Christoph Hein - Der fremde Freund

  • Kurzbeschreibung
    "Ein Buch, so still, daß man die Schreie hört, die da verschluckt werden."
    Die Novelle "Der fremde Freund" erschien aus Gründen des Titelschutzes in Westdeutschland unter dem Titel "Drachenblut". Sie wurden in mehr als 400 000 Exemplaren verkauft und über 20 Sprachen übersetzt.Christoph Hein, geboren 1944 in Heinzendorf (Schlesien), aufgewachsen in Döbeln (Sachsen). Als Pfarrerssohn konnte er in der DDR nicht das Abitur ablegen; deshalb Besuch eines Gymnasiums in West-Berlin. Nach dem Mauerbau Tätigkeiten in verschiedenen Berufen, Studium, Arbeit am Theater.
    Christoph Hein hat Romane, Novellen, Erzählungen, Theaterstücke, Essays und ein Kinderbuch veröffentlicht, darunter Der fremde Freund / Drachenblut, Horns Ende, Der Tangospieler, Das Napoleonspiel und Von allem Anfang an. Für sein Werk ist er mit zahlreichen renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet worden. .


    Klappentext
    »Meine undurchlässige Haut ist eine feste Burg«, sagt die Ärztin Claudia von sich. Kühl und leidenschaftslos hat sie ihr Leben kalkuliert, es ist so nüchtern wie ihr Einzimmer-Appartement. Die Begegnung mit einem spontanen, risikobereiten Mann und dessen plötzlicher Tod irritieren sie nur kurz. Der Panzer sitzt perfekt. Ihr fehlt nichts. Es geht ihr gut. - »So wortreich ist liebesarmes Leben selten definiert worden. Mangel - beschrieben als Verlangen. Leere - zugestopft mit Wörtern der Fülle. Lebensverfehlung - vorgeführt als Daseinsglück«, urteilte Rolf Michaells über diese Novelle, die Christoph Hein zu einem international bekannten Autor werden ließ.


    meine meinung:


    eigentlich wollte ich das buch lesen, weil ich im deutschlandfunk mal hörte, wie ein kritiker meinte, das selten ein schriftsteller so grandios wie christoph hein in dieser geschichte das innenleben einer frau dargestellt habe. da wurde ich neugierig!


    und nun - nach der lektüre - kann ich nur sagen, ich bin schwer beeindruckt. im grunde genommen passiert in dieser geschichte nicht viel. beschrieben wird das leben einer frau, die zwar beruflich ganz erfolgreich ist, aber sich ansonsten abschottet von anderen menschen. es gibt zwar bekanntschaften, aber die sind oberflächlich, eigentlich nur dazu da, ein mindestmaß an gesellschftlichem leben aufrecht zu erhalten.
    geschrieben ist das alles in einem reportstil, der mir sonst nicht so behagt, aber hier die teilnahmslosigkeit der ich-erzählerin am eigenen leben betont. sehr heftig, ihre gedankengänge, ihre befremdung über ihre eigenen eltern, über freunde, die gefühle von ihr erwarten, zu denen sie nicht mehr fähig ist. ihre kälte und arroganz, aber auch ihre angst vor zu viel nähe wird brutal beschrieben. man erfährt auch ansatzweise in rückblendungen, wie es so weit kommen konnte.


    diese geschichte hat nicht viel handlung, sondern besteht aus alltagsbeschreibungen und die gedanken der protagonistin dazu. wenn man sich darauf einläßt, kann es schon faszinierend sein. vielleicht, weil es einem erschreckt, wenn man bei sich selbst ähnliche züge entdeckt, oder weil man auch über eine gedankenwelt staunen kann, zu der man so im normalfall keinen zugang hätte.


    mein fazit: sehr empfehlenswert!


    bo :-)

    Es gibt nur einen Weg das herauszufinden...

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  • DAS WAR JAHRELANG MEIN ABSOLUTES LIEBLINGSBUCH!!!!!!!


