Die letzte Frist – Valentin Rasputin

  • Über das Buch (der Rückseite des Einbandes entnommen):
    Der Roman handelt vom Sterben einer 80-jährigen Bäuerin, die sich in Erwartung ihrer Lieblingstochter zu einer „letzten Frist“ ihres erlöschenden Lebens aufrafft. Um sie herum haben sich ihre übrigen, über das ganze Land verstreut lebenden Kinder versammelt. In ihren Gesprächen und Konflikten, in den sich überlagernden und ergänzenden Erinnerungen spiegeln sich ein Stück russischer Geschichte, der Kontrast zwischen der alten Bauerntradition und den modernen Städten, aber auch die Einsamkeit des Einzelnen, seine Selbstsucht, seine Angst und sein Mut angesichts des Todes.


    Über den Autor:
    Valentin Rasputin, geboren 1937 im ostsibirischen Ustj-Uda bei Irkutsk, gilt als einer der wichtigsten sowjetischen Schriftsteller der 1970er Jahre und als einer der drei bedeutendsten Dorfprosaiker (neben Vladimir Solouchin und Vasilij Belov) jener Zeit. Rasputin war politisch aktiv und engagiert sich im Umweltschutz.


    Die Übersetzung des Romans besorgte Alexander Kaempfe.


    Zum Buch vorweg:
    „Die letzte Frist“ ist, wie alle Bücher Rasputins, nicht mehr im Buchhandel zu erwerben, antiquarisch bzw. gebraucht ist das Angebot allerdings noch gut.
    Gelesen habe ich die 1985 im Fischer-Verlag herausgebrachte Taschenbuchausgabe (204 Seiten).
    Verlinkt ist die Reclam-Ausgabe, ob Herr Kaempfe auch für diese Übersetzung verantwortlich ist, konnte ich nicht herausfinden.



    Meine Meinung:
    Anna, im Buch fast durchgängig als „die Alte“, aber auch als „ die Greisin“ tituliert, ist krank, seit drei Jahren schon und nun scheint es ans Sterben zu gehen. Der jüngste ihrer Söhne, bei dem sie lebt, ruft seine verbliebenen vier Geschwister an das Sterbebett der Mutter. 13 Kinder hat sie geboren, fünf blieben ihr und am Leben, „wie das Wiesel ins Hühnerhaus, so war der Tod immer wieder in die Familie eingedrungen; und später benutzte er den Krieg“ (Seite 5). Die Kinder kommen, erwachsen sind sie alle, haben eigene Familien, führen andere Leben wie von der Mutter gedacht; alle kommen sie also, bis auf eine, Tatjana, die Lieblingstochter. Auf sie wartet die Mutter, wartet mit dem Sterben. Das ist die Ausgangslage für das Buch eines begnadeten Erzählers, der es mir zu einem der schönsten Bücher werden ließ, das zu lesen mir vergönnt war.


    Beinahe wie ein Kammerspiel kam mir dieser kleine, große Roman vor, ruhig sein Erzählfluss, obwohl es an Dramen reichlich zu berichten gibt. Er hat mich überaus gefesselt, seine Spannung bezieht er – für mich – nicht aus der Frage, ob Tatjana noch rechtzeitig kommen wird, ob sie es schaffen wird, die Mutter lebendig vorzufinden. Letztlich blieb für mich auch der Umstand, dass es so lange dauerte mit der Anreise der Tochter, irrelevant, man denkt sich so einiges, man denkt auch an Erzählungen von Puschkin und von Cechov.


    Was das Buch für mich so überaus lesens- und bewundernswert macht, sind die Schilderungen über die ungeheuren Veränderungen, die die Menschen in der Sowjetunion, zumal der ländlichen Gebiete, zu durchleben und durchleiden hatten: Die Abwanderungen der jüngeren Bevölkerung in die Städte, die Situationen der Kolchosen, der Landwirtschaft generell, damit einhergehend auch und natürlich der Umwelt, der Äcker und Felder, der Flüsse, der Wälder. Die Konflikte zwischen den Generationen („Jetzt läuft eine andere Zeit, nicht mehr unsere“ sagt Anna zu ihrer Freundin – Seite 191 -; eine andere Zeit meint auch Abkehr von bäuerlichen Traditionen, bäuerlicher Kultur, bäuerlichem Wissen) und Geschlechtern („In unserem Land ist ein Weib, außer dass sie ein Weib ist, außerdem noch eine Frau“ - Seite 133 -; Frauen als eigenständige, gleichberechtigte Wesen wahrzunehmen als eine der großen Aufgaben, nicht nur für die Männer) werden nicht ausgespart, ebenso wenig die Probleme, die der überaus reichliche Alkoholgenuss („die käufliche Krankheit“ - Seite 67 – nennt Michail, der jüngste Sohn, die Trinkerei) heraufbeschwört.


    Was da so konfliktbeladen klingt, erzählt Rasputin mit einem teilweise so wunderschönen poetischen Ton, dass ich seine Geschichte vom Sterbenwollen und -sollen der Anna und vom Warten der Kinder darauf mehr genossen denn nur gelesen habe – trotz aller Konflikte, trotz allen Ernstes und all der großen Fragen, die er unterzubringen weiß, dies aber mit einer bemerkenswerten Selbstverständlichkeit, weil diese Fragen zum Leben hören und nicht nur der Autor, sondern auch seine Hauptprotagonistin dies (noch) weiß. Der Autor wirkt als Chronist einer vergehenden, untergehenden Welt, seine Anna als eine Vertreterin jener Menschen porträtierend, die wissen um die Wichtigkeit des Erinnerns auch der eigenen Kultur, der eigenen Traditionen, um die Weitergabe des Wissens ihrer ganz eigenen, kleinen Welt, die nur fortbestehen kann, wenn dieses Wissen nicht verloren geht, wenn der Fluss des Erinnerns nicht unterbrochen wird. Dass dazu auch gehört, den Tod nicht als etwas dem Menschen völlig Wesensfremdes anzusehen, sondern als zum Leben dazugehörend zu akzeptieren, über ihn nachzudenken und ihn wie Anna zu kennen „wie sich selbst“ (Seite 167), ist nicht nur zu Zeiten des Romans ein unbequem Wissen.


    Bei all dem Gesagten wirkt der Roman keineswegs traurig oder düster, sondern kraftvoll, gelassen und sehr eindrucksvoll. Er habe, so attestiert dem Autor eine Bemerkung im Buch, "den großen epischen Atem der besten russischen Erzähler“ - dem ist nichts hinzuzufügen.

  • Zitat

    Original von Lipperin
    (...) man denkt auch an Erzählungen von Puschkin und von Cechov.
    (...)
    Was das Buch für mich so überaus lesens- und bewundernswert macht, sind die Schilderungen über die ungeheuren Veränderungen, die die Menschen in der Sowjetunion, zumal der ländlichen Gebiete, zu durchleben und durchleiden hatten: (...)

    (Hervorhebung von mir)


    Danke für die Rezi. Das Buch sollte ich im Auge behalten bzw. mir besorgen. Es gibt ja in der Tat verschiedene Ausgaben, die praktisch alle zu günstigen Preisen zu bekommen sind. :-)

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")