Zum Buch verrät Amazon:
Die in diesem Band abgebildeten Fotografien waren jahrzehntelang verschollen in den Tiefen der Lubjanka, des Hauptquartiers der Geheimpolizei mitten in Moskau. Es sind Polizeifotos aus Vernehmungsakten von Menschen, die während Stalins Schreckensherrschaft von Ende der 1920er Jahre bis zu seinem Tod 1953 aufgrund falscher Anklagen verhaftet, verurteilt und erschossen wurden.
Diese ganz normalen Bürger stehen für Millionen Unschuldiger, die in das Räderwerk von Stalins Tötungsmaschinerie gerieten. Ingenieure, Künstler, Fabrikarbeiter, Lehrer, Hausfrauen, Helden der Sowjetunion, sogar Agenten der Geheimpolizei selbst: Niemand war vor der Verfolgung sicher. Jedes Foto wird ergänzt durch allgemeine Lebensdaten der betreffenden Person und die gegen sie erhobene Anklage. Da diese Aufnahmen im Gegensatz zu westlichen Polizeifotos in natürlichem Licht mit einer längeren Belichtungszeit entstanden, geben sie eine Vielfalt von Gesichtsausdrücken wieder: Furcht, Wut, Trotz, Verzweiflung oder einfach nur grenzenlose Traurigkeit. Manche lächeln sogar in die Kamera. Welch grauenhafte Ironie, dass der tödliche Blick der Geheimpolizei solch sensible Porträts hervorbringen konnte. David Kings Einleitung schildert die wichtigsten Ereignisse, die zur Tyrannei durch die Geheimpolizei mit ihren furchtbaren Folgen für das sowjetische Volk führten. Die Fotografien stammen aus seinem umfangreichen Archiv, das die Geschichte der Sowjetunion dokumentiert.
Der Autor:
David King, 1943 in London geboren, ist Fotohistoriker. Zum Thema Sowjetunion brachte er laut Klappentext viele Bücher heraus; in Deutschland erschienen „Roter Stern über Russland“ und „Russische revolutionäre Plakate“ wie das vorgestellte Buch im Mehring-Verlag.
Die Übersetzung besorgte Christine Maria Nemeth.
Meine Meinung:
Großformatikes Buch mit insgesamt 192 Seiten. Viele Fotos in unterschiedlicher Größe, zum Teil ganzseitig.
Sehr informative, nicht – was ich angesichts der Thematik auch nicht erwartet habe – ganz wertungsfreie Einleitung nicht nur zu Terror und Tyrannei Stalins und der OGPU, später umbenannt in NKWD.
Der Einleitung ist auch zu entnehmen, dass die gezeigten Porträts der Verurteilten und dann Ermordeten nur passbildgroß sind; im Buch treten sie mir fast seitengroß gegenüber, kann ich genauer in die Gesichter blicken, die sehr viel verraten. Eine Seite hat man in etwa so dargestellt, wie die Fotos von ihrer Größe her sein mögen, und ehrlich gesagt bin ich dankbar dafür, denn sie zeigt 20 Porträts von „Stalins Waisenkindern“ (Seite 12, 13), Kinder von Verurteilten, nur noch eine Nummer, unter der ihre Akte geführt wurde, mit dem ihr Foto bezeichnet ist. King weist darauf hin, dass ihr Name oft geändert wurde; das ist ein Fakt, den man auch von anderen Regimen kennt, es ist wohl leider eines von den Dingen, die geschehen sind, geschehen und geschehen werden. Die Fotos dieser Kinder sind erbarmungswürdig, in ihnen kann man schon sehen, was man auf einigen Porträtaufnahmen der Erwachsenen deutlicher erkennt: Angst, Schmerz, nicht nur seelischen, Unverständnis; teilnahmslos blickt keines der Kinder, wie auch angesichts einer Situation, die sie völlig überfordern dürfte?
Stalin übrigens darf man auch „bewundern“ in diesem Band, Polizeifotos der zaristischen Geheimpolizei von 1910, als Sargträger im Jahre 1937 und andere mehr, Jagoda ist zu sehen und Jeschow, auch Mitarbeiter des NKWD, unter anderem ein Erschießungskommando. Und dann: Die Opfer, von Ossip Mandelstam und Isaak Babel über Lew Georgiewitsch Ljubarski, Pak-Chi-Khak, Alice Wenglosch bis Nina Stepanowna Frinowskaja oder Sergej MichailowitschTretjakow. Namen über Namen, bekannte und unbekannte, russische, chinesische, deutsche, viele Nationalitäten vereinen sich unter den Opfern. Nur der Kopf der bedauernswerten Menschen ist zu sehen, Ganzkörperfotos von ihnen scheint es nicht gegeben zu haben. Gesichter also, denen so vieles abzulesen ist: Verzweiflung, Verstörung, Schmerz, der Versuch, doch so etwas wie Haltung zu bewahren, auch vereinzelt Spott oder Hohn, Angst ist zu sehen und das Nichtverstehenkönnen. Man sieht ihnen an, dass sie leiden musten, körperlich wie seelisch, geprägt in den Minen auch die verlorenen Träume, die verlorene Hoffnung, das Wissen um das, was ihnen bevorsteht. Man blickt in die Gesichter und weiß, nicht sehr viel später beendet man ihr Leben gewaltsam. Die Brutalität der Aufnahmen besteht in ihrer schonungslosen Ehrlichkeit, kein Verstecken ist möglich, ungeschützt sind Mimik und Seelenlage dem Betrachter preisgegeben. Nur wenigen gelingt es, mit der selbst gewählten Maske dem Blick der Kamera zu begegnen.
Mit besonderer Neugier, das sei eingestanden, habe ich die Fotos der beiden Mitarbeiter von NKWD und KGB betrachtet, die in das Mahlwerk des stalinistischen Terrors geraten waren; was mag in ihnen vorgegangen sein, die doch um die Vorgänge wussten, die auch wussten, was ihnen geschehen würde, nicht nur Verurteilung, sondern vorher die Folter. Auch diese Gesichter sind sprechend, eine gewisse ängstliche Erwartung und so etwas wie ein Nichtwahrhabenwollen, vielleicht auch Trotz meine ich erkannt zu haben.
Die Fotos sind nicht gestochen scharf, wie man das von heutigen Fotos kennt, trotzdem erkennt man die Spuren der Schläge, die das Gesicht trafen, erkennt man auch hin und wieder ein Glitzern in den Augen, das von Tränen herrühren mag.
Es ist mir nicht gelungen, diesen Band ohne Emotionen zu betrachten. Zu dem, was ich nun oft und in vielfältiger Weise dargebracht gelesen habe, habe ich die Vorstellung der realen Menschen, auch wenn die Personen, die in Büchern und Berichten vorkommen, selbstverständlich nicht – bis auf wenige Fälle – mit den porträtierten Verurteilten übereinstimmen. Mandelstam natürlich (und dankbar nehme ich zur Kenntnis, dass nicht auch hier behauptet wird, er sei im Gulag gestorben, wie immer wieder zu lesen ist, der Ort seines Todes wird genau benannt), Meyerhold, Eideman sind einige der Namen, denen man immer wieder begegnet.
Dieses Buch empfinde ich als eine Mahnung, ich bin dankbar, dass die Fotos und die dazugehörigen Akten den Archiven des KGB entnommen werden konnten, dass sich auch in Deutschland ein Verlag fand, der es herausbrachte. Die Gesichter der Menschen, die Unmenschliches erdulden mussten, nur zu betrachten und dann zu vergessen, scheint mir unmöglich zu sein.
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