Schreibwettbewerb März - Thema: "Begegnung"

  • Thema März 2005:


    "Begegnung"



    Vom 01. März bis 21. März 2005 könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb März 2005 zu o.g. Thema per Email an webmistress@buechereule.de oder über das Kontakt-Formular (s.o. im Forum) zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym eingestellt.


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    Wir wünschen Euch viel Spaß und viel Erfolg!

  • von Sisia


    Wenn Hass auf Hass trifft dann gibt es Krieg.
    Der Starke gewinnt und feiert den Sieg.
    Gerechtigkeit, Frieden, das sind hier Fremde
    So siegt nur der Tod über Kriege am Ende.


    Wenn Liebe auf Liebe trifft bedeutet das Lust
    Was bleibt ist am Ende die Sehnsucht und Frust
    Und wenn sie im Krieg nicht gestorben sind
    War die Frucht ihrer Liebe ein schreiendes Kind.


    Wenn Liebe auf Hass trifft so nennt man das das Leben.
    Denn eines kann es nicht ohne das andere geben.
    Im Paradis und auch sonstwo klingt es wohl hart
    Doch dies sind Begegnungen der grundsätzlichen Art.

  • von Lolita


    Der Motor knatterte. Benjamins Herz klopfte. Es waren seine ersten Ferien alleine bei Opa am Meer. Er war vor 5 Wochen 10 Jahre alt geworden und seine Eltern überraschten ihn damit, dass er die Sommerferien in Telski bei seinem Großvater verbringen dürfte. Tage vor Beginn der Ferien hatte er bereits nicht anderes mehr im Kopf und erzählte in jeder freien Minute davon, wie er aufs Meer führe, wie sein Opa und er fischen würden und dass er sogar ein eigenes Zimmer hätte. Zuhause musste er es sich mit seinem 2 Jahre alten Brüderchen Hailey teilen. Er war sozusagen außer Rand und Band. Seine Lehrerin, Ms. Fletchstone hörte Benjamin aufmerksam zu und schmunzelte über die rege Phantasie des Jungen, freute sich jedoch sehr für ihn. Seine Eltern waren nicht sehr wohlhabend und dennoch führten sie ein angenehmes und vor allem glückliches Leben. Die Familie wohnte nicht weit von der Schule und Benjamins Mum holte ihren Sprössling täglich von der Schule ab. Ben, der heimlich für Ms. Fletchstone schwärmte, war es peinlich, wenn seine Lehrerin dies sah, aber auf der anderen Seite wäre er ziemlich entrüstet gewesen, hätte seine Mum es einmal nicht getan.
    Nun also war er schon 2 Tage in Telski. Sein Opa Murdock, von allen Murd genannt, hatte ihn am Bahnhof abholen lassen, da dessen Jeep wie immer in der Werkstatt war. Das war eigentlich nichts Neues. Also hatte er Roy, den Nachbarn, gebeten seinen Enkel abzuholen.
    Als der Junge ankam, hatte Großvater Murd das Haus auf Vordermann gebracht und sogar Abendessen gemacht.
    "Hallo mein kleiner Seefahrer", hatte Murd den Kleinen empfangen.
    Benjamin freute sich wie blöde und sprang seinem Großvater in die Arme.
    "Nicht so stürmisch Benjamin, ich bin ja keine 30 mehr!"
    "Wann fahren wir raus?" war Bens erste Frage, nachdem sie sich an den Tisch gesetzt hatten.
    Der Großvater lachte. Er war ganz sein Vater. Als seine Tochter den Mann, den sie später heiraten sollte, zum ersten Mal mit nach Hause nahm, war es fast dieselbe Frage gewesen. Nur kam diese sehr viel schüchterner und zurückhaltender. Damals, in diesem Augenblick gab er seiner Tochter seinen Segen.
    Murd war in dem Fischerdorf Telski aufgewachsen. Sein Vater war Fischer, sein Großvater war Fischer und genauso war er Fischer geworden. Er hatte es sich nicht ausgesucht, sondern war in den Beruf des Fischers hineingeboren. Es gab Tage, da verfluchte er die See, die ihm so viel genommen hatte und ebenso gab es Tage, da liebte er sie über alles, die See, die ihm so viel geschenkt hatte.
    Nun also standen sie an Murds Fischkutter. Benjamin, mit hochrotem Kopf, kletterte über die Brüstung und wankte zu seinem Großvater, der bereits den Motor gestartet hatte. Murd reichte seinem Enkel eine Schwimmweste. Er wusste um die Sorge seiner Tochter und wollte sie keinesfalls enttäuschen. Der alte Mann machte seine Netze klar, die er am Vorabend mit Ben gesäubert und geflickt hatte. Er hatte keine sehr großen Netze, da zum einen sein Kutter dafür nicht ausgelegt war und zum anderen, weil er nicht auf große Fänge aus war. Schon lange hatte er es aufgegeben, seinen Fisch auf dem Markt zu verkaufen. Er war einfach zu alt dazu. Er fuhr eigentlich nur noch der Freude wegen hinaus aufs Meer. Er lebte von seinen Ersparnissen, die zwar nicht üppig, dennoch genug für sich alleine waren. Er und seine Frau hatten immer ein genügsames Leben geführt. Sie hatten schließlich alles, was sie brauchten.
    Murd hatte immer gehofft, dass seine Tochter und Brian nach Telski kommen würden und sein Schwiegersohn in seine Fußstapfen treten würde, doch er sah ein, dass er dies nicht von der kleinen Familie verlangen konnte, schließlich hatten sie unten in der Stadt alles, was sie über die Runden kommen ließen. Brain hatte eine gute Anstellung als Elektriker und seine Tochter war morgens in einer Wäscherei tätig. Benjamin war in dieser Zeit in der Schule und Hailey in der Krabbelgruppe. Sie hatten so schon sehr wenig und hier oben in Telski wäre das Leben noch schwerer für sie.
    Jetzt knatterte der Kutter aus dem Hafen und als das Land nicht mehr in Sicht war, da verschlug es Benjamin die Sprache. Etwas ängstlich war ihm schon zu mute. Doch die Freude überwog diese Angst schnell.
    Murdock erinnerte sich daran, wie ihn sein Großvater damals das erste Mal mit aufs Meer genommen hatte. Er war natürlich wesentlich jünger gewesen. Es war ein sonniger Tag wie heute und auch ihm kribbelte der ganze Körper. Er erinnerte sich das genau an den Geruch, die Farbe und den Klang des Meeres. Es war ein überwältigendes Gefühl gewesen und es war etwas Besonderes. Murds Großvater fuhr mit ihm zum "Melody-Felsen". Und genau an dieser Stelle war es geschehen.
    Nun war Murd sechzig Jahre älter und nahm mit seinem Enkel Kurs auf den "Melody-Felsen".
    Benjamin saß auf der Bank und starrte ins Wasser, in die Ferne, wieder ins Wasser, sah Wellen davon reiten und neue auftauchen und dann, ja dann sah er es. Ein riesiger Felsen ragte aus dem Meer. Einfach so. Weit und breit nur Wasser und mittendrin ein riesiger Brocken aus Stein, der immer größer wurde, je näher sie ihm kamen.
    Murd stellte den Motor aus und befahl Benjamin aufmerksam das Wasser in Felsennähe zu beobachten. So schaukelte das kleine Boot auf dem ruhigen Meer und Murdock erinnerte sich an die alten Tage. Und dann geschah es. Es war wie ein Donnergrollen - nur sachter. Das Meer am "Melody-Felsen" brodelte. Ben zitterte. Ein schwarzes Etwas schob sich an die Wasseroberfläche gefolgt von einer Reihe anderer schwarzer Flächen. Und dann war da wieder dieser tiefe schwere Klang, immer und immer wieder, und die Flächen nahmen langsam Form an, während sie langsam durch das Wasser glitten. Murd sah in die glasigen Augen seines Enkels, wohl wissend, dass er begriffen hatte und legte den Arm um ihn.
    "Ich wusste die Burschen lassen uns nicht im Stich".

  • von Doc Hollywood


    Ihre Augen sind grün! Vorgestern habe ich ihr endlich direkt ins Gesicht gesehen. Eigentlich wollte ich lächeln, aber es kam dabei nur so ein schiefes eigenartiges Zusammenpressen der Lippen heraus. Ich hasse das. Das sieht bei mir total idiotisch aus, wenn die Mundwinkel meine Backen zur Seite schieben. Ihr ist das anscheinend auch aufgefallen. Sie hat gleich zur Seite geschaut und ganz interessiert die grauen Häuserzeilen beobachtet, die während der Fahrt zur nächsten Haltestelle an uns vorbeigerauscht sind. Dann ist sie ausgestiegen, sie steigt immer zwei Haltestellen vor mir aus.


    Das erste Mal ist sie mir letztes Jahr um Weihnachten herum aufgefallen. Sie hatte sich an der Ampel gegenüber der Haltestelleninsel sehr herzlich von einer Freundin verabschiedet und ist dann bei Rot über die Straße gelaufen. Die Straßenbahn bog gerade vorne bei dem Gemüsehändler um die Ecke und scheuchte mit energischem Gebimmel einen Autofahrer von den Gleisen. Wir hatten damals nicht viel Winter und statt das endlich einmal Schnee fiel, schien mir die Abendsonne noch ziemlich warm ins Gesicht. Sie setzte sich weiter vorne auf einen Einzelsitz und durchsuchte dabei ihre Einkaufstüten, bis sie schließlich ein Buch zum Vorschein brachte in dem sie anfing herumzublättern. Ich weiß heute zwar nicht mehr genau, was sie damals anhatte, aber das Buch hatte einen Umschlag mit viel orange und grün darauf. Vielleicht hätte ich sie damals auch schnell wieder vergessen, wenn ich sie am nächsten Tag nicht mit genau diesem Buch in der Straßenbahn wiedergesehen hätte. Von da an sah ich sie fast jeden Tag in der Straßenbahn.


    Manchmal ist sie mit ihrer Freundin unterwegs. Sie unterhalten sich dann ununterbrochen. Es fasziniert mich, wie lange Frauen ohne Pause reden können. Ich könnte das nicht. Ich wüsste auch gar nicht, über was ich reden sollte. Anfangs habe ich noch versucht den Gesprächen zu folgen, wenn ich mich nahe genug setzen konnte. Inzwischen höre ich nicht mehr hin, sondern versuche nur verstohlen ein paar Blicke zu riskieren. Jedes Mal, wenn ihr Kopf sich in meine Richtung bewegt schaue ich dann schnell weg und versuche unbeteiligt auszusehen. Ziemlich albern, ich weiß.


    Ahmet, mein bester Freund, würde mir Beine machen, daß ich sie doch endlich einmal ansprechen sollte. Ahmet hätte sie mit Sicherheit schon längst angesprochen. Ahmet war Türke und hatte irgendwie eine ganz lockere Art im Umgang mit Frauen. Es war seltsam. Er kam in einen Raum und die Frauenherzen lagen ihm anscheinend zu Füßen. Wenn ich in einen Raum komme, liegt mir nur Blei in den Füßen. Mag sein, daß es an meiner schusseligen Art liegt oder daran, daß ich nicht so gut mit anderen Menschen kann, aber für Frauen scheine ich grundsätzlich unsichtbar zu sein.


