Ich bin nicht gut in das Buch reingekommen und habe es vor einem Monat erstmal weggelegt. Der erste Teil war mir zu sehr Abenteuerroman und Jun Do blieb mir fremd. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass ich lese und lese und nicht von der Stelle komme (dies liegt vielleicht daran, dass mein Kindle meinte, das Buch habe 443 Seiten, die englische Print-Ausgabe hat aber tatsächlich fast 600 und so fühlte es sich auch an). Nun hatte ich Zeit, größere Abschnitte des Buches in einem Rutsch zu lesen und dann fing es auch an, mich zu fesseln.


    Der zweite Teil hat mir besser gefallen als der erste. Durch den namenlosen "Interrogator", der in der Ich-Form erzählt und die eingestreuten Propaganda-Lautsprecherdurchsagen kam Leben in den Roman. Die Propaganda-Lautsprecherdurchsagen klagen zwar sehr absurd, der Autor sagt aber im Interview am Ende des Buches, dass er gerade die lustigeren Sätze direkt aus Pjöngyangs Rodong Sinmun Arbeiterpartei-Zeitung geholt hat.


    Insgesamt ist es, glaube ich, schwer zu sagen, was wahr ist und was nicht. Besucher in Nord-Korea bekommen, wie der Autor, die übliche Standard-Tour und Einheimische dürfen nicht mit Ausländern reden. Dann gibt es noch diverse Berichte von Überläufern, die aber auch wieder eine selektive Stichprobe betreffen und bei denen man auch nicht weiss, ob sie die Wahrheit erzählen, oder das, was wir (vermeintlich) hören wollen. Der Autor sagt am Ende des Buches, dass es ihm insbesondere schwer gefallen ist, die Gedanken des Interrogator darzustellen, da die Menschen aus Pjöngjang selten aus dem Land fliehen. Letztendlich habe ich vieles, was ich in anderen Büchern über Nordkorea geleen habe, wiedergefunden, die anderen Autoren haben aber das gleiche Problem.

    Ich fand nicht, dass die Nordkoreaner naiv dargetellt werden. Ich kann mir schon vorstellen, dass man, wenn man in einem total abgeschotteten Land lebt, indem es keinen Internetzugang gibt, keine unabhängigen Zeitungen und im Radio nur bestimmte staatliche Frequenzen freigegeben sind, man Schwierigkeiten hat, sich eine unabhängige Meinung zu bilden. Und ein verzerrtes Bild über Menchen in anderen Ländern entwickelt und über manche Dinge staunt, wie zum Beispiel, dass amerikanische Hunde Dosenfutter bekommen. Und ganz ehrlich, obwohl wir hier einem vermeintlich freien Zugang zu Informationen haben, schaffen wir es auch nicht, uns ganz frei davon zu machen, was uns so aufgetischt wird.


    Ich fand aber auch, dass im Buch ganz gut dargestellt wurde, wie die Leute eben doch Dinge hinterfragen, wenn sie Informationen bekommen, die nicht zu dem passen, was ihnen vom Staat erzählt wird. Zum Beispiel, wenn sie am Strand vorbei fahren, an dem die Renter angeblich ihren Ruhestand genießen und dieser immer leer ist. Und ich fand, dass das Buch gut darstellt, wie die Nordkoreaner auf ganz verschiedene Arten unter widrigsten Dingen zu Überlebenskünstlern werden, und sich in einem System, in dem Verrat am Mitmenschen belohnt wird, Zusammenhalt innerhalb der Familie bewahren. So wie an einer Stelle gesagt wird, dass jeder irgendwann mit seinen Kindern ein ernstes Gespräch hat, in dem dem Kind klargemacht wird, dass nach außen manche Dinge gesagt werden, um zu überleben, und nicht, weil man sie so meint. Dass sie eben nach Außen eine Maske zeigen. Was ja schon vorausetzt, dass sie nicht alles glauben.


    Im Interview sagt der Autor auf die Frage, was an seinem Buch wahr und was erfunden ist, sagt er:


    If literatur is a fiction that tells a deeper truth, I feel, my book is a very accurate portrayal of how the tenets of totalitarianism eat away at the things that make us human: freedom, art, choice, identity, expression, love. And because few things about North Korea are verifiable (beyond satellite images and the testimonies of defectors), this seem the realm in which the imaginative reach of literary fiction is our best tool to discover the human dimension of such an elusive society


    Er führt dann noch konkreter aus, was erfunden und was wahr ist. Letztendlich hat vieles eine wahre Grundlage, ist aber natürlich nicht einer einzigen Person in dieser Fülle passiert, sondern ist sehr verdichtet dargestellt. Letztendlich fand ich aber nicht so wichtig, was wahr ist und was nicht, sondern dass der Autor die menschliche Dimension hinzufügt - also eine Idee, was es mit dem Menschen machen könnte, wenn es so wäre.


