Trotz Landlust-Boom und einer Schwemme an Büchern, in denen Großstädter in die Pampa ziehen und sich als Hobby-Landwirte versuchen, wird das Leben in der Stadt immer beliebter. Urbanität steht nicht mehr nur für Anonymität, Mietskasernen und Luftverschmutzung, Und obwohl Stadtökologie schon lange ein anerkanntes wissenschaftliches Fach ist, setzt sich erst so langsam auch in nicht-akademischen Kreisen die Erkenntnis durch, dass „Stadt“ nicht Abwesenheit von Natur bedeutet, sondern dass sie einen ganz eigenen Lebensraum darstellt, wie Hochgebirge, Tiefsee oder Wüste.
In dieses Bild passt ganz hervorragend dieses kleine, um dessen Duktus aufzunehmen, möchte ich es einmal „Büchlein“ nennen.
Es geht also um Berliner Pflanzen, und das ist keineswegs eine langweilige Aufzählung dessen, was dort so wächst, sondern eine ziemlich umfassende Übersicht über Stadtökologie, denn es behandelt ganz grundlegende Fragen: welche Lebensräume hat eine Stadt zu bieten? Welche Eigenschaften müssen Pflanzen besitzen, die diese Lebensräume nutzen können? Woher kommen sie? Und welchen Nutzen können die Menschen daraus ziehen?
Diese Themen, die erst mal sehr abstrakt klingen, bearbeiten Häsler und Wünschmann auf wunderbar kurzweilige Art. Das Schottergleisbett eines aufgegebenen Bahnhofs, was ist das anderes als eine Steinwüste, eine Hammada, in der sich nur ganz besonders angepasste Pflanzen durchsetzen können? Reste der alten Stadtmauer, bieteten sie nicht ähnliche Lebensbedingungen wie eine steile Felswand in den Bergen? Und die Wärmeinsel Berlin, die im Mittel deutlich höhere Temperaturen aufweist als das Umland, sollten hier nicht Pflanzen gedeihen, die sonst nur in milderen Weltregionen vorkommen?
Doch neben diesen kurzweiligen botanischen Betrachtungen, erzählen die Autorinnen auch viel Interessantes über deren Berliner Geschichte. Denn deren Verlauf hatte immer auch Einfluss auf die Flora. Die Industrialisierung etwa schuf nicht nur völlig neue Lebensräume, sondern durch den massiv anwachsenden weltweiten Handel auch ganz neue Einwanderungsmöglichkeiten für fremde Pflanzen, die oft als blinde Passagiere mit landwirtschaftlichen Produkten nach Berlin kamen.
Oder die Nachkriegszeit, als die Berliner Parks teilweise abgeholzt und zwischenzeitlich als landwirtschaftliche Produktionsflächen genutzt wurden. All das hat Spuren im "botanischen" Gesicht Berlins hinterlassen, auch wenn so manche pflanzliche Besonderheiten, beispielsweise Weinberge und Hopfengärten, heute nur noch in Straßennamen präsent sind.
Abgerundet wird das Ganze durch eine Fülle an Informationen zu ausgewählter Pflanzen und ihre Nutzung, die manchmal selbst mir als Botanikerin neu waren. So soll die Wurzel der Nachtkerze wie Spargel gegessen werden können, Malvenblüten dienen als Färbemittel von Lebensmitteln, mit Schöllkraut wurde Wolle gefärbt und viele, viele spannenden Details mehr
Aber nicht nur wegen der Fülle an Informationen ist dieses kleine Buch ein Vergnügen. Tolle Fotos, die selbst unauffällige Pflänzchen wie Spitzwegerich und Weißklee gekonnt vor der Großstadtkulisse in Szene setzen, und ein wunderbar komponierter Text machen dieses Buch zu viel mehr als „noch son blödes Blumenbuch“, wie es meine Tochter nennen würde. Ich würde sogar behaupten, dass dieses Buch ein toller Begleiter ist, wenn man mit Kindern in der Stadt unterwegs ist. Denn auch für die ist es sicherlich spannend, wenn die unauffällige weiße Blume am Bahndamm nicht nur einen Namen, nämlich Seifenkraut, bekommt, sondern sie auch feststellen können, dass man sich mit ihren Wurzeln tatsächlich die Hände einseifen kann.
Uneingeschränkte Empfehlung!