Eva Menasse: Quasikristalle

  • Muster, die keine sind


    In den Achtzigern entdeckte der Chemiker Daniel Shechtmann Legierungen, die auf molekularer Ebene geordnete, aber aperiodische Strukturen aufwiesen, vereinfacht gesagt also aus der mikroskopischen Nähe Kristallen ähnelten, aus der nur geringfügig größeren Distanz aber nicht mehr. Diese strukturelle Eigenart ist die Metapher, die als Klammer Eva Menasses eigenwilligen, wirklich großartig geschriebenen Roman umschließt. Die Muster, die wir zu erkennen glauben, verlieren sich mit dem größer werdenden Abstand. Es sind nur Quasimuster; die Distanz ist nötig, um den Trugschluss zu erkennen - den wir jedoch oft nicht wahrhaben wollen.


    Das Buch erzählt die Lebensgeschichte der gebürtigen Wienerin Roxane Molin, genannt Xane. Die Eigenart von lebensumspannenden Erzählungen besteht häufig darin, sich zu sehr auf die Hauptfiguren einzulassen; die subjektive Perspektive wird zum Zwang, nicht selten gar zum verklärenden Kitt, der etwas zusammenhält, dessen Zusammenhalt bereits verlorengeht, wenn man einen Schritt beiseite, zurück, gar nach vorn macht.
    Deshalb wird "Quasikristalle" nur an einer Stelle - im mittleren Kapitel, Nummer 7 von 13 - aus der Sicht von Roxane Molin geschildert, alle anderen sind aus der Perspektive jeweils einer anderen Figur erzählt, wobei es sich etwa um ihren voyeuristischen, etwas zwanghaften, reaktionären Vermieter in Wien handelt, oder die Schwester einer Jugendfreundin, die Ärztin einer gynäkologischen Klinik, einen prominenten Menschenrechtler, der selbst Opfer von Verfolgungen war, nun an einem Prozess als Beobachter teilnimmt, und fälschlich hinter der empathischen Begegnung eine Romanze vermutet. Roxane Molin wird Mutter, später Großmutter, gründet eine erfolgreiche, avantgardistische Werbeagentur, geistert aber vor allem durch die Biografien der Nebenfiguren, die sie kurz berührt oder intensiver beeinflusst, manchmal auch verliert - die Folgen der Begegnungen bleiben oft spekulativ, setzen sich aber im Kopf des Lesers fest. Der Roman hat einen starken politischen Kontext, thematisiert den Holocaust, aber auch die amüsierte Xenophobie der Berliner, auf die Xane als ewiger Gast trifft. Über allem stehen die schlichten, aber wesentlichen Fragen: Wer bin ich, wer will ich sein, wie werde ich wahrgenommen. Die ungewöhnliche Perspektive schärft den Blick hierfür, presst den Leser aus der gewohnten Wahrnehmung, deren trügerische Verlässlichkeit auf diese Weise entlarvt wird. Die Monokausalitäten, mit denen nicht nur die Literatur oft hantiert, sind ebenso fiktiv wie die Bilder, die wir uns von anderen Menschen machen - selbst jenen, die unser Leben intensiv teilen.


    Das literarische Experiment verliert sich am Ende etwas, wie sich auch unsere Lebensgeschichten verlieren, wenn die Vergangenheit größer wird als die Zukunft noch sein kann. Auch hierauf muss man sich einlassen, um dieses beeindruckende, spektakuläre Buch genießen zu können.


    "Quasikristalle" verblüfft durch den stetigen Sichtenwechsel, der niemals misslingt, ganz im Gegenteil, beeindruckt durch sprachliche Brillanz, den unaufdringlichen Wissensreichtum, seine, ja, Weisheit. Ein ganz und gar großartiger Roman.

  • Hört sich sehr interessant an. Herzlichen Dank für diese Buchvorstellung. Und wieder ein Neuzugang für meine Wunschliste...... :-)

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Das Buch ist m.E. nicht ohne Grund ein kleiner Bestseller. Wer jedoch das klassische Schema Exposition - Konflikt - Auflösung erwartet, sei vor diesem Roman gewarnt. Das Ende ist weitgehend offen.


    Am Rande. Eva Menasse ist die Halbschwester von Robert Menasse, dessen "Don Juan de la Mancha oder Die Erziehung der Lust" ich kürzlich gelesen habe, aber so erschütternd fand, dass ich mich nicht einmal dazu durchringen konnte, einen Verriss zu verfassen. Die Halbschwester schreibt deutlich besser.

  • Vielen, vielen Dank für die Rezension eines der wenigen Bücher, auf die ich mich in diesem Lesefrühling wirklich gefreut habe. Die Presse war bereits vorab voll des Lobes und ich deswegen mehr als misstrauisch.
    Ein erstes Anlesen hat mich gestern übrigens vollständig davon überzeugt, dass ich das Buch mitnehmen musste.