    Ich geb mal 4.5 Amazonsterne (= 9 Eulenpunkte ;-))


    Ich habe diese englischsprachige Kindle-Ausgabe gelesen, die ein Interview des Autors mit David Ebershoff (selbst Autor und sein Herausgeber) enthält.


    edit: falsche Ausgabe verlinkt
    .

  • Aufgewachsen im Waisenhaus „Frohe Zukunft“ beginnt Jun Pak Dos Leben in Armut und Hunger. Von der Arbeit in den Tunneln bis zu geplanten Entführungen durch Nordkorea an den Küsten Japans begleitet der Leser den Protagonisten durch das unvergleichliche Leben eines Menschen, für den Begriffe wie ‚Freiheit’ vollkommen fremd sind.


    Adam Johnson gewährt dem Leser einen Einblick in ein fernes Land, von dem man häufig in den Nachrichten und Zeitungen hört, von dem man aber im Grunde genommen kaum etwas weiß. Die Zustände in Nordkorea sind für Menschen wie uns schwer vorstellbar, vielleicht gar nicht begreifbar, immerhin leben wir in einer Zeit, in der Begriffe wie ‚Individualität’ und ‚Freiheit’ besonders groß geschrieben werden. Dass nicht jeder Mensch auf diesem Erdenrund derart grundlegende Menschenrechte genießen darf, dürfte uns trotzdem klar sein. Trotzdem kommt die Vorstellung dessen, was in Nordkorea selbst vor sich geht wahrscheinlich nicht an die Wahrheit heran. Was wir täglich zu hören bekommen sind bestenfalls Bruchstücke dessen, was dieses Land ausmacht.
    Umso gespannter war ich auf dieses Buch, das mit einem Blick genau hinter diese Kulisse lockte. Natürlich ist mir als Leser eines fiktiven Werkes bewusst, dass ich nicht jedes Wort für bare Münze halten kann [wenn nicht einmal Sachbücher sich auf eine Version einer Geschichte einigen können, wieso sollte es dann bei Romanen so sein? Fakt ist: Wahrheit ist ein dehnbarer Begriff], doch für mein Empfinden verschafft Adam Johnson mir als Leser eine gute Vorstellung, wie das Leben in Nordkorea sein könnte und dieses Bild ist ebenso surreal, wie erschreckend.


    Jun Do ist für mich ein interessanter und sympathischer Protagonist, eben weil er durchaus gegen den Strom denkt und schlussendlich gar handelt. Ich denke nicht, dass der Autor die Nordkoreaner als naives Volk ohne eigenes Denken darstellen wollte und in meinen Augen ging das Buch auch nicht in diese Richtung. Ganz im Gegenteil: viele Charaktere lassen uns an Gedanken teilhaben, die deutlich gegen das Regime von Kim Jong Il gehen. Natürlich waren es meistens eben nur das: Gedanken. So fand ich in dieser Beziehung Szenen wie jene, in der der Vater dem Sohn zu verstehen gibt, dass es vielleicht eine Zeit geben wird, in der seine Eltern etwas behaupten würden, was jedoch nicht ihre eigenen Gefühle widerspiegelte, besonders gut gelungen.


    Das Buch selbst lässt sich in zwei Teile gliedern, die sich deutlich voneinander unterscheiden. Der erste ist direkter, schildert Jun Dos frühe Leben, in dem er die Entscheidungen und Aktionen Nordkoreas nicht in Frage stellt. Der zweite Teil zeigt einen deutlichen Wandel, wird in meinen Augen politischer und bietet einen besseren Einblick in das Nordkorea unserer Zeit. Aus diesem Grund hat mir die zweite Hälfte des Buches mehr begeistern können.


    Alles in einem ist „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“ ein beeindruckendes Buch, das zu schockieren und zu überraschen weiß.

    "Sobald ich ein wenig Geld bekomme, kaufe ich Bücher; und wenn noch was übrig bleibt, kaufe ich Essen und Kleidung." - Desiderius Erasmus