Die Frau mit dem Hund - Birgit Vanderbeke

  • Birgit Vanderbeke
    Die Frau mit dem Hund
    München : Piper, 2012
    148 S., Hardcover, 16,99 €


    Autorin: (aus dem Klappentext)
    Birgit Vanderbeke, geboren 1956 in Dahme, lebt seit vielen Jahren in Südfrankreich. Ihre Bücher »Das Muschelessen« und »Alberta empfängt einen Liebhaber« wurden vielfach preisgekrönt und waren große Kritiker- und Publikumserfolge. Neben der »Gebrauchsanweisung für Südfrankreich« erschien zuletzt der so charmante wie hintersinnige Roman »Das lässt sich ändern«.


    Inhalt:
    Die Autorin führt uns in eine nahe, mögliche Zukunft. Ein nicht näher bezeichneter Krieg, in dem es „irgendwann gegen die eigenen Leute ging“, ist zu Ende. Es herrschen friedliche Zeiten. Verantwortlich dafür ist die „Stiftung“. Viele Menschen sind ihrem Ruf gefolgt, haben sich in Städten registrieren lassen und fristen nun dort ihr Dasein, nachdem die Dörfer eines nach dem anderen „vom Netz genommen“ worden sind. Alles außerhalb der Städte und die aufgegebenen Vororte sind „Detroit“. Dort gibt es all die gefährlichen Dinge, die es in der Stadt nicht mehr gibt: Tiere, Krankheiten, Keime. Gegen sie schützt sich die Stadt durch Zäune.
    Unter der Obhut der „Stiftung“ erhalten die Menschen Wohnung, vorgefertigtes Essen - so viel sie brauchen, nicht mehr und nicht weniger - und Beschäftigung. Sei es in stiftungseigenen Betrieben, wie die Wäscherei, in der Jule Tenbrock arbeitet und die sich um die Wäsche der gesamten Stadt kümmert, oder bei ‚freiwilligen‘ gemeinnützigen Diensten, wie etwa den Aufbauarbeiten zum „Oktoberfest“, für die Timon Abramowski sich gemeldet hat. Für ihre Tätigkeiten erhalten sie Punkte auf ihrer Di-Card gutgeschrieben, die sie für Freizeitvergnügungen ausgeben können. Timon Abramowski lädt sich alte Filme für die Punkte. Jule Tenbrock mag schöne Dinge, und Clemens. Mit den Punkten auf ihrer Di-Card will sie ein Tafelservice erwerben, das ihr der Homeshopping-Kanal anpreist und mit dem sie Clemens bei einem romantischen Diner beeindrucken will.
    Doch dazu kommt Jule nicht. Eines Tages kauert vor ihrer Tür eine Frau. Mit einem Hund. Jule weiß selbst nicht, warum sie es tut, aber sie gewährt der Frau Einlass in ihre Wohnung, lässt sie sogar dort übernachten und gibt ihr zu Essen. Jule ist froh, sie am nächsten Morgen wieder los zu sein.
    Jules Nachbar Timon Abramowski nimmt sich der Frau an. Sie ist schwanger. Seine Mutter hat damals ohne sein Wissen seine Bewerbung an die „Stiftung“ abgeschickt. Die Frau, die sich als Pola Nogueira vorstellt, erinnert ihn an seine Kindheit in einem Dorf, als er noch das kleine Kino besaß und seinen Hund Abraxus, der während einer Epidemie eingeschläfert wurde – wie fast alle Hunde. Er beschließt, sich um sie zu kümmern. Wenigstens, bis das Kind da ist. Auf dem Dachboden richtet er ein Haus im Haus für sie ein, mit Angebotsprospekten aus dem Flur und allem, was sich finden lässt.
    Aber das genügt nicht. Pola braucht Nahrung und Strom. Von ihr geführt, unternehmen sie Ausflüge aufs Land, in die Gegend, die Pola verlassen hat.