    Hein beschreibt dabei nicht nur mit atemberaubendem Einfühlungsvermögen die Befindlichkeit einer alleinstehenden Ärztin, sondern obendrein ein Porträt der Gesellschaft. Obwohl der Roman 1982 oder 1983 in der DDR erschienen ist, ist nicht auszumachen, in welcher Gesellschaft er spielt. Phantastisch! Ihr müsst ihn alle lesen!!!


    Stimmts, Bogart?

  • es gibt sicher ein paar details aus ihrem alltagsleben, die auf die unzulänglichkeiten im sozialistischen alltag der 80er hinweisen. aber davon abgesehen ist es sicher egal , wo und wann das spielt. außerdem glaube ich, daß die tendenz dazu, sich immer mehr abzuschotten, immer größer wird.


    bo

  • Beim Stöbern im Bücherschrank stieß ich auf das Büchlein „Der fremde Freund“. Ich habe es mit 17 oder 18 schon einmal gelesen, vor einer halben Ewigkeit. Damals verstand ich das Buch nicht. Es ließ mich bedrückt, ratlos und irgendwie gelangweilt zurück. Jetzt habe ich es noch einmal damit versucht. Verstanden habe ich es vielleicht immer noch nicht, aber ich habe es gerne gelesen, und ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken.


    Die Ich-Erzählerin Claudia, eine Ärztin, vierzig, geschieden, allein lebend, berichtet in einem betont sachlichen Stil über ihr Leben – ein Leben, in dem nichts oder fast nichts passiert. Sie hat ihren Freund verloren, einen Mann, mit dem sie eine lose Beziehung ohne Verpflichtungen unterhielt. Claudia trauert nicht. Henry war in ihr Leben gekommen und ist gegangen. Das Übliche. Genau das, was zu erwarten war. Das Buch ist eine Rückblende auf das Jahr vor Henrys Tod.


    Claudia lebt allein in einer Ein-Zimmer-Wohnung in einem Hochhaus in Berlin. Ihre Arbeit als Ärztin lastet sie aus. Die Ein-Zimmer-Wohnung ist klein, laut, anonym. Aber sie ist praktisch und macht wenig Aufwand. Zu ihren Arbeitskollegen hat Claudia wenig Kontakt. Freunde hat sie nicht, nur einige Bekannte, die sie mehr aus Pflichtbewusstsein als aus dem Bedürfnis nach Kontakt oder Nähe heraus besucht. Durch einen Zufall lernt sie Henry, einen Nachbarn kennen, der von seiner Frau getrennt lebt. Sie schlafen miteinander, verbringen gemeinsame Wochenenden und bewegen sich mit ihren Gesprächen an der Oberfläche. Auf die gegenseitige Frage „Wie geht es dir?“ gibt es nur eine stillschweigend vereinbarte Antwort: „Gut.“


    Angestrengt unterhält Claudia eine Beziehung zu ihren Eltern, die eigentlich schon längst erloschen ist – „bis dass der Tod uns endlich scheidet“. Sie besucht sie an Weihnachten, man hat sich nichts zu sagen.


    Im letzten Drittel des Buches begibt sich Claudia aus einer Laune heraus auf eine Reise in ihre Vergangenheit. Man erfährt, dass sie als Kind und junges Mädchen durchaus starke Gefühle hatte. Doch die Umstände, eine enttäuschte Freundschaft, erzwungene Sprachlosigkeit und Unverstandensein vermittelten ihr Erfahrungen, die sie zu dem werden ließen, was sie heute ist. Eine Frau, die das Leben kennt. Sie beobachtet scharf und erkennt kleinste Nuancen im Verhalten ihrer Mitmenschen, die sie durchaus interpretieren kann, aber nicht will. Und so bleibt auch Henry ein fremder Freund.


    Zitat: „Ich war überzeugt, dass ich niemals meine Distanz zu Menschen aufgeben durfte, um nicht hintergangen zu werden, um mich nicht selbst zu hintergehen. Im Hintergrund das Wissen um meine stete Bereitschaft, mich aufzugeben, Sehnsucht nach der Infantilität. Der schwere, süßliche Wunsch, geborgen zu sein. … Ich war gegen mich gewappnet.“


    In manchen Situationen sind die Sehnsucht und die nicht eingestandene Suche nach Liebe zu erkennen. Oder zu erahnen. Zum Beispiel in der Szene mit dem Mädchen an der See, das ihr einen Apfel schenkt und das sie im nächsten Jahr nicht mehr wieder findet. Aber Claudia kann nicht aus ihrer Haut heraus.