  • Autorin


    Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, begann als Journalistin beim österreichischen Nachrichtenmagazin Profil. Sie wurde Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und begleitete den Prozess um den Holocaust-Leugner David Irving in London. Nach einem Aufenthalt in Prag arbeitete sie als Kulturkorrespondentin in Wien. Sie lebt seit 2003 als Publizistin und freie Schriftstellerin in Berlin. Ihr Debütroman »Vienna« sowie ihr Erzählungsband »Lässliche Todsünden« waren bei Kritik und Lesern ein großer Erfolg. (Kiepenheuer & Witsch)


    Klappentext (Auszug)


    Was wissen wir wirklich über uns selbst? Und was vom anderen? In dreizehn Kapiteln zerlegt Eva Menasse die Biografie einer Frau in ihre unterschiedlichen Aspekte. Aus diesem Mosaik tritt auf magische Weise ein kühner Roman hervor, der wie nebenbei die Fragen nach Wahrnehmung und Wahrheit stellt.


    • Gebundene Ausgabe: 432 Seiten
    • Verlag: Kiepenheuer&Witsch; Auflage: 7 (14. Februar 2013)
    • Sprache: Deutsch
    • ISBN-10: 346204513X
    • ISBN-13: 978-3462045130


    Meine Meinung

    Nach den vielen Rezensionen, die in ihrer Einschätzung teilweise sehr voneinander abwichen, war ich natürlich sehr gespannt, wie der Lesegenuss der „Quasikristalle“ für mich ausfallen würde.


    In vielen anderen Romanen, in denen eine Lebensgeschichte aus verschieden Perspektiven oder in unterschiedlichen Zeiten geschildert wird, hangelt der Leser sich an einer Art Faden durch das Leben des Protagonisten. Dieser Faden dient sozusagen als Gerüst oder verbindendes Element; durch ihn werden die einzelnen Komponenten in Bezug zueinander gestellt. Auf diesen Faden verzichtet Eva Menasse.


    In 13 Kapiteln lernen wir die Protagonistin Xane in verschiedenen Stadien ihres Lebens kennen, jeweils geschildert aus dem Blickwinkel einer anderen Person, in deren Leben Xane eine mehr oder weniger bedeutende Rolle spielt. Sie reiht die Schilderungen wahllos aneinander, so scheint es zumindest. Ich habe mich öfters gefragt, was mir die Autorin damit sagen möchte, was diese Personen so wichtig macht, welche Relevanz sie für die Vita der Hauptperson haben und wie sich die einzelnen Elemente zu etwas Ganzem verbinden sollen. Eva Menasse beschreibt unterschiedlichste Charaktere - manche neutral, manche sehr tiefgehend und präzise: die beste Freundin in den letzten, lässig-trägen Ferientagen vor dem Wechsel in die Oberstufe; den Reiseführer einer Auschwitz-Exkursion; den frömmelnden Vermieter mit dem Hang, seine Nase eine Spur zu tief in die Angelegenheiten anderer Leute stecken zu müssen und unter dessen vordergründiger Freundlichkeit Abgründe eigener Un-Verantwortung brodeln.
    Wir lernen den Alltag einer Reproduktionsmedizinerin kennen (dieses Kapitel war mir eindeutig zu lang und Leser ohne ansatzweise medizinische Vorkenntnisse sollten für ein paar fachbezogene und meiner Meinung nach überflüssige Abkürzungen ein Nachschlagwerk bereit legen) und dürfen einen Blick in das Innenleben eines vom Bürgerkrieg traumatisierten Mannes werfen, der sich in sich selbst zurückgezogen hat und der für Roxane seinen Schutzpanzer einen Spalt breit öffnen kann.


    Genau in der Mitte des Buches, im siebenten Kapitel, kommt Xane selbst zu Wort. Und genau hier, wo man das erste Mal vielleicht direkteren Zugang zur „Person Xane“ erlangt, verändert sich auch die Erzählstruktur. Ab diesem und den folgenden Kapiteln lassen sich Verbindungen erkennen und Rückschlüsse ziehen.


    Treffenderweise ist auch genau dieser Umstand eine Besonderheit der Quasikristalle: Schneidet man einen Quasikristall in der Mitte durch, kann man das einzigartige Muster, das ihn ausmacht, erkennen (für Interessierte: das „Penrose-Parkett“).


    Und so führt uns Eva Menasse weiter durch Xanes Leben: Xane als Professorengattin, als Mutter eines ehelichen Sohnes und seiner zwei pupertären Halbschwestern, als Tochter eines langsam in den Nebel der Demenz verschwindenden Vaters, als Geschäftsführerin einer unkonventionellen Agentur, als langjährige Freundin, als Gegenstand einer zufälligen Beobachtung.


