Ronaldo Wrobel - Hannahs Briefe

  • Aufbau Verlag
    06. März 2013 (Erscheinungsdatum)
    328 Seiten
    Gebunden mit Schutzumschlag



    Südamerikanische Erzählfreude


    1936 lebt der polnische Jude Max Kutner bereits seit mehreren Jahren in Brasilien. Es ist eine Zeit tiefgreifender politischer und gesellschaftlicher Umbrüche, und nach den weitreichenden Folgen der Weltwirtschaftskrise werfen nun auch die Gräueltaten der Nationalsozialisten ihre Schatten bis nach Südamerika. Vor allem aber haben die elf kurz aufeinanderfolgenden Militärputsche die Lebensumstände auf dem Kontinent geprägt. Dennoch trifft es Max unvorbereitet, als er dazu aufgefordert wird, für den antikommunistischen Polizeiapparat unter Präsident Vargas Spitzeldienste zu leisten, indem er die Briefe jüdischer Mitbürger übersetzt. Im Laufe dieser Tätigkeit verliebt er sich in eine Frau namens Hannah und entwickelt so etwas wie eine Obsession für die schöne Unbekannte. Als Hannah eines Tages leibhaftig vor ihm steht und sich nicht nur als wohlhabende Edelprostituierte entpuppt, sondern auch sonst sehr viel facettenreicher ist als gedacht…


    Ronaldo Wrobels Debütroman zeichnet den Liebes- und damit Leidensweg eines im Grunde seines Herzens einfachen und anständigen Mannes nach, dessen Gefühle sich sowohl der Realität, als auch den Moralvorstellungen eines gläubigen Juden widersetzen. Obwohl Max Kutner ahnt, dass sich sein Wunsch, das Herz der schönen, sehr umtriebigen und unabhängigen Hannah zu gewinnen, aller Wahrscheinlichkeit nicht erfüllen wird, setzt er alles daran, sich ihr unentbehrlich zu machen. So manches Mal war ich etwas genervt von Max' Hartnäckigkeit und Naivität, andererseits aber auch wieder angenehm berührt von seiner Hilfsbereitschaft und Loyalität. "Hannahs Briefe" ist für mich jedoch eines dieser Bücher, in denen dem Leser die Hauptfiguren nicht in dem Maße ans Herz wachsen, dass er sich gar nicht mehr von ihnen trennen kann. Dafür war mir Max Kutner etwas zu unscheinbar und Hannah ein wenig zu unterkühlt. Auch wenn ich ihre Handlungsweise und die der anderen Personen nicht immer nachvollziehen konnte, empfand ich dennoch Sympathie für sie.


    Die wohltuende Stimmung, die das Buch erzeugt, lässt sich vor allem damit erklären, dass der Autor einfach wunderbar erzählen kann. Seine Figuren sind trotz meines vorangehenden Einwands zum Glück nicht eindimensional. Sie schafften es beim Lesen oftmals, mich mit unerwarteten Geständnissen zu überraschen. Sogar Max hat mehr als ein Geheimnis. Auch die Handlung nimmt immer wieder andere Wendungen und spielt an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten. Längst vergangene Ereignisse und Familiengeschichten, die auf irgendeine Weise mit der Gegenwart verkettet sind, werden neu aufgerollt. Zwischen Europa und Südamerika entstand durch den damaligen jüdischen Flüchtlingsstrom ein unsichtbares Band, dass die Welt viel kleiner erscheinen ließ, als sie in Wahrheit war und ist. Die Probleme der Juden in allen Ländern und zu jeder Zeit treten in Max' Erinnerungen sehr deutlich zutage, werden aber jenseits aller Verbitterung erzählt.


    Obwohl viele der Geschehnisse im Buch etwas mit Prostitution und Frauenhandel in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg zu tun haben, geht der Autor nie ins Detail. Es gibt keine einzige richtige Bettszene. Ronaldo Wrobel beschränkt sich auf das Gefühlsleben seiner Figuren und ihre Beweggründe, alles andere wird umschrieben und angedeutet. Mir war das ganz lieb, weil die Kernaussage des Erzählten auch ohne explizite Darstellungen und Vulgärausdrücke klar hervortritt.


    Zu guter Letzt möchte ich noch etwas zum Erzählstil des Autors, der in Rio de Janeiro lebt und neben seiner Arbeit als Rechtsanwalt für ein jüdisches Magazin schreibt, sagen. Südamerikanische Autoren sind in der Regel dafür bekannt, dass sie gern etwas blumig und ausschweifend erzählen, was per se kein Nachteil ist, mir aber nicht immer gefällt. Ronaldo Wrobel dagegen schreibt zwar mit großer Lust und durchaus farbig, übertreibt es dabei aber nicht. Seine Geschichte ist unterhaltsam, ungewöhnlich, überhaupt nicht kitschig und überrascht besonders im letzten Teil. In zahlreichen klugen und interessanten Wortspielen sowie Reflexionen über das Leben und was die Menschen daraus machen, blitzt immer wieder der ganz spezielle jüdische Humor mit seiner schlitzohrigen, oft makabren, Missstände geschickt entlarvenden, originellen und selbstironischen Art auf. Hier wird mit den Menschen gelacht und nicht über sie. Ein ungewöhnliches und trotz vieler trauriger und nachdenklich stimmender Momente positives Leseerlebnis, das ich gern weiterempfehlen möchte!