    Ahmet und ich haben uns durch unser gemeinsames Interesse an Schach kennengelernt. Ich gehe zweimal in der Woche ins Gemeindehaus zum Schachabend. Irgendwann wollte ich mir einen dieser modernen Schachcomputer kaufen, nur um nicht mehr zum Schachabend gehen zu müssen. Eines Abends begegnete ich allerdings Ahmet. Unser Pfarrer hatte seinen Arm um ihn gelegt, ihn kurz vorgestellt und dann einfach zu mir gesetzt. Sein Deutsch war so schlecht, daß wir uns die ersten Wochen nur schweigend gegenüber saßen und unsere Figuren bewegten. An einem dieser Abende machte mir dann Ahmet mit einem recht schelmischen Grinsen den Vorschlag, daß er mir Schach beibringen würde, wenn ich ihm mit unserer Sprache weiterhelfe. So wurden wir Freunde.


    Ahmet war der erste Mensch, dem ich nach und nach Dinge erzählte, die mir zuvor selbst niemals so klar in den Sinn kamen, bevor ich sie vor ihm und vor allem vor mir selbst tatsächlich aussprach. Er war ein guter Zuhörer und lernte in den wenigen Jahren mit mir unsere Sprache besser, als in den vierzig Jahren zuvor, die er in Deutschland gearbeitet hatte. Ahmet starb letztes Jahr. Beim Silvester-Tanzabend im Gemeindehaus ging es ihm plötzlich nicht mehr gut. Er wurde ganz blass und sehr unruhig. Wir brachten ihn rüber in die Pfarrei und legten ihn bis zum Eintreffen des Notarztes auf das große Ledersofa im Pfarrbüro. Ich nahm seine Hand in meine Hände und versuchte ihm und mir Mut zu machen. Er lächelte mich nur kurz an und machte danach nie wieder seine Augen auf.


    Heute Nachmittag habe ich sie endlich angesprochen. Nicht in der Straßenbahn - nein, auf dem Friedhof ist es passiert. Ich versuche jeden Sonntag auf den Friedhof zu gehen und Ahmet zu besuchen und war diesmal sehr gedankenversunken, als ich durch den großen steinernen Torbogen das weitläufige Gelände betrat. Ich bemerkte fast zu spät, daß es sie war, die drüben beim Gießkannenverleih auf eine der großen grünen Kannen wartete, auf die mit schwarzer Farbe eine Zahl gemalt war. Vielleicht bewirkte es die Nähe von Ahmet, aber endlich nahm ich meinen Mut zusammen und ging auf sie zu. Mein Herz klopfte dabei merklich schneller, als ich es normalerweise gewohnt war. Ich dachte an Ahmets Schicksal und hatte schon Bedenken, ob ich am Ende heute gleich hier vor Ort bleiben würde. Doch mein klopfendes Herz hat anscheinend noch etwas vor in diesem Leben und ließ mich ungeschoren davon kommen. Ich wartete also bis sie die Leihgebühr bezahlt hatte und sprach sie dann an: "Sie spielen nicht zufällig Schach?"


    So unsichtbar war ich anscheinend doch nicht, denn sie erkannte mich sofort als den Straßenbahngrinser wieder. Wir verbrachten einen sehr unterhaltsamen Nachmittag auf dem Friedhof und besuchten dabei zuerst das Grab ihres Mannes und dann das von Ahmet. Sie spielt zwar kein Schach, dafür aber Backgammon. Ich habe ihr erzählt, daß ich ein recht guter Backgammonspieler bin.. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, dann spielt unser Pfarrer gerne Backgammon. Ich hoffe, daß er bald Zeit hat mir alles beizubringen, was man über dieses Spiel wissen sollte. Sie wartet morgen früh an der Haltestelle auf mich. Ahmet würde das gefallen.

  • von Marlowe


    Groß, schlank, lächelnde Augen, nachtbedeckte Haut und eine sanfte Stimme. So war Karsa, der Tuareg und Student aus Afrika, der mir eines Tages über den Weg lief. Wir freundeten uns in Sekunden an, es kam uns überhaupt nicht in den Sinn, dieses Gefühl füreinander in Frage zu stellen.
    Eines Tages backte er Tarfatkekse für mich, ein Gebäck aus zerkleinerten Zwiebeln, vermischt mit zerstoßenen Datteln. Sie schmeckten einfach köstlich und noch während wir unsere Finger ableckten fragte er mich: „Habe ich dir schon vom Alten im Berg erzählt?“
    Ich schüttelte fingerleckend meinen Kopf.
    „Die Legenden erzählen, der Alte im Berg wäre für alle Menschen offen, aber ich weiß nicht ob das wirklich stimmt. Ich kenne keinen einzigen Weißen, der ihn schon einmal getroffen hat. Aber viele aus meinem Volk waren schon bei ihm.“
    Ich lauschte seiner angenehmen Stimme und er erzählte weiter.
    „Niemand weiß, wen er zu sich einlädt und wieso er gerade diesen oder jenen Menschen ausgesucht hat. Aber alle folgen seiner Einladung, denn er kann Wünsche erfüllen.“
    „Aha“ dachte ich, „ein Märchen seiner Heimat“ und überlegte, ob ich nicht doch schon einmal etwas Ähnliches gehört hatte.
    „Er ruft seine Gäste immer nur nachts, während des Schlafes und redet dann mit ihnen, manchmal stundenlang. Immer geht es um altes Wissen, um den richtigen Weg des Lebens, um Weisheit. Angeblich soll er das Geheimnis der Unsterblichkeit besitzen und seine Höhle seit hunderten von Jahren nicht mehr verlassen haben. Eines Tages rief er tatsächlich mich und obwohl ich nie damit gerechnet hatte, folgte ich seiner Einladung sofort. Ich stand auf einmal in seiner halbrunden, nur von einem Feuer erhellten Höhle.“
    „Nanu“, dachte ich verwirrt, „ist das jetzt ein Märchen oder ein Traumerlebnis?“ und plötzlich platzte ich heraus: „Und der Alte saß in einer Nische in der Wand …“
    Karsa sah mich erstaunt an.
    „Woher weißt du das?“
    „Keine Ahnung, wo ich das schon einmal gehört habe“, erwiderte ich ebenfalls überrascht.
    Er machte eine lässige Handbewegung und meinte: „Vielleicht fällt es dir wieder ein. Jedenfalls zeigte er mir, wohin ich mich setzen sollte und dann begannen wir uns zu unterhalten. Obwohl er mir nichts zu trinken und essen anbot, war es die schönste Einladung meines Lebens. Seine Worte waren wie klarstes Wasser und seine Ratschläge so sättigend wie Tagella.“
    Tagella, das wusste ich inzwischen, war ein Fladenbrot der Tuareg,
    „Was für Wünsche hast du, Karsa?“, fragte er mich damals plötzlich. Als hätte ich es schon immer gewusst sagte ich ihm, Ich möchte Schnee, von dem ich nur gehört habe, auf meiner Haut spüren und wissen, wie das ist, ihn anzufassen und zu fühlen.“
    „Noch etwas?“, fragte er mich.
    „Ja,“ antwortete ich, „ich möchte wissen, wie der Schnee entsteht. Der Alte Mann nickte, dann legte er seine Hände ineinander, verbeugte sich und, na ja, ich wachte auf.“
    Karsa schwieg. Sein Blick war tief in sich gekehrt. Ich wollte wissen, woran er jetzt dachte und fragte ihn danach.
    „Ja, gleich“, antwortete er, „es geht ja noch weiter.“
    Ich beobachtete, wie er sich sammelte und aus seinen Erinnerungen zurückkehrte.
    „Du kannst es glauben oder auch nicht, es war im Winter kurz darauf als ich einmal alleine unterwegs war. Bei uns gibt es keinen Schnee, es wird zwar kalt, doch wegen des trockenen Wetters hat es noch nie geschneit. Aber an diesem Abend änderte sich mein Leben. Ich spürte, wie das Wetter umschlug, die Luft war kalt und feucht, so etwas hatte ich noch nie erlebt. Plötzlich zogen Wolken auf und es begann tatsächlich zu schneien. Ich stand barfuss da, starrte in dieses Flockenmeer, zog zuerst mein Tekamist (1), dann meinen Tagoumoust (2) und schließlich auch meine Akerbey (3) aus und ließ die Flocken auf meiner Haut landen. Sie waren kalt und doch brannten sie wie Feuer, ihre Tränen löschten den Schmerz und sie vergingen. Ich hüpfte und sprang und tanzte vor Freude wie ein Derwisch, genoss dieses Wunder, denn es war für mich gemacht, das wusste ich“.
    Ich stellte mir Karsa, diesen athletischen Sunnyboy aus dem Süden seiner Heimat so drehend vor Freude vor und musste lächeln. Zum Glück bemerkte er es nicht, denn er sprach einfach weiter.
    „Als ich zu Hause ankam, erzählte ich meinen Eltern von diesem Ereignis und auch von meinem Besuch beim Alten. Die deuteten meine ausgesprochenen Wünsche und das Ereignis so: „Es kommen Veränderungen auf unser Volk zu und unser Junge soll herausfinden was da geschieht und wie wir damit umgehen können“. So konnte ich dann, trotz aller Widrigkeiten, hierher kommen um zu studieren“.
    Er schwieg und meine Gedanken kreisten jetzt um alles, was er mir berichtet und geschildert hatte. Der Alte, die Höhle, das Feuer, die Gespräche, plötzlich drehte sich alles in meinem Kopf. Ich riss mich zusammen. „Und“, fragte ich ihn, „hast Du ihn noch mal besucht, den Alten, meine ich?“
    Er nickte. „Ja, erst letzte Nacht lud er mich wieder ein und forderte mich auf, von ihm zu erzählen.“
    „Karsa, ich muss jetzt gehen, danke für den schönen Abend!“, würgte ich noch hervor und verließ fluchtartig sein Zimmer.
    Seine wissenden Augen im Rücken stürzte ich durch die Gänge des Wohnheims, stieß meine Türe auf und warf mich aufs Bett. Hier endlich ließ ich meinen Tränen freien Lauf. Plötzlich war wieder alles da. Die Höhle, der Alte, die Gespräche, seine Ratschläge, alles was ich bisher mit Erfolg unterdrückt und vergessen hatte. Niemand hatte mir geglaubt und so hatte ich ihn in seiner eigenen Höhle für mich begraben. Aber es gab ihn wirklich, den Alten im Berg. Doch nicht mehr für mich.
    1: Übergewand – 2: prestigeträchtiges Untergewand – 3: Hose