    Mein Leseeindruck:
    Birgit Vanderbekes „Die Frau mit dem Hund“ ist das, was man eine Dystopie nennt. Sie zeichnet eine Welt, wie sie sein könnte, wenn die Menschen sich der Bevormundung durch ein Staatsgebilde beugen. In dieser Hinsicht hat mich der Roman an Juli Zehs „Corpus Delicti“ erinnert. Allerdings geht es Birgit Vanderbeke nicht so sehr darum, dem Staat seine Fehlbarkeit vor Augen zu führen, sondern um die Menschen. Die Frau mit dem Hund stellt einen Katalysator dar, der die verschütteten Sehnsüchte von Timon und Jule an die Oberfläche bringt. Durch sie nehmen sie Kontakt auf zu ihrer eigenen Lust auf und kommen davon nicht mehr los.
    Bizarr wirkt die Welt, in der die Geschichte spielt, aber nur zu gut vorstellbar. Nach und nach erfährt man als Leser die konkreten Ausmaße der Bevormundung und Manipulation durch die "Stiftung" und was zu diesem Gesellschaftssystem geführt hat. Wie es die Art der Autorin ist, verpackt sie solche Informationen in lapidaren, aber messerscharfen Nebensätzen. Genau das mag ich so an ihr.
    Die Geschichte bewegt sich zwischen Liebesgeschichte und Gesellschaftskritik. Erzählt werden die Ereignisse abwechselnd von Jule Tenbrock, Timon Abramowski und dazwischen immer wieder von Pola Nogueira, der schwangeren Frau mit dem Hund.
    Die Sprache in Birgit Vanderbekes Romanen hat eine Wandlung erfahren. In ihren ersten Werken (z. B. „Das Muschelessen“ oder „abgehängt“) wabern ihre Sätze um Gegenstände und Begriffe, die sie immer wieder aufnimmt und in neue Zusammenhänge stellt. Dieses Stilmittel benutzt sie nach wie vor, jedoch sehr viel sparsamer. Das vermisse ich.


    Fazit:
    Ich bin hin- und hergerissen. Ich mochte das Buch, es hat mich jedoch nicht vom Hocker gehauen. Das Thema, dessen Birgit Vanderbeke sich annimmt, ist aktuell. Keine Frage. Aber ihre früheren Werke, in denen sie die zwischenmenschlichen Schwingungen sezierte, gefielen mir besser. Auf jeden Fall lohnt die Lektüre.

  • Hört sich sehr interessant. Herzlichen Dank für diese Buchvorstellung. Ich packe das Buch mal auf meine Wunschliste - denn es scheint ja evtl. doch ein klein wenig zu polarisieren. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Danke für die Rezension, Andrea. Ich bin ein großer Fan von Birgit Vanderbeke und werde das Buch auch auf meine Wunschliste setzen. Da ich vor drei Monaten "1984" von Orwell noch mal gelesen habe, kann es spannend sein zu sehen, was die Vanderbeke aus einer ähnlichen Grund-Idee macht.


    Ich bin ja noch nicht so lange dabei, daher weiß ich nicht, was hier usus ist. Und ich möchte dir auch nicht auf die Füße treten, aber eine kleine Kritik muss ich doch mal loswerden: Mich wundert, dass in der Inhaltsangabe schon so viel von der Handlung verraten wird. Das ist mir zu viel und würde mir einen Teil der Vorfreude und des Lesevergnügens nehmen, hätte ich weitergelesen. Zum Glück habe ich es rechtzeitig gemerkt und mich in der Mitte der Inhaltsangabe gerade noch gestoppt. Leichter wäre es, wenn Du die zweite Hälfte der Inhaltsangabe als verdeckten Text (Spoiler) geschrieben hättest, dann könnte sich jede/r selber entscheiden, ob sie/er mehr wissen möchte, da es ja durchaus unterschiedliche Leser-Vorlieben in dieser Hinsicht gibt.


    Interessant ist für mich aber deine Meinung zum Buch - sie hilft mir bei der Einschätzung. Gut zu wissen, dass dieser Roman anders ist als ihre bisherigen. So erspare ich mir falsche Erwartungen und hoffentlich eine Enttäuschung. Danke vielmals.

  • Ich habe mich auch entschlossen, dass Buch zu bestellen.
    Ausschlaggebend war, dass die Rezension keine kritiklose Lobeshymne ist, sondern den Roman realistisch einschätzt.
    Da mich die Handlung ansprcht und mich jetzt doch interessiert, wie mir die Sprache des Romans gefallen wird, gab es kein Zögern mehr! :-)

  • So, jetzt habe ich das mit dem Spoiler angeregt, weiß aber selbst noch gar nicht, wie man so einen Spoiler öffnen kann. Vielleicht verrät es mir eine der alteingesessenen Eulen bei Gelegenheit?


    Das Buch ist inzwischen angekommen und es reizt mich, bald damit anzufangen. Aber vielleicht könnten wir auch eine Mini-Leserunde aufmachen, Lesebär und Herr Palomar? Und alle, die sonst noch Lust haben...

  • Eine Inhaltsangabe möchte ich nicht mehr schreiben, da diese in Andrea Martinis Rezension bereits vorhanden ist und ich auch nicht die Zeit habe, eine neue zu verfassen, um eigene Schwerpunkte zu setzen.