    8 Eulenpunkte!


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  • Für geschichtlich Interessierte, die viel Wohlwollen mitbringen


    Brasilien im Jahr 1936: Der jüdische-polnische Immigrant Max Kutner führt seine eigene Schuhmacherwerkstatt in Rio, der "wohlwollende Diktator" Getúlio Vargas das Land. Die Wirtschaft floriert, aber Misstrauen und Skepsis der Obrigkeit wachsen täglich. Deshalb wundert sich Kutner nur wenig, als er eines Abends abgeholt wird, um fortan nachts für die Geheimpolizei auf Jiddisch verfasste Privatbriefe ins Portugiesische zu übersetzen. Im Rahmen dieser Tätigkeit stößt der ansehnliche Mittdreißiger auf die Korrespondenz zwischen einer Guita, die in Argentinien lebt, und ihrer Schwester Hannah, die in Rio de Janeiro wohnt. Er verliebt sich in diese Hannah und versucht, sie ausfindig zu machen - was ihm auch gelingt. Aber die hinreißende, über alle Maßen attraktive Frau ist nicht jene, die er aus den Briefen zu kennen glaubt, sondern eine "Polackin", also eine Prostituierte. Es gibt das Leben, das Hannah ihrer Schwester schildert, überhaupt nicht. Aber auch Max ist nicht der, der er zu sein vorgibt.
    Und überhaupt.


    "Hannahs Briefe" vermittelt - vermutlich - das Zeitgefühl der Epoche, hat etwas Schalkhaftes, jenen tragischen Humor, der selbst in ausweglosen Situationen zum Schmunzeln bringt, und bewegt sich durch viele Themen, ist ein politisches Buch, eines über die jüdische Diaspora, über Armut, Zwänge und Selbstverleugnung, ein Liebesroman, eine Milieustudie und ein Text über die eigene Identität. Aber es ist nichts davon auf wirklich überzeugende Weise, wie ich finde.


    Es beginnt damit, dass Kutners plötzliche Liebe nur behauptet ist; die Briefe werden zwar auszugsweise wiedergegeben, aber, mit Verlaub - diese Auszüge enthalten nichts, das geeignet wäre, mich von den glühenden romantischen Anwandlungen der Hauptfigur zu überzeugen. Erschwert wird die Empathie für den chaplinesk tragikomischen Helden durch den Aufbau der Erzählung und ihren Stil. Wrobel reiht Episoden aneinander, ohne Brücken zu bauen, schreibt auf eher anspruchslose Weise, dabei äußerst deskriptiv, spricht häufiger für seine Figuren, als sie für sich selbst sprechen zu lassen. Das ist möglicherweise dem Versuch geschuldet, bezogen auf die Zeit der Handlung Authentizität erzeugen zu wollen, aber diese anachronistische Erzählweise, die nach einem langgezogenen, sehr harmlosen Witz unter älteren Herren klingt, wendet sich auf seltsame Art gegen Sujet und Figuren. Als Leser stolpert man Max Kutner hinterher, der seiner eigenen Identität und einer aussichtslosen Liebe hinterherstolpert, und wider alle Bedrohungen nie ernsthaft in Gefahr ist. Die vielen Themen und Hintergründe verwandeln sich in eine beschauliche Kulisse, für die das Interesse allmählich nachlässt. Selbst drastisch beunruhigende Szenen und dramatische Geschehnisse versanden im oberflächlichen, fabulierenden Geschwätz, werden vom hölzernen Stil und der abgehackten, gelegentlich verwirrenden Dramaturgie geschliffen. Am Ende tritt der Erzähler selbst auf, um die Fäden zusammenzuführen, setzt also noch eine Abstraktionsebene oben drauf, womit mein Interesse fast völlig erlosch. Ziemlich ratlos hinterließ mich die abschließende Konfrontation des Helden mit dem Rio de Janeiro der Jetztzeit, eine Mischung aus nostalgischer Verklärung und möglicher Fiktionalisierung der Vorgeschichte, wodurch für mich ein Übermaß an zwanghafter Rätselhaftigkeit erreicht war. Dem Text ließen sich fraglos einige Botschaften extrahieren, er zeigt eine Epoche und Lebensweise, über die man hierzulande (zu) wenig weiß, skizziert auch das Brasilien jener Zeit relativ anschaulich, manchmal - leider selten - sogar eindringlich, aber entwickelt zugleich auch eine muffige, alberne Onkelhaftigkeit, die nicht gerade geeignet war, mich für das Buch einzunehmen.


    3 Eulenpunkte