  • von Magali


    Wir kommen so nicht weiter, dachte er. Die wilde Wut war abgeflaut, aber Ärger gewichen, der noch heftig an ihm nagte.
    „So kommen wir einfach nicht weiter“, sagte er laut und wartete erbittert darauf, daß sie den dummen Satz noch einmal sagen würde. Hilflosigkeit wallte in ihm auf. Es war nicht zu ändern.
    Zu seiner Überraschung schwieg sie. Im schwachen Mondlicht konnte er gerade ihre dunkle Gestalt ausmachen, das Gesicht ein blasser Fleck unter der Kapuze des langen Mantels. Wenigstens trug sie den Mantel. Der Rest ihrer Kleidung war unmöglich. Hosen! Unterhalb der Knie zusammengebunden, das heißt, es hätte sich gehört, daß sie unterhalb der Knie gebunden worden wären, aber die Hosen waren ihr zu groß und so lag die Schnalle in der Mitte ihrer Waden. Darüber trug sie ein Herrenhemd, er hatte die Spitzenmanschette des Ärmels hervorgleiten sehen, als sie die Hände gehoben hatte vor Schreck, als er so unvermutet aufgetaucht war. Gegen jeden Anstand war das! Wie es wohl dazu gekommen war? Vage Neugier regte sich in ihm. Aber noch mehr regte sich der Hunger. Unwillig bewegte er die Schultern. Sie zuckte heftig zusammen. „Ich tu Euch schon nichts“, sagte er unwirsch.
    Der blasse Fleck gewann Konturen, hohe Wangenknochen erschienen, eine kühn geschnittene Nase, ein winziges Kinn. „Was könntet Ihr mir schon tun.“ Ihre Stimme war so kalt wie der Schnee, der den Boden ringsherum bedeckte. Er öffnete zornig den Mund, aber schon im nächsten Moment zog sie die Nase hoch und schluckte dann heftig.
    ‚O, bei allen mottenzerfressenen Heiligen’, dachte er. ‚Nun wird sie gleich noch heulen!’ „Nehmt ein Taschentuch!“ sagte er gereizt.
    „Taschentuch“, fuhr sie ihn an. „Lauter ‚Wenns’ und sinnlose Anstandsregeln, das ist alles, was ich bis jetzt von Euch gehört habe. Schulmeister!“ Einen Moment lang waren ihre Augen purpurne Blitze.
    „Ja, war ich.“ Das Geständnis war ihm entschlüpft, ehe er denken konnte. Er hatte nie gelernt, sich Höherstehenden gegenüber zu behaupten.
    „Wirklich?“ Vor Überraschung hörte sie auf zu schniefen, er vermerkte es dankbar. „Hier?“
    Er brummte nur. Er war keiner von den Reichen, die es sich leisten konnten, von Ort zu Ort zu ziehen. Als ihm die Gemeinschaft sein Dorf vorgeschlagen hatte, damals, als er endlich verstanden hatte, was geschehen war, hatte er sofort zugestimmt. Er hatte ohnehin nie fortgewollt. Es war alles bloß die Schuld des widerwärtigen Woiwoden gewesen, der hinter ihm und Danilo herspioniert hatte. Wieder spürte er den Hunger.
    „Das Dorf gehört Euch, Komtesse“, sagte er unwirsch. „Es gibt auch Kühe hier.“
    „Kühe?“ An dem raschen Wechselspiel von Licht und Schatten konnte er sehen, daß sie eine Grimasse schnitt. Er war ganz ihrer Meinung, aber er war ja bloß Dorfschullehrer.
    Ein leichter Wind kam auf, der feine Pulverschnee, der bis vor einer Stunde gefallen war, wirbelte hoch und legte sich wieder zurück in sanften Wellenlinien, die über die Weiden verliefen, von der Friedhofsmauer hier oben den ganzen Hügel hinunter bis zum Dorf. Alles war unberührt, im Gleichmaß. So wie seine Nächte es gewesen waren, Jahr um Jahr. Bis eben!
    Der Wind fing sich jetzt in den Falten ihres Mantels, blähte ihn auf und ließ die Hosen wieder sichtbar werden. Sie faßte rasch nach dem Stoff und zog ihn enger um sich.
    „Ich war versprochen, weißt du,“, sagte sie unvermutet. „Bogdan, Graf Boromirs Sohn. Ich wollte weder ihn noch einen anderen. Ich stahl die Kleider meines Bruders und alles Geld, das ich fand und lief davon. Mit... Anca. Meiner, nun, Zofe. Zur Küste wollten wir. Fortsegeln, irgendwohin, wo wir leben konnten, für uns. Wir haben es wirklich bis Constanza geschafft. Doch in der Stadt herrschte die Pest. Anca starb.“ Sie holte tief Luft. „Es waren viele Ratten in der Stadt und... sie.“
    Er nickte. Wo ihresgleichen waren, waren auch viele Ratten. „Und so geschah es?“ fragte er schließlich, als sie gar nichts mehr sagte.
    „Ich hatte schreckliche Angst davor, an der Pest zu sterben. Sie hatte mich schon einige Tage lang beobachtet und sie war... sanft.“ Ihre Hand wanderte hinauf an ihren Hals, mit einer Geste, die er gut kannte. Er spürte das vertraute Prickeln in der Haut gleich neben seiner Kehle, so intensiv, daß er erst verzögert begriff, was sie gesagt hatte.
    „Sie?“ fragte er verblüfft.
    Mit einer wilden Bewegung streifte sie die Kapuze zurück. Ihr Haar war lockig und seidenfein. Und es war sehr kurz. „Ihr habt Euer Haar abgeschnitten?“ Zum erstenmal betrachtete er sie genau. Sie war schmalhüftig und breitschultrig, mit langen Gliedern. ‚Wie ein Junge sieht sie aus’, dachte er. ‚Ein hübscher Junge.’
    „Es ist wirklich nicht Eure Schuld“, sagte er versöhnlicher. „Keiner konnte wissen, daß sie nach so langer Zeit das Schloß abreißen würden und die Särge aus der alten Kapelle ausgerechnet auf diesen Friedhof bringen.“
    Sie hob hilflos die Schultern. „Trotzdem bin ich der Eindringling. Es ist dein Revier.“ Sie holte tief Luft. „Ich werde zu den Kühe gehen.“
    Einen Moment lang wußte er nicht, was er sagen sollte. Plötzlich schloß sie die Augen und schwankte. Schnell griff er nach ihrem Arm, sie zitterte. „Ich bin so hungrig“, sagte sie leise.
    Es fiel ihm nicht leicht zu sprechen. „Ihr sagtet ‚sie’.“ Es kam ziemlich barsch heraus.
    „Und?“ Heftig zog sie den Arm zurück. Wieder erschien die rote Glut in ihren Augen.
    „Ich mag Frauen nicht.“
    „Du...“, sie öffnete den Mund und schloß ihn wieder. ‚O’, sagte sie schwach.
    „Wir werden gut miteinander auskommen, Komtesse.“ Er konnte fühlen, wie sich sein Mund zu einem Lächeln verzog. So lange hatte er nicht mehr gelächelt. Sie erwiderte sein Lächeln. Ihre langen Eckzähne, nadelscharf wie kleine Dolche, funkelten silberweiß im Sternenlicht.
    „Kommt“, sagte er verhalten. „Ich zeige Euch, wo in meinem Dorf die Tafel gedeckt ist.“ Er streckte die Hand aus, sie legte die ihre hinein. Gemeinsam eilten sie hinunter zu dem schlafenden Dorf. Ihre Füße hinterließen keine Spuren in der weichen Schneedecke.

  • von Poem


    Ich sitze an meinem Fenster und schaue zu wie der Regen gegen die Fensterscheibe prasselt.
    Tränen rinnen über meine Wangen.
    Draußen wird es neblig ein Sturm zieht auf und es blitzt und donnert. Die Blitze erhellen für einen kurzen Moment die Dunkelheit und ich sehe eine Gestalt vor dem Tor.
    Wieder zuckt ein Blitz, die Gestalt ist weg und ich glaube an eine Sinnestäuschung.
    Plötzlich klopft es leise an meine Tür. Ich gehe zur Tür und öffne sie, doch niemand ist da.
    „Das war bestimmt nur der Donner.“ Sage ich mir.
    Ich schließe die Tür und mein Kater Gabriel schaut mich an als würde er mich fragen wollen:
    „Willst du unseren gast denn nicht hinein bitten?“
    Ich gehe in die Küche, fülle Gabriel sein Napf mit Futter und mache mir einen Tee, als es plötzlich wieder an der Tür leise klopft.
    Diesmal war es nicht das Donnern des Gewitters. Ich stelle Gabriels Napf auf den Boden, gehe zur Tür und öffne sie. Doch nichts ist zu sehen.
    Ein Blitz erhellt die Dunkelheit und wieder sehe ich die ‚Gestalt vor dem Tor, sehe wie sie sich entfernt und gehe ihr nach.
    Plötzlich stehe ich auf einem Friedhof, er sieht unheimlich aus in diesem Gewitter und der Dunkelheit. Ich blicke mich um und sehe wie die Gestalt in der Kirche verschwindet.
    Mir ist unheimlich zumute doch gehe ich ihr nach. In der Kirche war es dunkel, nur die Kerzen auf dem Altar spenden ein schwaches Licht. Vor dem Altar sehe ich die Gestalt stehen, aber ich kann sie noch immer nicht erkennen. Sie scheint wie ein Schatten, ohne feste Form.
    „Das ist die Müdigkeit.“ Höre ich mir im Gedanken sagen.
    Als ich mich umdrehe und gehen will, höre ich eine Stimme, sie sagt meinen Namen.
    Ich bin verwundert, denn die Stimme klingt nicht wie eine normale Stimme. Sie ist furcherregend und dennoch wunderschön zugleich. Ich drehe mich um und sehe wie die Gestalt auf mich zu kommt, sie scheint zu schweben. Warmer Wind fährt durch mein nasses Haar und nimmt mir die Kälte. Ich halte den Atem an und bewege mich nicht. Wieder diese Stimme die meinen Namen sagt und spricht: „Engel weinen nicht, Engel geben nicht auf.“
    „Wer bist du?“ frage ich
    Doch eine Antwort bekomme ich nicht.
    Ein kurzes helles Aufleuchten, dass mich so blendet, dass ich meine Augen schließen muss.
    Als ich meine Augen öffne ist es dunkel, die Kerzen auf dem Altar sind erloschen und auch die Gestalt ist weg.
    Ich gehe nachdenklich Heim, wo Gabriel mich schon erwartet. Er schleicht um meine Beine herum. Ich ziehe meine nassen Kleider aus, schlüpfe in meinen Morgenmantel und setze mich auf dem Sessel vor dem brennenden Kamin. Immer wieder höre ich im Gedanken diese Stimme die sagt: „Engel weinen nicht, Engel geben nicht auf.“
    Gabriel hüpft auf meinen Schoß und sieht mich an als ob er fragen wolle:
    „Geht es dir jetzt wieder besser?“
    Er schnurrt noch etwas vor sich hin und schläft auf meinem Schoß ein.

  • von Just_me87


    Kleine Cassie, weisst du noch? Damals am Strand, unsere erste Begegnung?
    Ich erinnere mich noch genau, an diesem warmen Sommertag am Meer, waren wir beide alleine da. Als ob wir alte Freunde wären, kamst du auf mich zu und wolltest spazieren gehen.
    Mit diesem Spaziergang begann eine tiefe Freundschaft, obwohl wir uns damals zum ersten Mal sahen. Wir verstanden uns sofort und ich hatte oft das Gefühl du könntest Gedanken lesen.
    Wir redetet viel zusammen, doch ich erfuhr fast nichts über dich. Während du alles von mir wusstest, kannte ich nur deinen Namen. Ich hatte keine Ahnung woher du kamst, wer du warst und was du hier tatest. Meinen Fragen bist du immer geschickt ausgewichen.
    Bald wurde es Abend und ich musste nach Hause. Wohin du gingst weiss ich nicht.
    Als ich später im Bett lag und über unsere Begegnung nachdachte, stellten sich mir immer neue Fragen, denn du warst etwas ganz Besonderes. Warum tauchtest du genau dann auf, als ich die Lust am Leben verloren hatte? Woher wusstest du, dass ich genau in diesem Moment auf der Suche war nach einem guten Freund, der mir wieder zeigt was das Leben für einen Sinn hat?
    Kleine Cassie, du warst so liebenswürdig, so hilfsbereit und immer fröhlich. In allem und jedem fandest du immer das Gute, das Schöne. Selbst wo ich nur Dreck sah, zeigtest du mir ein wundervolles Kunstwerk. Im Winter ärgerte ich mich über die Kälte und den Schlamm auf den Strassen, doch du freutest dich an den Kristallen in den Schneeflocken.
    Wann immer ich traurig war, wusstest du sofort, was ich jetzt brauchte. Du hast mir immer wieder neu gezeigt, dass es auf dieser Welt so viele Wunder gibt. Kleine Cassie ich verdanke dir so viel!
    Mit dem Kopf in den Wolken, doch mit beiden Füssen auf dem Boden. Kleine Cassie du warst anders als alle Menschen die ich je getroffen hatte. Deine Augen strahlten eine so reine Liebe aus, die für mich einfach unerklärlich war.
    In dieser Nacht dachte ich über alles nach, was du mir erzählt hast, und doch konnte ich so Vieles nicht verstehen. Kleine Cassie, du warst so viel jünger als ich, doch so viel weiser.
    Weisst du eigentlich, dass du mir immer vorkamst wie eine kleine Prinzessin? Du warst so schön und nahezu perfekt. Immer warst du für andere da, hattest immer Zeit für die Probleme der Menschen.
    Kleine Cassie, ich fragte mich immer wieder, wie du es schafftest mit dieser Leichtigkeit durchs Leben zu gehen. In dieser kurzen Zeit die dir gegeben wurde und in der ich dir begegnete hast du mir so Viel beigebracht.
    Cassie, kleines Wunderkind. Ich vermisse dich so schrecklich. Jeden Tag fragte ich mich warum du mir so früh schon entrissen wurdest. Nun versteh ich alles. Woher du kamst, wer du warst und wohin du gingst...
    Kleiner Engel, bist du froh wieder zu Hause zu sein? Ich wünschte mir ich hätte mit dir zusammen das Himmelstor durchschreiten können.
    Kleiner Engel, kleine Cassie, ich werde dich nie vergessen, in meinem Herzen lebst du weiter...