    Eine deprimierende, zeitlose Geschichte, während der man sich als Leser beinahe selbst einsam fühlt. Aber irgendwie auch faszinierend, obwohl man niemals die Illusion hat, dass sich für Claudia etwas ändert. Nichts für graue, verregnete Novembertage, aber absolut lesenswert!


    Hier und hier geht's zu Interpretationen im Netz.

  • Der fremde Freund / Drachenblut – Christoph Hein


    Meine Meinung:
    Mit nur 175 Seiten läuft Der fremde Freund (Westtitel: Drachenblut) unter der Gattungsbezeichnung Novelle. Das Buch bietet aber trotzdem so viel wie ein Roman, da sich Christoph Hein auf das wesentliche beschränkt. Dank seines sparsamen Stils funktioniert die Novelle so gut. Die Form ist richtig gewählt.
    Die Ärztin Claudia arbeitet in einem Krankenhaus in Ost-Berlin zu Zeiten der DDR. Sie schottet sich aufgrund der Lebensbedingungen innerlich so ab, dass sie unverwundbar wird. Vergleichbar mit Siegfried aus der Sage, der in Drachenblut badete.
    Damit einher geht natürlich auch eine inner Verkümmerung, auf andere wirkt Claudia kühl. Scheinbar bleibt sie auch unberührt vom Tod ihres Geliebten. Mit der Beerdigung Henrys beginnt die Novelle. Gedanklich geht Claudia zurück zu dem Beginn der Affäre, denn Henry ist verheiratet. Auch Kindheitserinnerungen, z.B. an die Schulzeit werden beschrieben. Auffällig ist eine Passage, als sich Claudia mit ihrer besten Freundin zerstreitet. Ein erster Verlust, der Claudia prägt.
    Es gibt zahlreiche beeindruckende Abschnitte, und ein paar langweilige, Hein beschreibt die Realität des Alltags.


    Christoph Hein bringt es auf den Punkt. Mit einer inneren Abschottung wird man unangreifbar, aber es folgt auch Isolation. Das ist etwas, was ein System Menschen antun kann.


    Diese Novelle von Christoph Hein beeindruckt, zu Recht gründete sie Heins Ruhm mit. Aber die Wirkung ist nicht zu unterschätzen. Man fühlt sich beim Lesen nicht immer wohl, zu bitter ist der Unterton. Christoph Heins ungekünstelte Prosa und entfaltet eine Beklemmung. Ein gelungener und wichtiger Text!

  • Zitat

    Original von Ida
    Eine deprimierende, zeitlose Geschichte, während der man sich als Leser beinahe selbst einsam fühlt. Aber irgendwie auch faszinierend, obwohl man niemals die Illusion hat, dass sich für Claudia etwas ändert. Nichts für graue, verregnete Novembertage, aber absolut lesenswert!


    :write
    Das kann ich wirklich nur so unterschreiben, eine sehr treffende Zusammenfassung fuer diese ungewoehnliche Novelle. Bis auf das Wort "beinahe", das ich hier fuer mich durchgestrichen habe. Denn das war der Grund weshalb ich das Buch letztlich nicht zu Ende lesen konnte.


    Christoph Hein hat seine Protagonistin so einfuehlend beschrieben, dass die Stimmung leicht auf den Leser ueberspringen kann. Und das ist nicht immer einfach.


    Fuer mich ist Claudia eine lebende Tote - und die Einsicht, dass sich nichts an diesem "Leben" aendern wird, ist hochgradig deprimierend. Ein Leben ohne Gefuehle ist fuer mich kein Leben mehr. Unser Leben hat immer Dualitaet: kein Leben ohne Tod, keine Liebe ohne Verletzbarkeit. Wer sich wie Claudia unverwundbar macht, bleibt dem Leben fremd.

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich