Klappentext:
Ken lebt in Detroit mit einem prügelnden Vater, einer Mutter, die sich vor der Gewalt in eine Traumwelt flüchtet, und einem kleinkriminellen Bruder. In einem alten Straßenbahndepot, in das Ken flieht, wenn er es zu Hause nicht mehr aushält, kommt es eines Tages zu einer wundersamen Begegnung mit der schönsten jungen Frau, die Ken je gesehen hat. Alles, was von dem flüchtigen Besuch bleibt, ist eine Akelei-Blüte, die auch Jahre später nicht verwelkt ist, als Ken die junge Frau wiedersieht – die dieses Mal gekommen ist, um ihn auf das unvorstellbarste Abenteuer seines Lebens mitzunehmen.
Meine Meinung:
"Stell dir vor, diese Realität ist nur eine neben vielen anderen. Das Universum besteht aus tausend Spiegeln, in den unmöglichsten Winkeln zueinander verdreht. Diese Welt könnte der Traum eines Drachens sein, der auf dem Grund eines Ozeans schlummert. Und vielleicht ist das, was du in deinen Träumen siehst, wiederum die Reflexion der Drachen-Sphäre auf einer Pfütze."
Der Klappentext gibt prinzipiell schon wieder, wie das Buch beginnt - aber zugleich bereitet er nicht im Mindesten darauf vor, was den Leser zwischen den beiden wunderschön mit scharlachroten Blütenmotiven bedruckten Leinendeckeln erwartet. Kurzbeschreibung und Covermotiv lassen auf sommerlich-leichte Jugend-Romantasy schließen, und als Fan der City of Angels Serie war ich schon gespannt, wie sich das mit den anderen Büchern der Autorin verträgt. Die Antwort: Dieses Buch ist vollständig anders als das, was ich erwartet habe. Es ist prallste, farbenprächtigste Fantasy mit zum Teil jugendlichen Protagonisten, aber sehr erwachsenen Problemen. Romantik spielt eine eher zurückhaltende Rolle, obwohl unzweifelhaft vorhanden. Dafür geht es in Sachen Spannung, Action und hirnverdrehenden Rätseln umso stärker zur Sache. Purpurdämmern liest sich nicht mal eben so weg - aber belohnt dafür mit umso intensiveren Bildern.
Aber nun zur Handlung:
Der siebzehnjährige Ken, der es mit einem prügelnden Vater, einem kleinkriminellen Bruder und einer leicht verrückten Mutter nicht gerade leicht hat, zieht sich nach der Schule am liebsten in ein Geheimversteck in einer leerstehenden Bahnhofsruine zurück. Eines Tages taucht dort Marielle auf, eine Prinzessin aus einer märchenhaften fremden Welt, die vor einer Zwangsehe davonläuft - und deren Anblick Kens Herz sofort höher schlagen lässt. Ihr folgt dichtauf der Krieger-Magier Santino, ein Mann mit fragwürdiger Vergangenheit, der als ihr Lehrer und Beschützer fungiert und sie zurückbringen soll. Eher zufällig kreuzt er Kens Weg und rettet ihn vor einer Handvoll Schläger. Ohne es zunächst zu bemerken, treten sie beide gemeinsam durch ein Tor in die unheimliche Sphäre des Dämmer-Detroit, in die sich Marielle geflüchtet hat.
Dämmer-Detroit ist, ebenso wie Marielles Heimatwelt, von der Zerstörung durch ein mysteriöses Unheil bedroht. Riesige Risse klaffen am Himmel. Alptraumhafte Spalthunde und andere Monstren strömen aus den grün wabernden Klüften. Der Weg zurück ist zunächst versperrt. Ken lernt, dass seine Realität nur eine unter vielen ist.
Von hier an nimmt eine vielfach verschlungene und faszinierende Geschichte ihren Lauf, in der Ken ein unerwartetes Talent in sich entdeckt und sehr persönlichen Geheimnissen auf die Spur kommt, während er zugleich um Marielles Zuneigung ringt und sich in einer Umgebung bewähren muss, in der hinter jeder Ecke eine Bedrohung lauert.
'Purpurdämmern' ist waschechte Fantasy, die der bedrückenden Realität von Kens Heimat, einem heruntergekommen und hoffnungslosen Detroit, ein Kaleidoskop faszinierender Märchen-Schauplätze entgegensetzt. Die reichen von glitzernden Alabasterpalästen und Blumenfeldern in Marielles Heimatwelt über schaurige Spukwälder bis hin zu einer endzeitlichen Vision von Dämmer-Detroit, bei der man sich in die Welt von BladeRunner versetzt fühlt. Alles scheint möglich in diesem Spektrum magischer Sphären. Hat man sich einmal darauf eingelassen, versinkt man in Breitbildkino, einer dichten Mischung aus Action, Humor, einer Prise Romantik, der einen oder anderen überraschenden Wende und sogar ein wenig durchschimmernder Epik. Neben den beiden Jugendlichen Ken und Marielle ist es vor allem Santino, der fasziniert, ein zeitloser Kriegermagier mit einer verlorenen Liebe, einer düsteren Vergangenheit, einer mitunter zu amüsanter Verzweiflung treibenden Aufsichtspflicht für zwei Teenager und jeder Menge alten und neuen Feinden.
Das Ende schließt die Geschichte befriedigend ab, lässt aber Fragen offen, die nach einer Fortsetzung rufen.
Als kleine Nörgelei ist anzumerken, dass das Buch Zeit braucht, bevor es seinen Sog entfaltet. Als Leser wird man zu Beginn mitunter überfahren von dem Konzept der fremdartigen Welten und der teils komplizierten, keltisch inspirierten Namen, bevor sich die Verwirrung auflöst. Die Erzählstränge von Ken und Marielle beginnen zuerst getrennt, Ken in dem normalen, modernen Detroit, Marielle dagegen am Königshof einer märchenhaften Zauberwelt. Das bringt man nicht sofort zusammen, auch wenn bereits der Prolog die Verbindung andeutet. Doch die Geduld wird belohnt. Sobald die Wege der Protagonisten sich kreuzen, ergibt alles Sinn.
Ich fühlte mich überwiegend verzaubert, gebannt und in wundersame Welten entführt, aber zugleich auch herausgefordert, denn die Geschichte lädt zum Spekulieren ein und schlägt mitunter unerwartete Haken. Es gibt allwissende Blumen, eine bunte, naseweise, sprechende Katze, einen Buchstabensammler, der ein mächtiger Magier ist, zähnefletschende Monstrositäten und hirnverdrehende Gespinstgeister, die unter Brücken und auf Freeways ihr Unwesen treiben. Es mangelt nicht an Verzweiflung, Leidenschaft, an Lebensfreude, Intrigen und Verrat.
'Purpurdämmern' ist die andere Seite hinter dem magischen Spiegel.
Man muss hindurchtreten, sich darauf einlassen, und wird überreichlich belohnt - mit außergewöhnlich märchenhafter und farbenprächtiger Fantasy, die mit tollen Ideen, einer komplexen Geschichte und facettenreichen Charakteren aufwartet.
Ein Fest für alle, die Phantastik lieben.