  • von Rabarat


    Streng genommen hatte er hier überhaupt nichts zu suchen. Er wusste das auch,
    aber es war wie ein Zwang für ihn, ein Zwang, der ihn an diesem eisig kalten Tag hinaus trieb, um mit hochgeschlagenem Kragen durch die Allee zu gehen, deren Bäume bereits weitgehend kahl waren und deren letzte bunte Blätter vom Wind durch die Straße getrieben wurden. Jeden Morgen nahm er diesen Weg und wie jeden Morgen, so war ihm auch heute klar, dass wieder nichts geschehen würde, dass sich seine Sehnsüchte und Wünsche wieder nicht erfüllen würden, dass es wieder ein vergeblicher Versuch sein würde, das Rad der Zeit zurückzudrehen oder wenigstens den Gang der Dinge zu verändern. Ein Auto fuhr an ihm vorbei, er sah ihm nach, sah wie es immer kleiner wurde und schließlich hinter einer Kuppe aus seinem Blickfeld, aus seinem Leben verschwand.


    Einfach weg.


    Das wünschte er sich auch sehr oft, einfach weg sein. Als er jünger war, hatte er viele Versuche unternommen, wegzulaufen: von seinen Eltern, von seiner Arbeit, von seiner Freundin, von seinem Heimatort. Doch wohin er auch ging, er war schon da. Sich selbst konnte er nicht entkommen. Manchmal hatte er sogar an Suizid gedacht, dazu jedoch fehlte es ihm an Mut und an Entschlossenheit. Außerdem - er war zwar nicht gläubig, aber wer konnte das schon wissen, vielleicht ließe es sich nicht einmal dadurch wirklich fliehen.


    Wie beneidete er seine Freunde, oder hatte er überhaupt welche? Waren ihm diese Menschen nicht in Wirklichkeit ganz fremd? War es wirklich die gleiche Welt in der sie lebten? Jedenfalls beneidete er sie, denn sie waren ohne Frage Günstlinge des Schicksals mit Berufen, die sie erfüllten, Hobbies, die ihnen Freude bereiteten, Familien, die ihnen Glück und Geborgenheit schenkten.


    Hier in der Allee pfiff der Wind auf einmal ganz besonders scharf und feiner Schnee biss ihm ins Gesicht; er kniff die Augen zusammen, die Kälte ließ ihn erschauern und mut- und kraftlos setzte er sich wieder in Bewegung. Wären wir nahe bei ihm gewesen, hätten wir ihn seufzen hören können.


    Oft erschien ihm sein Leben als eine Kette verpasster Chancen und es gefiel ihm, sich an Ereignisse zu erinnern, an denen er beinahe etwas geschafft hätte, wo er nur knapp gescheitert war, wo es fast geklappt hätte. Große Niederlagen bewegten ihn nicht, aber das hauchdünne Verfehlen, das haarscharfe Vorbeischrammen an Erfolgen war es, dass einen lustvollen Schmerz in ihm erzeugte, dem er sich beinahe wolllüstig hingeben konnte.


    Daher war es auch kein Zufall, dass seine Füße kalt waren und schmerzten, weil die Schuhe zu klein waren und drückten. Es war vielmehr Ausdruck seiner Lebenshaltung. Dies aber war nicht seine Sicht der Dinge. Ganz im Gegenteil, am meisten quälte ihn, dass er selber schuldlos war.


    Doch es half jetzt nichts, zu lamentieren. Schritt für Schritt ging er voran, nahm seinen Weg die Steigung hoch, wie er es seit langem schon an jedem Morgen tat, bis hin zu jener Anhöhe, von der man weite Blicke werfen kann ins Land hinaus.
    Und hier traf er auch wieder den alten Mann, der ebenfalls jeden Tag hier oben stand. Ihre Blicke begegneten sich kurz zu einer stummen Begrüßung. Noch nie hatten sie ein Wort miteinander gewechselt, und so sollte es auch heute bleiben. Sie standen nur schweigend nebeneinander und schauten hinunter auf die Stadt, in deren Häusern es gemütlich aus den Kaminen rauchte, in der Menschen arbeiteten, aßen und tranken, stritten, lachten und liebten.

  • von Hinterwäldlerin


    Das Geräusch des Regens war alles, was ich hörte. Die Welt, dunkel, als hätte jemand eine riesige graue Decke darüber gebreitet. Doch ich lief hinaus, hinaus in die Ferne, in die Dunkelheit.


    Ein flüchtiges Zucken, einen Schatten, mehr nahm ich am Anfang nicht von ihm wahr. Meinen Blick auf den Boden gerichtet, vermischten sich meine Tränen still mit dem Wasser der Wolken. Doch plötzlich stand er vor mir. Mit seinen dunklen Augen sah er in meine, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Sein todtrauriger Blick verletzte mich wie tausend Messerstiche. Der Regen fiel erbarmungslos auf uns, rann unsere Haut hinunter, durchweichte unsere Kleidung. Seine Haare wurden zu Strähnen, an denen dicke Tropfen hinunterliefen. Ein Tropfen suchte den Weg über seinen Nasenrücken und vermischte sich dann mit den unendlich vielen anderen.


    Doch er schaute nur in meine Augen und es entging ihm nicht, dass ich weinte. Er hob seine Hand, um eine Träne aus meinem Gesicht zu wischen. Seine Finger fuhren durch mein nasses Haar, sein Daume näherte sich meiner Wange. Ich schloss meine Augen, doch als er meine Haut berührte, wandte ich den Kopf ab. Er wollte ihn wieder zu sich drehen, aber ich stieß seine Hand weg. Ich blickte einige Momente lang auf die schlammige Erde, spürte, wie der Regen in meinen Nacken floss. Dann hob ich tapfer meinen Kopf und fixierte das Dunkle seiner Augen. Für eine Sekunde blieb die Welt stehen. Er öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, doch ich bedeutete ihm, still zu sein. Ich wollte diesen Augenblick genießen, diesen letzten, schmerzlichen Augenblick. Ich wusste, er wollte meine Hände ergreifen, mich küssen, doch mit meinen Blicken hielt ich ihn auf Abstand. Er sollte diesen Moment nicht durch Nähe zerstören. Ich verweilte noch einen Atemzug lang- dann drehte ich mich um und rannte davon.

  • von Christiane


    Aufmerksam schaue ich in die blauen Augen meines Gegenübers, aber ich komme nicht dahinter, was sie mir sagen wollen. Seufzend wende ich mich ab, grüble dennoch weiter.
    Diese Augen, diese großen blauen Augen, sie sind es, die ich immer gemocht habe, das weiß ich genau. Sie sind nicht einfach nur blau, nein. Aber nur, wenn man wirklich genau hinschaut, nur dann erkennt man jeweils drei gelbe Pünktchen in der azurblauen Iris. Das sieht irgendwie lustig aus. Es paßt auch zu ihr.
    Manchmal, wenn ich nah genug bin, erkenne ich auch die vielen kleinen Fältchen, die sich wie ein Fächer liebevoll um ihre Augen breiten; und wenn sie lächelt, gewinnen die Linien noch an Tiefe, unterstreichen die Schönheit ihrer Augen.


    Wir sehen uns immer am frühen Morgen, wenn sie sich schminkt, wechseln aber nie ein Wort. Ab und an jedoch erwartet sie mich mit einem Lächeln.


    Auch heute wieder beobachte ich das unvermeidliche Ritual:
    Eigentlich braucht sie keine Schminke, aber das ist nur meine Meinung. Aufmerksam verfolge ich, wie sie den schwarzen Kajal ansetzt und vorsichtig am rechten unteren Auge entlang fährt. Sie beginnt immer mit dem rechten Auge und das seit Jahren schon. Sie zuckt manchmal, setzt ab, fängt wieder von vorne an. Genauso akribisch verfährt sie mit dem linken Auge, jedoch gelingt ihr hier die Pinselführung meist besser. Jetzt werden noch die Wimpern mit schwarzer Tusche eingefärbt, fertig. Danach endlich ist es geschafft. Zufrieden mit ihrem Werk wirft sie mir noch einen kurzen Blick zu und wendet sich dann ab.
    Ich verliere sie aus den Augen – wie schon so oft.
    Doch halt, was ist das, sie bleibt stehen, grübelt, sie kommt zurück. Unsere Augen begegnen sich erneut, sie schaut mich wieder an und - ich fühle es fast - nun nimmt sie mich endlich wahr!
    Ich sehe sie schlucken und mir werden die Knie weich.
    Ich bemerke, wie sie dennoch tapfer meinem Blick standhält. Sie sieht mich wirklich an! Auge in Auge stehen wir uns nun gegenüber.
    Blaue Augen betrachten mich inzwischen sehr aufmerksam. Sie streifen über mein kurz geschnittenes graues Haar, nehmen die tiefen Linien und Runzeln in meinem Gesicht wahr, wandern weiter, hinunter auf meine wabbelige alte Haut, die, durchscheinend, fast pergamentartig, von vielen braunen Altersflecken gezeichnet, meinen Körper umschließt.
    Blaue Augen schauen wieder hoch, schauen mich an. Erkenntnis durchströmt mich, während mir Tränen den Blick in meine großen blauen Augen trüben.

  • von Smarana


    Von hier aus konnte sie bis an das Ende der Allee sehen. Kastanienbäume, mit schwarzen mächtigen Stämmen knorrig und nass säumten den Weg. Auf dem Boden lag ein weicher Teppich aus bunten Blättern. Ein feuchtes Nieseln war im Gesicht zu spüren und ein paar Meter weiter verdichtete sich das Grau zu noch mehr Grau. Das feine Gespinst verschluckt die Geräusche und packt alles in Watte, auch die Gefühle. Wo war die Einsamkeit geblieben? Sie hatte nur Leere hinterlassen, keine Sehnsucht, kein Ziel. Kann ich von einem bunten Herbstblatt zum nächsten hüpfen, ohne zu wissen, warum und wohin es mich führt?


    Er stand einfach nur da, still in sich gekehrt und ließ den Herbst und seine Nebelschwaden durch sich fließen. Die Traurigkeit zog süße Spuren durch sein Fühlen und sie passte so gut zum November. Er sah die Frau konzentriert auf den Blätterboden schauen, so losgelöst von der Umgebung. Rund um ihn verschwamm die Hektik der Zeit, so geschäftig alle Dahineilenden, suchend und umherirrend im sinnlosen Irrgarten des Lebens. Er hatte immer das Gefühl daneben zu stehen, beobachtend. Manchmal glaubte er, er wäre zu kalt und gefühllos, um daran teilzunehmen. Doch dann konnte er wieder das stumme Schreien der Seelen hören, die hinter den Fassaden eingesperrt waren und nicht beachtet wurden. Und er spürte seine Seele lebendig und ihn ganz ausfüllend. Und er wusste wieder, was Leben ist.


    Er stand in der Mitte des Weges und sah den Zusammenstoß erwartend der Frau entgegen. In seinem schwarzen Mantel unterschied er sich fast nicht von den schwarzen Stämmen der Kastanienbäume am Wegrand.


    Jedes Herbstblatt hat sein eigenes Gesicht und erzählt seine Geschichte. Sie berichten vom Wachsen und Entfalten, vom Schaukeln im Sommerwind und vom Loslassen. Vertrauensvoll in die ungewisse Geborgenheit fallend, dahin treibend im Strudel und schließlich mit sanfter Landung ganz zart am Bestimmungsort ankommend.


    Kurz vor dem Aufprall schaute sie noch auf und sah dann nur mehr Knöpfe vor ihren Augen.


    „Verzeihung“, stammelte sie „ ich habe Sie nicht gesehen“. Sie stand ganz dicht vor ihm. Seine Augen lächelten: “Ich Sie schon.“ Eine Weile standen sie stumm voreinander da und keiner wusste etwas zu sagen. Aber sie erkannten sich, als Seelenmenschen in ihren wachen und lebendigen Augen.


    Sie gingen gemeinsam in ein nahe gelegenes Kaffeehaus und erzählten von sich. Umhüllt von einer wachsenden und wärmenden Vertrautheit fielen sie unvermutet in das Abenteuer einer Beziehung.

  • von Wilma Wattwurm


    Sie sah seine Augen und wußte, daß es nicht mehr lange dauern konnte, ehe er aufstehen und sich mit irgendeiner Ausrede an ihren Tisch setzen würde. Diese
    Typen kannte sie nur zu gut: der herumspähende Blick, die beutewitternden erhobenen Nüstern, die selbstgefällige Macho-Haltung, kurzum der Urmann mit dem Jagdinstinkt, oder vielmehr dem Schürzenjagdinstinkt.
    Eigentlich hatte sie keine Lust auf Gesellschaft. Sie hatte sich auf der Caféterasse niedergelassen, um sich von ihrem Stadtbummel zu erholen.


    Sie sah wie er aufstand. Geflissentlich blickte sie zur anderen Seite, beobachtete sein Manöver jedoch aus den Augenwinkeln. Sie war gespannt, wie er es anstellen würde. Es gab natürlich verschiedene Varianten. Wenn es nur nicht “Ist dieser Stuhl noch frei” wurde. Diese Klischee-Frage hing ihr zum Hals heraus. Oder “Was macht eine schöne Frau hier ganz allein”. Bitte bloß die nicht, das würde ihr Magen nicht ertragen.


    Er blieb vor ihrem Tisch stehen, räusperte sich.
    “Entschuldigen Sie, aber kennen wir uns nicht von irgendwoher?”
    Wie phantasievoll, das Klischee aller Klischees. Das konnte man heutzutage doch wirklich niemandem mehr zumuten.
    Er sah sie erwartungsvoll an, seichte wasserblaue Augen unter einer flippig aufgewirbelten Stirnlocke. Einen Moment lang glitt ein Hauch von Entmutigung über sein modisches Nacktarschgesicht. Sie zögerte scheinbar etwas zu lange für sein Gefühl. Die Herausforderung reizte sie, warum sollte sie nicht mitspielen.
    “Ja, nun da du es sagst”, antwortete sie, sein Sie ignorierend und ihn quasi nachdenklich anblickend, “du kommst mir auch irgendwie bekannt vor”.
    Für einen Augenblick war er sichtlich aus der Fassung gebracht. Diese Reaktion hatte er wohl nicht erwartet. Aber er erholte sich schnell.


    “Darf ich mich an Ihren…äh…Deinen Tisch setzen?”
    “Aber natürlich!”
    Selbstzufrieden nahm er auf dem Stuhl neben ihr Platz.
    “Nun, woher könnten wir einander kennen?”
    “Vielleicht vom Fitneßstudio oder vom Tennisclub”, schlug sie scheinheilig vor, innerlich lachend. Sie verkehrte immerhin nie in dieser Art von Etablissements.
    “Das könnte gut sein, ja, nun da ich dich so vor mir sehe, der Tennisclub, das muß es sein”.
    Zufriedengestellt winkte er den Ober heran. “Noch einen Cappuccino”, äußerte er herablassend mit einer minimalen Kieferbewegung, und auf ihr leeres Glas deutend: “Noch einmal dasselbe?”
    “Ja, gerne!”


    Der Ober ging weg und ließ sie in einer peinlichen Stille zurück. So selbstsicher war er doch nicht, konstatierte sie, als er krampfhaft versuchte, das Schweigen zu brechen.
    “Arbeitest du auch hier in der Gegend?”
    “Nein, ich arbeite zur Zeit nicht!”
    “Oh, welch ein Luxus!”
    “Und was machst du?”
    Sie hätte es wissen müssen. Diese Sorte durfte man nie nach ihrer Arbeit fragen. Darauf warteten diese Egotripper doch nur. Dann konnten sie ungeniert mit ihrem Jägerlatein losballern. Und natürlich, ehe sie es sich versah, erzählte er ausgebreitet über seine Tätigkeit, über die wichtige Funktion, die er bei irgendeiner Werbeagentur hatte. Wahrscheinlich war er lediglich das Männlein für alles, ließ es jedoch so vorkommen, als ob er die unersetzliche rechte Hand des “Big Boss” persönlich wäre. Überheblich, protzig, hohl, uninteressant. Sie langweilte sich, aber er redete und redete, in einem fort. Nun, damit mußte sie vorlieb nehmen, ein seriöses Gespräch hatte sie doch nicht erwartet, und sie war mittlerweile eine ausgezeichnete Zuhörerin geworden.


    Früher, vor noch nicht so langer Zeit, würde sie in ihren kühnsten Träumen nicht daran gedacht haben, sich auf der Straße von wildfremden Männern anmachen zu lassen. Mehr oder weniger durch einen Zufall war ihr das einmal passiert, hatte sie aus einer närrischen Laune heraus an dem Katz-und-Maus-Spiel mitgemacht. Und es hatte ihr auch noch Spaß gemacht. Danach hatte sie stets mehr Geschmack daran gefunden. Vor allem der Ausgang, der Schreck, das Entsetzen im Augenblick der Bewußtwerdung…, das fand sie am schönsten, dafür tat sie es.
    Diese blöden Machos auch, jemand mußte ihnen doch eine Lektion erteilen.
    Männer! Wie verabscheute sie sie!
    Nicht das dies immer so gewesen war. Einst hatte sie geglaubt, “den Richtigen” gefunden zu haben, bis zu jenem verhängnisvollen Novembertag. Er schien nur in ihre Schönheit verliebt gewesen zu sein. Er ließ sie einfach im Stich, machte Schluß noch während sie auf der Intensivstation mit dem Tode rang.
    Wunderbarerweise war ihre Genesung günstiger verlaufen als erwartet, in körperlicher Hinsicht jedenfalls, denn nach ihrer Psyche erkundigte sich niemand.


    “Vielleicht findest du es impertinent, aber darf ich dich was fragen?”
    Die Stimme ihres Belagerers brachte sie zurück in die Wirklichkeit.
    “Ja, natürlich!”
    “Es ist da ein Betriebsfest am Freitagabend. Hast du Lust mitzugehen?”
    Upps, ein Schneller! Der verlor keine Zeit. Er sah sich wahrscheinlich schon mit ihr auf dem Fest erscheinen, freute sich jetzt schon auf die neidischen Blicke seiner Kollegen. Denn daß sie fantastisch aussah, davon war sie sich bewußt. Eine Frau, die man vorzeigen, mit der man jeden ausstechen konnte. Ein Paradestück, wie er vermutlich dachte.
    “Ja, warum nicht, ich würd’ schon wollen”, antwortete sie nach kurzem Zögern.
    Diese Verabredung würde ihren Triumph noch vergrößern.
    “Gut, das ist dann abgemacht!”
    Sie grinste verstohlen.
    “Ich habe leider nicht mehr viel Zeit. Meine Mittagspause ist um”, fuhr er fort. “Aber vielleicht kann ich dich irgendwo absetzen, mein Auto steht gleich da vorne”.
    Er deutete auf einen knallroten, übersexten Sportwagen. “Vielleicht kann ich dich nachhause bringen, dann weiß ich gleich, wo ich dich am Freitag abholen muß”.
    “Ja, gerne”, antwortete sie rasch, immer noch innerlich schmunzelnd.
    “Ober!”
    Ohne eine Miene zu verziehen ließ sie ihn bezahlen, auch für die Getränke, die sie vor seinem Kommen bestellt hatte.


    Er stand auf. “Sollen wir dann mal…?”
    Umständlich rückte sie auf ihrem Stuhl herum, erhob sich dann langsam, indem sie sich schwerfällig auf der Lehne abstützte, übertrieb absichtlich etwas. Sie machte ein paar Schritte, wankend zunächst, dann etwas etwas resoluter.
    Mit Genugtuung bemerkte sie das Erstaunen auf seinem Gesicht, das allmählich Platz machte für Panik, bis schließlich tiefe Abscheu seine Züge entstellte. Sie fühlte seine Augen entgeistert auf ihr linkes Bein gerichtet, das hölzern und leblos bei jedem Schritt den sie machte hinter dem anderen Bein herschliff. Wahrscheinlich drang es langsam zu ihm durch, daß sie doch nicht so vollkommen war. Seine Augen drohten aus den Höhlen hervorzuquellen.
    Ihr Triumph war perfekt.

  • von Leseratte007


    Steffi fuhr auf die Autobahn. Sie war unterwegs zu ihrem Freund. Plötzlich ging alles ganz schnell. Ein rotes Auto fuhr zu schnell auf die Auffahrt und knallte beim Spurenwechsel geradewegs in ihr Auto. Steffis Kopf ruckte heftig nach vorne auf das Lenkrad , Steffi blieb reglos liegen , überall Blut. Die Beifahrerseite war komplett eingedrückt.


    Ein Auto hielt auf dem Seitenstreifen. Der Fahrer stieg hastig aus und rief über sein Handy bei der Polizei an und bat um schnellstmögliche Hilfe. Zitternd ging er auf das Auto der jungen Frau zu , sie war höchstens vierundzwanzig. Wieso hatte er nicht besser aufgepasst? Wieso war er so schnell gefahren? Das schlechte Gewissen plagte ihn , doch dafür war jetzt keine Zeit , er musste dem Mädchen helfen. Doch was sollte er tun? Was macht man in so einem Fall?


    Lieber nicht anrühren sagte er sich , das sah nach einer Kopfverletzung aus. Nicht das er noch mehr falsch machte. Also sicherte er die Unfallstelle ab , indem er ein Warnkreuz aufstellte und wartete bis die Polizei mit dem Krankenwagen da war.


    Da kamen Sirenen auf in zu , in der ferne sah er Blaulicht , das mussten sie sein. Endlich!


    Schon kamen die Sanitäter herangestürmt um nach der jungen Frau zu sehen und sie vorsichtig aus dem Auto zu befreien. Einer der Polizisten kam auf ihn zu und fragte ihn nach dem Unfallhergang. Er schilderte es kurz , wobei er den Blick nicht von dem verletzten Mädchen nehmen konnte. Was hatte er bloß getan?


    Die Sanitäter fuhren mit dem Mädchen ins Krankenhaus und die Polizei fuhr mit ihm ins Revier. Ein weiterer Trupp übernahm die Aufräumarbeiten. Im Krankenhaus wurde festgestellt das Steffi wohl ein Schädel-Hirn-Trauma hatte und in ein Koma gefallen war.


    Anhand ihrer in ihrer Brieftasche gefundenen Unterlagen wurden sogleich die Eltern und der Freund benachrichtigt. Als sie kurz darauf kamen , waren sie leichenblass. Sie warteten im Gang bis sie zu Steffi ins Zimmer durften und als sie sie sahen traten ihnen Tränen in die Augen. Sie lag da so hilflos und still , fast als wäre sie schon… Nein so was durften sie gar nicht erst denken. Ihr Freund ging zu ihr und setze sich an ihr Bett , nahm ihre Hand und weinte lautlos. Ihre Eltern standen hilflos an Steffis Bett. So ging das jeden Tag , immer wieder besuchten Steffis Eltern und ihr Freund Kevin sie , genauer gesagt saßen sie eigentlich fast ständig an Steffis Bett , doch es war keine wirkliche Besserung in Sicht. An so einem Tag , draußen scheinte warm die Sonne vom blauen Himmel , kam ihr Freund wieder einmal und brachte einen Strauß mit orangefarbenen Clematis und gelb-orange geflammten Rosen mit. Wie immer in den letzten Tagen setzte er sich ans Bett , hielt ihre Hand und las ihr aus einem Buch vor. Er hoffte irgendwann zu ihrer Seele vordringen zu können. Auf einmal fiel ihm ein gemeinsames Lied ein „Angels“ von Robbie Williams und er fing leise an für Steffi zu singen. Während er sang liefen ihm die Tränen aber er sang immer weiter. Er musste sie dazu bringen wieder zu leben , er konnte und wollte sie nicht verlieren.


    Steffi konnte es nicht fassen , ihre Seele schien aus ihrem Körper zu schweben und plötzlich stand sie da und konnte auf sich herabsehen. Sie sah auch Kevin der ihr weinend ihren gemeinsamen Song vorsang. Das war das Lied das gespielt wurde als sie sich kennengelernt hatten. Es war auf dem Abschlussball und Kevin forderte sie bei diesem Lied zum Tanz auf. Was war sie selig , denn sie hatte schon eine ganze Weile ein Auge auf ihn geworfen. Nun stand sie also da und hörte ihn ihr Lied singen und ihre leichenblasse Hand halten , um ihren Körper konnte sie einen merkwürdigen Schimmer wahrnehmen eine Art Licht.


    Kevin saß immer noch an ihrem Bett als er plötzlich ein leises Geräusch hörte , er hörte genauer hin und vernahm ein Flüstern. Es war das Flüstern von Steffi , seiner geliebten Freundin. Schnell drehte er sich um und richtig , ihre Augen waren offen und blickten ihn an.


    Circa eine Stunde nachdem er ihr , ihr Lied vorgesungen hatte , erwachte sie wieder zum Leben. Ein Wunder war geschehen. Er beugte sich hinunter um sie besser zu verstehen und sie flüsterte: Kevin , Du hast unser Lied gesungen. Das war der schönste Moment und die schönsten Worte seines Lebens. Schnell rief er nach den Ärzten und benachrichtigte die Eltern.


    Ein Jahr später


    Und so frage ich sie im Namen des Herrn möchten sie Steffi Richard , Kevin Weiss zu ihrem Manne nehmen und ihn lieben und ehren bis das der Tod euch scheidet? Ja , ich will


    Und möchten sie Steffi Richard zu ihrer Frau nehmen und sie lieben und ehren bis das der Tod euch scheidet? Ja , ich will.


    Dann dürfen sie die Braut jetzt küssen.


    „Ich liebe Dich“ flüsterte er und sie küssten sich.

  • von BabyJane


    Neben mir zappelt ein Häufchen Elend auf dem Stuhl herum. Die Luft riecht nach Desinfektionsmitteln nach Krankenhaus halt. Ich lege wie mechanisch meine Hand auf seinen Arm. „Bleib ruhig, sie hat darum gebeten dich zu sehen.“ Seine Schultern fallen, wenn das überhaupt möglich ist noch mehr in sich zusammen. Ich tätschel weiter seinen Arm. „Ehrlich, ich weiß nicht, warum du so ein Theater machst. Sie ist dir dankbar, sie will dich nicht beißen.“ „Wer weiß.“ flüstert er und guckt seine Schuhspitzen an, die Kreise aufs Linoleum malen.


    Ich zucke die Achseln und lehne mich zurück und denke an den Tag, der Grund für unser Hiersein ist.


    Ich hatte auf der Wache gesessen auf dem PC Solitär gespielt. Es war ruhig die ganze Nacht über. Mein Kollege mit dem ich rausfahren sollte hatte sich früher nach Hause verkrümelt, seine Kinder hatten die Grippe.


    Das Telefon klingelte. Ich deutete auf meinen Chef, der Zeitung las. „ Du bist dran.“ Seufzend griff er nach dem Telefon. Sein Gesicht veränderte sich und sofort war ich hellwach. Er schluckte und schaltete den Lautsprecher ein.


    Ich verstand eine Frauenstimme. Panisch hörte sie sich an. Nuschelte und brach immer wieder ab.


    „Unfall..... will raus.....blute.“


    „Wo sind sie!“ fragte mein Chef mit rauer Stimme.


    Weinen.


    „Ganz ruhig, wir helfen ihnen, aber dazu müssen wir wissen wo sie sind.“


    Stille, dann laut „OH MEIN GOTT DU ARSCH, WOHER ZUM GEIER SOLL ICH DAS WISSEN???“


    Wir wechseln einen Blick. Im Hintergrund hören wir Autos vorbeifahren.


    „Ok, kein Problem, wir finden sie. Wo wollten sie denn hin?“ Ich nicke, gute Idee, denke ich, so können wir es eingrenzen.


    „Aachener Straße. ICH STERBE DU WICHSER, ICH STERBE!“ Ich seufze. Mein Kollege bleibt ruhig, frgt weiter,


    „Ja gut, in welcher Stadt?“


    Die Antwort kommt schneller als erwartet „Na in Köln, verdammter IDIOT wo denn sonst, wo verdammt noch mal sonst, DU SPINNER?“


    Wieder fängt sie an zu weinen....“mir ist so schwindelig hier ist es dunkel und ich hab Angst und meine Beine. MEINE BEINE SCHEIßE.“ Die Panik kommt in ihre Stimme zurück.


    Sofort beruhigt er sie wieder. „Nicht weinen. Wenn wir wissen, wo sie sind, sind wir ganz schnell da.“


    „Aber ich weiß nicht wo ich bin. Da war eine GOTTVERDAMMTE Baustelle, dann war da ein Lkw und dann. HOLEN SIE MICH HIER RAUS ODER ICH ZEIG SIE AN“ Sie bricht ab und fast glaube ich das Gespräch ist unterbrochen worden, als sie sagt: „Ich sehe ein Schild da steht Lövenich drauf. Hilft ihnen das weiter sie BEGRIFFSTUTZIGES ARSCHLOCH?“


    Hektisch flitze ich auf den Flur und schicke zwei Streifenwagen raus, die schon mal in die grobe Richtung unserer Großbaustelle in der Nähe der Aachener Straße fahren, dann greife ich zum Telefon und verständige Rettungswagen und Notarzt. Ich selbst würde mich zu gerne auch in ein grünweißes Auto schwingen und suchen, aber die Regeln sind einzuhalten.


    KEINER FÄHRT NACHTS ALLEINE RAUS. Also beuge ich mich. Tippe den Einsatz in den PC und horche dem Gespräch.


    „Wo sind sie losgefahren?“


    „Kerpen SCHEIßeeeeeeeee.“ dann leises Wimmern.


    „He, nicht wieder weinen, hören sie mich? Ja?? Passen sie auf, meine Kollegen sind zu ihnen unterwegs. Ich möchte, daß sie mir sagen, sobald sie Blaulicht sehen oder eine Sirene hören. Geht das?“


    Ganz leise flüstert sie ihre Antwort: „ja.“ Dann Rauschen im Telefon, leise bete ich, daß die Verbindung nicht abreißt. „Ich will hier raus. ICH WILL HIER RAUS. IHR PISSER MÜßT IRGENDWAS TUN; DAFÜR WERDET IHR BEZAHLT!!“ Kreischt sie plötzlich und wir hören wie sie gegen irgendwas hämmert und schlägt. Mein Kollege am Telefon muß schreien, bis sie wieder auf ihn reagiert. „Ich will hier raus.“ Immer wieder wiederholt sie diesen Satz. Ich sehe wie mein Kollege seine Hände am Hosenbein abwischt sie sind schweißnaß.


    Irgendwie schafft er es sie zu beruhigen.


    Wir hören im Hintergrund Martinshörner. Sie braucht uns nicht sagen, daß sie Blaulicht sieht. Wir wissen auch so, daß wir sie gefunden haben.


    Der Funk knistert: „Wir haben den Wagen. Sieht übel aus. Hängt in den Bäumen, wir kommen nicht ran, die Feurwehr überlegt sich was.“


    Die Stimme am Telefon kreischt wieder: „Warum holen sie mich hier nicht runter, ich will hier raus.“ Wieder schlägt sie gegen irgendwas, ich höre es rumsen. Wieder wischen die Hände meines Kollegen über seine Hose.


    „Wir holen sie da runter, keine Angst. Es dauert nicht mehr lange, dann haben wir sie da runter und aus dem Auto raus.“ Stille am anderen Ende. „Ich bin aus dem Auto raus, hohle NUSS.“ sagt sie plötzlich sehr ruhig.


    Wir sehen uns irritiert an, bis sie fortfährt und ihre Stimme mit jedem Wort lauter wird. „ ICH KLEMME ZWISCHEN DEM SCHEIßAUTO UND DEM SCHEißBAUM FEST.“


    Meinem Kollegen fällt der Hörer aus der Hand, ich bin zu irritiert, um das sofort über Funk weiter zugeben. Fange mich aber wieder rasch und spreche zu den Kollegen vor Ort.


    Knistern im Funk. „Scheiße ja, wir sehen sie.“ Der Kollege dort läßt die Taste zu spät los und ich höre wie er zu irgendwem sagt. „Die ist hinüber....“ Mein Kollege am Telefon hört es auch.


    Das Telefonat läuft immer noch. Sie weint nur noch und mein Chef spricht ruhig auf sie ein. Er flüstert fast. Die Zeit scheint still zu stehen. Es scheint Stunden zu dauern bis das Gespräch abbricht.


    Als er den Hörer weglegt sitzen wir beide still da. Warten. Hoffen. Die Sekunden verstreichen. Der Funk knistert. Dann wieder Stille. Mir juckt es in den Fingern, nachzufragen, was passiert ist. Aber ich beherrsche mich, warte.


    Der Funk geht an: „Wir haben sie, ist bewußtlos, Hubschrauber hat sie an Bord.“ Wir beide auf der Wache atmen auf.


    Zwei Wochen ist das her. Vor zwei Tagen ist sie aus dem Koma wachgeworden und hat nach meinem Kollegen verlangt.


    Und hier sitzen wir nun und werden gleich der Frau begegnen, die uns am Telefon aufs schlimmste beschimpft hat und der wir all das vergeben werden, nur weil sie lebt. Langsam bekomm auch ich weiche Knie.

  • von Polli


    Dressierte Äffchen mag ich nicht. Mit der gleichen Abneigung musterte
    ich das das magere Mädchen, das vorn auf dem Klavierhocker Platz nahm,
    unbehaglich hin- und herrutschte und dann tapfer eine mühsam auswendig
    gelernte Etüde begann. Ich erhob mich leise von meinem Platz in der
    letzten Reihe und verließ den Saal.


    Draußen im Flur holte ich tief Luft und reckte mich. Ich bedauerte
    Volker, der als Jurymitglied bis zum letzten Beitrag ausharren musste.
    Auf der Fensterbank saß ein Junge und baumelte mit den Beinen. Ich sah
    mich um, er war ohne Begleitung. Zu allen freundlich sein, wer weiß, ob
    sein Vater nicht im Stadtrat sitzt und morgen schon über den Etat der
    Musikschule entscheidet, sagte meine Vernunftstimme. Ich setzte ein
    berufliches Lächeln auf: „Na, spielst du auch gleich vor?“
    „Na, quatschst du immer fremde Kinder an?“, entgegnete der Junge mit dem
    gleichen Tonfall.
    Solche Schüler habe ich zu Dutzenden. Üben so gut wie gar nicht, hängen
    lässig vor dem Instrument und kontern jede Bemerkung mit einer
    Schlagfertigkeit, um die sie manch ein Erwachsener beneiden würde. Und
    wenn ich es wage zu erwähnen, dass ich in den nächsten Tagen die Eltern
    informieren werde, kommt ein cooles „Solange mein Vater bezahlt, kann
    es Ihnen doch egal sein, ob ich Klavier lerne oder nicht. Haben Sie
    eigentlich Noten von Eminem?“
    Habe ich, ihr Blödmänner. Aber mein Job ist es, mit euch und auch gegen
    euren Willen das Lehrbuch durchzuarbeiten. Große Klappe und nichts
    dahinter.


    „Ihr solltet mal euren Flügel stimmen lassen. Das tiefe Fis hat sich
    verzogen.“
    Bingo. Der Junge hatte Recht. Volker hatte vor Beginn des Wettbewerbs
    die Saite nachgezogen, war aber mit dem Ergebnis nicht ganz zufrieden.
    „Warst du heute um elf Uhr schon da?“, fragte ich.
    „Nee, gerade erst gekommen.“
    Konnte ein Zufallstreffer sein. Oder das Kind hatte gelogen. Ich
    versuchte es mit ein paar Testfragen.
    „Spielst du schon lange Klavier?“
    „Nee, aber Lego.“
    „Ich glaube dir kein Wort. Bist du für den Wettbewerb angemeldet?“
    „Sehe ich so beschissen aus?“
    Das konnte ich nicht durchgehen lassen: „Rede vernünftig mit mir, ich
    bin auch höflich zu dir!“
    Der Junge sah tatsächlich nicht wie die anderen aus. Die übliche
    Kleiderordnung sah Samtröcke, dunkelblaue Cordhosen und allenfalls
    einen Streifenpulli vor. Dieses Kind hier trug Jeans und ein weites
    T-Shirt mit einem verblichenen Spiderman-Aufdruck.
    „Ich rede gar nichts mehr“, unterbrach der Junge meine Betrachtungen,
    holte ein graues Kaugummi aus dem Mund, zog es mit den Fingern zu einem
    klebrigen Band auseinander und betrachtete es eingehend.
    „Lecker“, murmelte ich und wandte mich ab.
    Im Saal setzte höflich dünner Applaus ein und verebbte unhöflich schnell
    wieder.


    „Nörgelst du immer so viel rum? Scheißladen hier.“
    Diese Junge war mir unsympathisch. Mehr noch als die feingemachten
    Sprösslinge mit ihren hufescharrenden Müttern.
    „Jetzt pass mal gut auf, wertes Kind: Ich habe fast den gesamten Tag in
    diesem Saal gesessen, mir Dutzende von Musikstücken angehört,
    applaudiert und durchgehalten, auch wenn es nicht zum Durchhalten war.
    Dazwischen habe ich Gespräche mit allen Beteiligten geführt, meinen
    Kollegen Kaffee gebracht und für ein halbwegs erträgliches
    Betriebsklima gesorgt, weil da drinnen Leute sitzen, die sich vor
    Nervosität fast in die Hose machen. Hier geht es um einen Wettbewerb,
    ums Weiterkommen, hier werden erste, zweite und ich weiß nicht welche
    weiteren Plätze vergeben. Und du kommst von draußen vom nächstbesten
    Spielplatz hereinspaziert und fällst mir verdammt noch mal fürchterlich
    auf den Wecker! Ich schlage vor, dass du auf der Stelle dieses Gebäude
    verlässt! Sofort!“
    Meine letzten Worte waren mir subito fortissimo herausgerutscht und
    hallten durch den Flur. Hoffentlich war die Saaltür genügend isoliert.
    „Alte Ziege!“, antwortete der Junge ungerührt, rutschte von der
    Fensterbank und entwischte in den Saal, noch ehe ich ihn packen konnte.
    Er sprang auf die leere Bühne und nahm auf dem Hocker Platz. „Halt!“,
    rief ich, „das geht doch nicht!“
    Der Junge ignorierte mich, schob sein Kaugummi in den Mund und zeigte
    auf Volker. „Du da, kannst du das Fis nachziehen? Klingt echt Scheiße.“
    Die Mütter tuschelten entsetzt. Volker blieb ungerührt. „Hast Recht,
    Kleiner. Ich ändere das. Sag Bescheid, wenn du mit dem Ton zufrieden
    bist.“


    Zwei Minuten später nahm Volker seinen Platz am Jurytisch wieder ein.
    Der Junge holte sein Kaugummi aus dem Mund, klebte ihn sorgfältig an
    das rechte Bein des Hockers, sah zu mir herüber und streckte mir
    grinsend die Zunge heraus. Und dann begann er sein Wettbewerbsprogramm.



    „Dressierte Äffchen magst du nicht, oder?“
    Kevin steht vor mir, in der einen Hand das alte T-Shirt, mit dem er es
    im letzten Jahr bis in den Bundeswettbewerb geschafft hatte, in der
    anderen Hand einen dunkelblauen Pulli.
    „Stimmt, Junge. Wenn ich wählen darf: Nimm den Pulli.“
    Er grinst und geht hinter die Bühne.
    Ich lehne mich zufrieden zurück. War eine harte Zeit, das Jahr. Zwar
    spielt der Junge Klavier wie ein Profi, aber sein Benehmen hat mich
    eine Menge Nerven gekostet, seit er bei mir Unterricht hat. Zumindest
    werden die Mütter und meine lieben Kollegen dieses Mal nichts an seinem
    Äußeren auszusetzen haben. Das Kaugummi habe ich ihm vorhin schon
    weggenommen.
    Kevin erscheint. Er trägt den dunkelblauen Pulli, vorne leuchtet in
    neongelben Lettern die Aufschrift „Jugend musiziert ...“
    Das Spiderman-Shirt hängt lässig über seinem Rücken. Ich schwitze
    nervös. Er nimmt auf der Bühne Platz, zwinkert Volker und mir zu, dann
    spielt er sein Wettbewerbsprogramm. Fehlerfrei. Ich bin stolz, rundum
    stolz auf ihn. Als der Applaus einsetzt, bin ich gerührt. Kevin gähnt
    ungeniert und streift sein T-Shirt ab. Auf dem Rücken leuchtet neongelb
    auf dunkelblau: „... finde ich total Scheiße.“

  • von JASS


    Mein Engel, wo gehst Du hin?


    Schwächer wird dein Licht mit jedem Tag. Deine Präsens verliert ihre bergende Wärme. Getrübt dein einst sanfter, klarer Blick. Deine Schwingen berühren mich kaum mehr.


    Lange spüre ich es schon, du strebst fort von hier, von mir. Ich merke deinen hilflosen Schmerz, zerrissen in dir. Er macht auch mich hilflos.


    Ich sehe dir hinterher, du drehst dich nicht mehr um, doch ich kann es trotzdem sehen. Du wendest den Blick ab, siehst mich nicht mehr an, doch ich kann es trotzdem sehen. Deine Pein quält dich. Sie quält auch mich.


    Mir ist, als ob es gestern wäre. Der Tag, an dem dein Glanz in meine blinden Augen drang. Als deine sanften Schwingen mich umhüllten, ward ich eins mit mir. Deine Wärme barg mich, deine Zärtlichkeit umgab mich. Du gabst mir ein Herz und ich nahm dir das deine.


    Nun lasse ich dich ziehen. Mein Geschenk für dich.


    Ich spüre dich nicht mehr.
    Wo bist du hin? Und warum hast du dich zurückgelassen…

  • von Moonshadow


    Vom Regen durchnässt stand sie weiterhin schweigend vor mir. Ihre leeren Augen hielten nichts, sie schien nicht einmal mich zu erblicken.
    Vielleicht versteht sie ja nur kein Deutsch.
    “Who are you?“
    “Noone“
    “What are you doing…”
    “Nothing”
    “Where are you going to?”
    “Nowhere”
    “BUT...”
    “No buts for the lost!”


    Kaum diese Worte ausgesprochen, die doch nichts erklärten, ging sie an mir vorüber. Nein, es war mehr so al würde sie gleiten, schweben.
    Ich spürte noch wie ihr nasses Haar an meiner Wange vorbei glitt, doch als ich mich nach ihr umdrehte stand ich allein in der Nacht. Der Regen prasselte auf die die Straße und ich stand allein im fahlen Licht der Laternen.


    …….


    Ein neuer Tag, ein anderer Zug, derselbe Weg. Dasselbe wie jeden anderen Tag. Ein Morgen wie jeder andere, an dem die Sonne wieder einmal die Nacht nicht verdrängen will.
    Trister Alltag!
    Häuser und Bäume jagen an mir vorbei. Aus meinem Discman trällert wieder mal 3 DOORS DOWN, deren Lieder meine Gefühle kaum besser widerspiegeln könnten, jene Lieder die mein Halt sind.
    Wenn dann der orange-gelbe Schein der frisch erwachten Sonne auf mich herab scheint schließe ich meine Augen und der Alltag verschwindet.
    Nur eines nicht!
    Jene regnerische Nacht, jenes mysteriöse Mädchen. Immer noch hallen ihre Worte in meinem Kopf. Mit jedem Regentropfen. In jeder verregneten Nacht….


    Ein Mädchen vom Regen durchnässt. Ein Mädchen mit schlohweißem Haar und einem wunderschönen blutroten Kleid. Ein Mädchen gleich eines Wesens frisch einer alten Legende entsprungen. Doch ihre Augen… Ihre Augen waren vollkommen leer.
    Wer… oder besser Was?
    Vielleicht je heute Nacht.
    Heute ist es genau fünf Jahre her. In der ersten Zeit ging ich ständig, jede Nacht wieder zu dieser Allee. Jetzt auf der neuen Schule ist das nicht mehr möglich. Aber einmal im Monat kehre ich immer zurück. Und jedes Jahr aufs Neue an diesem Tag.
    Mit jedem vergebenen Warten schwindet meine Hoffnung. Sehe ich sie jemals wieder? Vielleicht… Vielleicht sogar heute! Ich weiß es nicht. Nur eines ist sicher, jedes Jahr an diesem Tag begann es zu Regnen, zur selben Zeit. Jedes Jahr war es eine verregnete, einsame Nacht.
    Zufall…?
    Schicksal…?