    Mit den letzten Kapiteln, die in der Zukunft liegen, fügen sich die einzelnen Lebensgeschichten zu einem Ganzen. Nicht zu einem harmonischen Ganzen, aber zu einem stimmigen. Es bleibt viel Platz für eigene Interpretationen; die Lebensabschnitte sind nicht vollständig ausgeleuchtet, sondern geben eher eine Ahnung von dem, wie es gewesen sein könnte, wie es sein kann, wie es vielleicht werden könnte.
    Man bekommt wieder einen Eindruck, wie subjektiv die Wahrnehmung im Allgemeinen und von Personen im Besonderen ist, wie unterschiedlich die Wertigkeiten ausfallen, wie sehr alles mit allem verbunden sein kann – und wie schnell sich das gemachte Bild oder die gestellte Erwartung wieder in eine völlig andere Richtung bewegen kann.


    Mein Fazit: wer sich etwas Zeit beim Lesen lassen kann und keine bis ins Detail ausgeschmückte Lebensgeschichte mit Happy-End erwartet – für den sind die „Quasikristalle“ absolut zu empfehlen.

    :lesend Die Sonnenposition - Marion Poschmann


    "Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen; Vorboten dessen, was wir zu leisten imstande sein werden." (Goethe)

  • Die Idee ist verdammt gut: Ist die Struktur des Daseins verborgen, vielleicht sogar unergründlich? Das, was auf dem ersten Blick klar und deutlich erscheint, verschwimmt bei näherem Blick aus verschiedenen Perspektiven in ein widersprüchliches Chaos: Harmonie in Disharmonie und umgekehrt.

    Die Umsetzung mit auktorialen Erzählern hat mich nicht überzeugt. 13 verschiedene Ich-Erzähler hätten mir besser gefallen. Dadurch wäre mir die Ferne des allwissenden Erzählens näher gekommen und die Figuren hätten authentischere Konturen gewonnen. Manche Kapitel waren ausgezeichnet, andere wirkten wie zusammengeflickt.

    Was fehlt? Vielleicht der große Knall, das Extravagante. Aber genau das hätte vielleicht von der Hauptsache abgelenkt. So plätschert alles recht gemächlich vor sich hin. So wie das Leben, das einem langem Fluss gleicht. Wer tief hineinschaut, der erkennt viel mehr!


    Geniale Idee + überdurchschnittliche Umsetzung = 8 Punkte.

  • Hallo, beisswenger.


    Zitat

    Die Umsetzung mit auktorialen Erzählern hat mich nicht überzeugt. 13 verschiedene Ich-Erzähler hätten mir besser gefallen.


    Auktorial? Ich empfand die Perspektive(n) eher als personal.


    Mit wechselnden Ich-Erzählern wäre die starke Erzählstimme verlorengegangen, da sie in diesem Fall nicht mehr glaubhaft gewesen wäre. Und ich lese gerade einen Roman mit fünf wechselnden - allerdings personalen - Erzählern ("Sommer mit Emma" von Borger & Straub), was mich, weil die Autorinnen - nicht immer erfolgreich - versucht haben, sich sprachlich den jeweiligen Figuren anzupassen, aufs äußerste nervt, obwohl die Geschichte an und für sich - bislang - nicht schlecht ist. Man hat das Gefühl, eigentlich eine Anthologie zu lesen, obwohl man einen Roman lesen wollte.

  • Hallo Tom,


    obwohl vom Autor bestimmt eher so angedacht, ist mir der Erzähler zu allwissend für ein rein personales Erzählen. So empfand ich das, was kaum allgemeingültig sein kann, denn gerade bei weiblichen Erzählern habe ich oft den Eindruck: Interpretiert nicht so viel, verdammt noch mal, und schreibt nicht so viel über das Denken und Fühlen der Figur, sondern zeigt es anhand von Gesten, Blicken, direkter Rede, spontanen Reaktionen etc.


    Ich stimme dir zu, dass das Experiment von 13 Ich-Erzählern ganz rasch in die Hose gehen kann. Wobei ich davon überzeugt bin, dass ein kreativer Erzähler das irgendwie ganz gut hinbekommt.

  • Hallo beisswenger,


    aber Frauen interpretieren, denken und fühlen nun mal so viel...
    Wenn du das aus dem Buch heraus gelesen hast, scheint mir die Umsetzung doch recht gelungen.
    :wave

    :lesend Die Sonnenposition - Marion Poschmann


    "Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen; Vorboten dessen, was wir zu leisten imstande sein werden." (Goethe)

  • Da ist was dran, incomperta. Auf der einen Seite gefällt es mir, diesen tiefsinnigen Reflexionen zu folgen, auf der anderen Seite liebe ich Bilder, die mich als Leser zu diesen tiefsinnigen Gedanken hinführen.


    Und damit komme ich zum entscheidenden Punkt: Bei einem Ich-Erzähler wirken diese Reflexionen authentisch, schließlich zeigt er sich, wie er denkt und fühlt, mit all seinen Ressentiments - bei einem Er-Erzähler wirken Urteile oftmals etwas aufgesetzt und im schlimmsten Fall unfertig und von oben herab.