Gisa Klönne: Das Lied der Stare nach dem Frost
Verlag: Pendo 2013. 480 Seiten
ISBN-13: 978-3866123243. 19,99€
Verlagstext
Ein Pfarrhaus, in dem sich ein dunkles Familiengeheimnis verbirgt. Eine große, verbotene Liebe, die 1945 tragisch endete. Eine durch die deutsch-deutsche Grenze getrennte Familie. Und die Suche einer Musikerin nach ihren Wurzeln und ihrer ganz eigenen Stimme. Seit dem tragischen Unfalltod ihres Bruders hat Rixa Hinrichs versucht zu vergessen: ihre Trauer, ihre verpatzte Solokarriere und die stumme Melancholie ihrer Mutter, die Rixas Liebe zum Klavierspielen immer bekämpfte. Als Bar-Pianistin tingelt Rixa um die Welt, bis der Tod ihrer Mutter sie zurück nach Deutschland holt. Auch diese ist mit dem Auto verunglückt – fast an derselben Stelle wie Jahre zuvor Rixas Bruder. Die Suche nach einer Erklärung führt Rixa in das alte Pfarrhaus ihrer Großeltern nach Mecklenburg, wo sie als Kind unbeschwerte Ferientage verbrachte. Doch Rixas Erinnerungen erweisen sich als trügerisch: Sie erkennt, dass ein streng gehütetes Geheimnis in ihrer Familie bis heute düstere Schatten wirft – nicht nur auf das Leben ihrer Mutter, sondern auch das ihres Bruders und ihr eigenes. Um sich von seiner Macht zu befreien, taucht sie tief in ihre Familiengeschichte ein …
Inhalt
Ricarda hat zwischen sich und ihre Familie die größtmögliche Strecke gelegt – sie tingelt als Barpianistin durch tropische Urlaubsparadiese. Als die Nachricht vom Tod ihrer Mutter sie erreicht, ist Rixa eher genervt als betroffen. Warum soll sie als Jüngste sich um die nötigen Behördengänge kümmern? Mutter Dorothea Retzlaff verunglückte mit dem Auto - am 12. Todestag ihres jüngsten Sohnes. Ivo starb ebenfalls unter ungeklärten Umständen, auch sein Tod könnte ein Selbstmord gewesen sein. Ricarda findet sich in der typischen Lage eines Angehörigen, der eine plötzliche Todesnachricht erhält. Sie hat ihre Mutter offenbar kaum gekannt und fühlt sich schuldig dafür. Rixa, die Icherzählerin, hat sich im Vergleich zu ihren Brüdern stets zu wenig beachtet gefühlt und schreibt ihr Scheitern als Konzertpianistin u. a. dem ambivalenten Verhalten ihrer Mutter gegenüber der geplanten Karriere der Tochter zu. Mit Rückblenden bis zurück in die Generation von Rixas Großeltern entfaltet Gisa Klönne einen umfangreichen Familienroman, angesiedelt im ländlichen Mecklenburg. Mit unserem heutigen Wissen über das von der roten Armee besetzte Ostdeutschland habe ich gespannt verfolgt, was die Autorin über die Pfarrerfamilie Retzlaff zu erzählen hat. Rixa selbst hatte als kleines Mädchen den Eindruck, ihre Mutter würde ihr – und nur ihr – ständig von früher erzählen. Doch kein Familienmitglied ahnte, warum die vordergründig so gesprächige Mutter an ihrem Todestag mit dem Auto in der Gegend von Güstrow unterwegs war. Zwar erfuhr die Tochter als Kind die Erinnerungen, die ihre Mutter sich von der Seele reden wollte, doch nicht das, was zum Begreifen der Kriegsereignisse nötig gewesen wäre. Des Rätsels Lösung liegt in Geschehnissen der Jahre 1942 bis 1950, die selbst die 1945 als letztes von neun Kindern der Retzlaffs geboren Dorothea nur vom Hörensagen kennen kann.
Trotz der deutschen Teilung verbringt Ricarda ihre Sommerferien gemeinsam mit einem ganzen Schwung Cousins und Cousinen bei den Großeltern im Pfarrhaus. Das Glück war in dieser malerischen Landschaft so selbstverständlich, dass die Kinder es damals beinahe nicht bemerkten. Die Zeit schien bei jedem Besuch stehen zu bleiben und jeder wollte es genau so erleben. Rixas Kindheit endet mit zunehmender Distanz zu ihrer Mutter, der sie unbewusst vorwirft, die künstlerischen Neigungen Ivos stärker gefördert zu haben als ihre eigenen Pläne als Pianistin.
Rückblenden wandern bis zu Rixas Großeltern Elise und Theodor, der noch Kriegsteilnehmer im Ersten Weltkrieg war und seine Alpträume aus den Schützengräben mit in die Ehe bringt. Elise, dem Mädchen aus der Stadt, traut zunächst niemand zu, unter (für die damalige Zeit nicht ungewöhnlichen) einfachen Lebensbedingen einen riesigen Pfarrhaushalt mit wachsender Kinderschar zu organisieren. Aus den wenigen hinterlassenen Familienfotos kann Rixa entnehmen, dass der von ihr geliebte und verehrte Großvater Partei- und SA-Mitglied war. Immer wenn der Name des (fiktiven) Ortes Sellin fällt, in dem die Retzlaffs zwischen 1942 und 1950 lebten, verstummen Rixas Verwandte. Niemand will sich an die dunklen Nachkriegsjahre erinnern. In dieser Familie hat nicht nur Dorothea zwei Gesichter. Das Familiengeheimnis wird zusätzlich kompliziert, weil Dorotheas älteste Schwester offenbar kurz nach dem Krieg umgekommen ist und auch darüber in der Familie eisern geschwiegen wird. Wie in einem Krimi bietet sich Rixa ein ganzes Bündel von Spuren zum Schicksal ihrer Familie an, die sie aufnimmt, indem sie in das Haus ihrer Mutter in Sellin zieht.
Fazit
Gisa Klönne spricht ihre Leserinnen auf unterschiedlichen Ebenen an. Da sind zunächst Frauen aus drei Generationen, der Mutter-Tochter-Konflikt und Rixas schwieriges Verhältnis zu ihren Brüdern. Die Beschreibung eines großen, durch die deutsche Teilung getrennten, Familienclans kommt gerade zur richtigen Zeit, in der sich viele noch an die heikle deutsch-deutsche Situation erinnern. Mir haben es die Landschaftsbeschreibungen sehr angetan und auch wie Rixa ihre Kindheitserinnerungen in die Gegenwart integriert. Die interessanteste Figur war für mich Dorothea, stellvertretend für eine ganze Generation von Frauen, die ohne Ansprüche auf persönliches Glück vordergründig schnoddrig ihre Erlebnisse bei Kriegsende wegstecken. Hauptsache man hat überlebt. Über den Nationalsozialismus wird allenfalls indirekt gesprochen. Ein weiterer Zugang zu Klönnes Roman sind die von Dorothea so deutlich vertretene protestantische Arbeitsethik und das durch das Elternhaus der deutschen Bundeskanzlerin wieder in den Focus gelangte protestantische Pfarrhaus als Sozialisationsort. Ein beeindruckender Familienroman, den ich allen empfehle, die sich für den Handlungsort Mecklenburg und den zeitgeschichtlichen Rahmen interessieren.
9 von 10 Punkten
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