    „Nächster Halt Ludwigsburg.“
    Und wieder in der Realität. Bis…. Bis heute Nacht jedenfalls!


    …..
    Und wieder eine einsame, verregnete Nacht. Nur eins scheint mir anders… Ist es nicht dunkler als sonst? Als sonst… FALSCH! Sonst war es immer heller. Ich erinnere mich in jener Nacht war auch eine der Straßenlaternen defekt. Eine oder diese? Egal jedenfalls war es recht dunkel, daher habe ich sie ja auch erst nicht bemerkt.
    Bitte.. Oh, BITTE!
    “Thank you.“ Was… woher…?
    “I thought you would give up like the others.“
    Ihre Stimme? Aber heute ist sie nicht so betrübt wie damals. Heute hat sie wirklich Leben in sich.
    Dort steht sie. Genau wir vor fünf Jahren. Völlig durchnässt. Nur heute treffen ihre Augen die meinen. Ihre Augen… die leuchten wie der Vollmond.
    “You searched for me and saved… my immortal soul. Thank you! Now I`m free.”
    Ihre Seele... unsterbliche Seele....
    Ein Kuss auf meine Wange und wieder flieht sie an mir vorbei. Wieder allein in der verregneten Nacht. Während der Regen versiegt und der Himmel aufklart… und ihr Lachen noch immer widerhallt.


    …..


    Ein vergehender Tag, ein weiterer Zug, derselbe Weg. Das Selbe wie jeden Tag. Ein Nachmittag wie jeder andere, an dem die müde Sonne langsam vergeht.
    Wenn dann ihr goldener Schein auf mich nieder scheint schließe ich die Augen und der Alltag verschwindet.
    Ich kann kaum noch auf die Nacht warten, denn heute ist wieder Vollmond. Der zwölfte Vollmond seid jener Nacht. Immer wenn ich ihn erblicke hallt ihr Lachen in mir wieder. In jeder klaren Vollmondnacht.
    Wie passen. Genau heute ist es ein Jahr her. Genau heute ist Vollmond. Genau heute…
    An jenem schicksalhaften Tag, der sonst immer verregnet war.
    Ich hebe das Gefühl, heute werde ich unterm Mondschein in jener Allee wandeln.


    „Nächster Halt Kirchheim.“
    Nicht mehr lang bis zur Nacht


    ……


    Klarer Sternenhimmel. Ob ihr Lilien wohl gefallen hätten? Frei…. Ich weis zwar immer noch nicht was sie meinte aber es hörte sich gut
    AUTSCH!!
    „Oh Verzeihung. Tut mir echt leid. Ich war voll in Gedanken versunken.“
    „Schon gut. Ich kann was…ähm.“
    Ich glaube es nicht! Diese Augen… ihre Augen! Schlohweißes Haar.
    „Alles OK? Siehst aus als hättest du einen Geist gesehen.“
    „Nein, nein. Ich war gerade nur etwas von der Rolle. Ich hab auch nicht aufgepasst. Sollte lieber nachts Träumen.“
    „Na ja, Nacht haben wir ja schon. Hahaha“
    Dieses Lachen… ihr Lachen! Als ob jenes Mädchen vor mir steht.
    „Äh, was treib so eine Schönheit hierher zu so später Stunde?“
    „Das hört sich sicher lächerlich an aber ich besuche eine alte Überlieferung.“
    ???? Überlieferung? Seltsame Frau.
    „Meine Urururur ach ich weiß nicht wie viele `Urs` das sind, jedenfalls wurde vor langer Zeit eine meiner Vorfahren hier als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Der Überlieferung zu folge soll ihre Seele verflucht worden sein und zwar von dem Mann den sie einst verschmähte und der sie auf den Scheiterhaufen brachte. Ihre Seele sollte keine Ruhe finden, bis sich jemand kommt und sie sucht, sie nicht aufgibt und das für….“
    „Fünf Jahre!“ „Genau. Woher?“ „Das ist eine lange Geschichte.“


    Eine fünf Jahre lange Geschichte! Jedenfalls für mich.

  • von Tom


    „Schon wieder?“ fragte Bruno. Er stand im Schlafzimmer, drehte einen Fuß auf der Spitze traurig hin und her, beobachtete Anita beim Sachenpacken.
    Nita hob nur kurz den Blick, schien ihn kaum wahrzunehmen.
    „Ich ertrage Dich einfach nicht“, sagte sie, schon wieder ganz auf ihre Reisetasche konzentriert. „Wir müssen das nicht jedes Mal diskutieren.“
    „Du bist meine Frau.“
    „Und Du bist mein Mann.“
    „Warum fährst Du dann jedes Wochenende weg?“
    „Nur noch, bis das Kind da ist.“


    Es hatte vor zwei Monaten angefangen, da war Nita im vierten gewesen. Plötzlich hatte sie jede Berührung verweigert, sich weggedreht, wenn er sie küssen oder sich an sie kuscheln wollte, von Sex mit ihr träumte er schon nicht mal mehr. Dabei fand er sie um so attraktiver, je praller ihr Bauch wurde. Manchmal, wenn sie morgens ins Bad ging, holte er sich rasch einen runter, mit ihrem Bild vor Augen, wie sie aus dem Nachthemd schlüpft und sich den Bademantel überwirft. Meistens kam er, bevor sie zurückkehrte.


    An diesem Freitagabend vor zwei Monaten hatte sie ihren Krempel gepackt und angekündigt, über das Wochenende zu ihrer Freundin Michaela zu fahren.
    „Du bist mir zu nahe. Du und das Kind, das ist mir zu viel. Am Montag bin ich wieder da. Ich brauche das einfach.“
    Bruno hatte genickt, auch, als sie am Montagnachmittag wiederkehrte, gelöst, entspannt, lächelnd. Sie hatte ihm verboten, sie anzurufen; das hätte er auch nicht gekonnt: Von einer Freundin Michaela hatte er bis dahin nie etwas gehört.
    Es wiederholte sich am darauffolgenden Wochenende. Und wieder. Und wieder. Bruno saß alleine zuhause, oder er ging in die Kneipe, um mit Harry, seinem besten Freund, Bier zu trinken.


    „Sie drehen durch, wenn sie schwanger werden“, sagte Harry.
    „Ich habe Angst, daß es einen anderen gibt“, murmelte Bruno.
    „Quatsch. Ich kenne das. Ihre Hormone tanzen Samba, nur eben nicht mit Dir.“
    „Dabei finde ich, daß sie toll aussieht mit dem Bauch.“
    „Ehrlich?“ Harry nippte an seinem Bier und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
    „Ja. Ich krieg schon ein Rohr, wenn ich sie ansehe.“
    „Und wann habt Ihr zuletzt ...?“
    Bruno zog die Stirn in Falten.
    „Keine Ahnung. Vor einem halben Jahr, schätze ich.“
    Harry zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche und blätterte in einem Seitenfach. Er legte eine speckige Visitenkarte auf den Tresen.
    „Probier’s mal hier.“ Er grinste breit.
    Nita stand schon in der Tür, als der Taxifahrer klingelte.
    „Die Wochenenden ohne Dich sind furchtbar“, sagte Bruno, und er meinte es so, wie er es sagte.
    Sie lächelte ihn an. „Es ist ja bald vorbei.“


    Harry hatte an diesem Samstag keine Zeit, also hockte Bruno alleine in der Kneipe und kippte einen Halben nach dem anderen. Kurz nach Mitternacht setzte ihn Hilda, die dralle Tresenfrau, vor die Tür. Er stand in der kalten Märzluft und dachte an den letzten Satz von Nita: Es ist ja bald vorbei.


    Zum Bahnhofsviertel waren es nur ein paar Blocks. Bruno war fast überrascht, als er sich vor dem unscheinbaren Mietshaus wiederfand, dessen Adresse auf der Visitenkarte gestanden hatte. ‚Club Chateau, nur für Mitglieder’ las er vom Klingelschild ab. Die Haustür öffnete sich, zwei Männer Ende vierzig, die sich eingehakt hatten, kamen ihm entgegen.
    „Was überlegst Du?“ fragte der eine, leicht lallend. „Rauf, rein, raus, runter.“ Die beiden lachten.
    Bruno dachte an Nita, er dachte an die vergangenen Monate, und er dachte auch daran - er spürte es -, daß er sie liebte. Er freute sich auf das Kind, er freute sich darauf, daß bald alles wieder normal wäre.
    Und er war erregt bis in die Ohrenspitzen. Sein Verlangen nach körperlicher Nähe, nach Sex, nach Kopulation und Vereinigung war enorm.
    Er drückte den Klingelknopf. Gleichzeitig ertönte der Summer für die Haustür.


    „Na, Schätzchen, schon mal hiergewesen?“ Die Frau, die die Wohnungstür aufhielt, war Ende zwanzig, trug ein durchsichtiges Negligé und einen String. Bruno hörte Musik und Gelächter, die Wände im Flur waren mit rotem Stoff bespannt, in Messingleuchten flackerten künstliche Kerzen.
    „Nein, ich bin kein Stammgast.“
    „Jetzt schon“, sagte die Frau lächelnd, küßte ihn auf die Wange und zog ihn hinein.
    An der Bar saßen vier Männer in Anzügen, und jeder hatte ein Mädchen auf dem Schoß. Auf dem Tresen standen Sektkühler, in jedem zweiten Glas hing ein Strohhalm. Bruno setzte sich, bestellte ein Bier.
    „Zweihundertfünfzig für die erste Stunde“, erklärte die Frau, die ihn begrüßte hatte und jetzt hinter der Bar stand. „Eine Flasche Sekt ist enthalten. Jede weitere Stunde kostet hundertfünfzig.“
    Bruno nickte. Er roch ein süßliches, intensives Parfum. Eine junge Blondine hatte sich neben ihn gesetzt, lächelte jetzt - und spreizte die Beine. Sie trug nichts unter dem geschlitzten Lederröckchen. Bruno konnte seinen Blick nicht abwenden.
    „Wie wär’s mit ein’ bißchen Spaß?“ fragte sie. Bruno schüttelte den Kopf, aber er wußte nicht, warum.


    Eine halbe Stunde später schüttelte die Barfrau auch den Kopf.
    „Herzchen, das waren sie alle. Ist denn wirklich keine für Dich dabei?“
    Er legte den Kopf schief, nippte an seiner dritten Flasche Bier. „Meine Frau ist schwanger, aber sie will nicht mehr mit mir schlafen“, erklärte er.
    „Aber Du würdest gerne?“ fragte sie, über den Tresen gelehnt. Es gab nichts, das er nicht sehen konnte.
    „Ja“, sagte er.
    „Wir haben da noch jemanden. Sie bedient nur spezielle Gäste, und sie kommt nicht herunter. Aber es könnte das sein, was Du willst.“
    Sie kam vor den Tresen, nahm seine Hand und zog ihn vom Barhocker.
    Sie gingen durch den Flur, eine Treppe hoch und kamen in einen weiteren Flur, der dem ersten glich. Die Barfrau klopfte an eine Zimmertür. „Süße, bist Du frei?“
    „Für alles und jeden“, kam durch die Tür.
    Die Barfrau drückte die Klinke herunter. Der Raum war schummrig beleuchtet, ein großes, rosafarbenes Himmelbett nahm fast die gesamte Fläche ein. Auf dem Bett lag eine schwangere Frau, die außer Seidenstrümpfen überhaupt nichts anhatte.
    „Hallo, Bruno“, sagte Nita.