    Meine Meinung:
    Mich hat Die Frau mit dem Hund überzeugt. Ich habe kurze Zeit zuvor das berühmte Buch 1984 von George Orwell zum zweiten Mal gelesen, und war beeindruckt, da es sehr tiefgehend und verstörend wirkt und zudem auch stilistisch sehr gelungen ist.


    Birgit Vanderbekes' Dystopie ist nicht so breit ausgewalzt und auch nicht ganz so verstörend... oder doch? Das hängt ganz davon ab, was die Leserin oder der Leser daraus machen. Mich haben viele Szenen sehr berührt und daher ist ein entsprechend tiefer Eindruck geblieben.
    Ein Freund von mir sagte einmal, das Lesen von (großer) Literatur sei wie ein großes Gespräch. Ein Gespräch der Autoren, das sie anhand ihrer Bücher miteinander führen. Ich mag diese Vorstellung sehr und empfinde Die Frau mit dem Hund als eine Art Antwort auf 1984 aus der heutigen Sicht oder als Anschluss an 1984 oder als Hommage...wie auch immer, ich denke, diese Utopie nimmt Bezug zu 1984, das wird für jede_n Leser_in offensichtlich genug, die/der Die Frau mit dem Hund liest und 1984 kennt und noch gut in Erinnerung hat.
    Stilistisch gesehen ist mMn Vanderbekes "kleine" Dystopie so sehr gelungen, dass ich sie meisterhaft nennen möchte. Vanderbeke schreibt so gekonnt szenisch, die Szenen sind so gut gewählt, dass sie auf langatmige erklärende Passagen komplett verzichten kann und doch die Zusammenhänge sichtbar und verständlich werden. Die Worte der Dialoge sind in aller Kürze sehr gut durchdacht und gesetzt, daran ist sicher lange gefeilt worden. Kein Wort zuviel. Besser geht's nicht.
    Der Spannungsbogen stimmt, ist sehr geschickt aufgebaut, kleine Vorankündigungen hier, Einschübe von traumartigen Erinnerungsfetzen da, alles sehr wohlüberlegt zusammengesetzt, so dass sich nach und nach ein Bild ergibt. Die Figurenzeichnung hat mir ausgesprochen gut gefallen, ich empfand mit den Protagonisten mit oder behielt Abstand und musste lächeln, je nachdem. Doch ging nicht darum, die tiefenpsychologischen Schichten der Figuren, die hier und da durchaus aufblitzen, zu ananlysieren, zu erklären und totzureden. Es sind Bilder, die sprechen, und zu verstehen oder abzulehnen bleibt jedem selbst überlassen.
    Die Kürze des Romanes empfand ich als absolut passend, denn für mich war alles Wichtige gezeigt und gesagt. Ich mag es, wenn Literatur so stark verdichtet und dabei szenisch gestaltet ist, dass ich mir wie in einem Film alles sehr gut vorstellen kann, die Worte der Sprechenden hören kann, mit ihnen den Staub einatme, ihre Stimmungen mitempfinde...und dabei nicht zu genau "angeleitet" werde, wie ich was zu sehen und was ich zu denken habe.
    In diesem schmalen Roman sind genug Leerstellen gelassen, die mit eigenen Gedanken, Assoziationen und Bildern gefüllt werden können. Ich mag Romane, die dem Leser Raum für eigenes Mit- und Gegenargumentieren lassen und jede Bevormundung vermeiden. Und dieses kleine feine Kunstwerk hebt sich, obwohl es ganz klar Bezug auf 1984 nimmt, zugleich deutlich von diesem ab und geht eigene Wege.
    Was Vanderbekes Dystopie von Orwells unterscheidet ist, dass die weibliche Sicht mir hier viel echter und naheliegender erscheint. Man spürt, dass die beiden weiblichen Hauptfiguren wirkliche Frauen sind, wenn auch sehr unterschiedlichen Charakters. Und mir kommen die Entwicklungen der Hauptfiguren, die angedeutet werden, nicht unrealistisch, sondern glaubwürdig und alltagstauglich vor. Einzelheiten möchte ich hier nicht beschreiben, doch für Interessierte gibt es da einige detaillierteren Beobachtungen in der Mini-LR. (Achtung: Spoilergefahr)
    Es wird hier nicht nur eine mögliche aktuelle Zukunftsvariante aus heutiger Sicht, sondern auch die weibliche Perspektive innerhalb dieser utopischen Welt auf geschickte Art in Bildern zum Ausdruck gebracht.


    Fazit: sehr lesenswert


    Von mir bekommt das Buch 10/10 Eulenpunkten, und wenn ich könnte, gäbe ich auch mehr.