MYTHOS ÜBERFREMDUNG - Doug Saunders

  • Titel der Originalausgabe: The Myth of a Muslim Tide - Do Immigrants Threaten the West?
    Karl Blessing Verlag (22. Oktober 2012), 2. Auflage
    Hardcover, 256 Seiten, 18,99 €
    ISBN: 978-3896674869


    Klappentext
    Dieses Buch ist keine Verteidigung des Islams. Sein Autor, ein standhafter Fürsprecher des säkularen Liberalismus, schreibt mit derselben Furcht vor religiösem Extremismus, die auch die antimuslimischen Aktivisten antreibt, aber seine konsequente Orientierung an den Fakten führt ihn zu anderen Schlussfolgerungen. Dieses Buch befasst sich nicht mit den Aussagen des Korans oder denjenigen anderer heiliger Bücher. Es stellt vielmehr eine Reihe wichtiger Fragen: In welchem Umfang sind muslimische Einwanderer gläubige Anhänger ihrer Religion oder buchstabengläubig? (...) Folgen die Kinder und Enkel den Glaubensüberzeugungen und der religiösen Praxis ihrer Eltern? Wem oder was gilt ihre Loyalität? Aus welchen Quellen speist sich ihre Identität? (...) Und die allerwichtigste Frage lautet: Wie unterscheiden sie sich von früheren Einwanderergenerationen, die religiösen und kulturellen Minderheiten angehörten? Gibt es Anzeichen dafür, dass sie weniger integrationsfähig sind als frühere Einwanderergruppen? (...)


    Autor
    Doug Saunders, Jahrgang 1967, ist kanadisch-britischer Autor und Journalist. Für seine Reportagen und Kolumnen wurde er bislang vier Mal mit dem National Newspaper Award ausgezeichnet, dem kanadischen Pendant des Pulitzers. Sein von der Presse hochgelobtes erstes Buch "Arrival City" (Blessing 2011) wurde für renommierte Sachbuchpreise nominiert und gewann den Donner Prize.


    Meine Meinung
    "Unsere von Sarrazin geprägten Vorstellungen über muslimische Einwanderung sind falsch." So steht es auf dem Cover unter dem Titel. Und den Beweis für diese Behauptung führt der Autor in diesem Buch sehr akribisch, manchmal wegen der vielen Zahlen auch etwas anstrengend, meistens aber überzeugend. Er will, um noch einmal den Klappentext heranzuziehen, "keineswegs behaupten, dass es bei der Einwanderung, in 'kulturübergreifenden' Beziehungen oder in muslimischen Gesellschaften rundum friedfertig oder ideal zugeht. Doch erst wenn wir endlich die Geschichten von der 'Überfremdung' und der 'Flut' hinter und gelassen haben, können wir uns den wirklichen Problemen zuwenden, die sich in den Bereichen Religion, Einwanderung, Extremismus, Integration und kulturelle Zusammenarbeit ergeben."


    Besonders beeindruckt hat mich die erkennbar tief gehende und gründliche Recherchearbeit des Autors, die er teilweise mit Hilfe der Teams von namhaften internationalen Wissenschaftlern durchgeführt hat. Die Erkenntnisse sind frappierend und weit entfernt von den Bauchgefühlargumenten z. B. eines Sarrazin, aber eben auch auf Grund ihrer Vielfalt und Menge durchaus fordernd für den Leser. Manche Passagen habe ich einfach überschlagen, wenn ich der Ansicht war, dass die Position des Autors bereits hinlänglich glaubhaft dargestellt war.
    Das soll aber nicht heißen, dass das Buch insgesamt schwer zu lesen wäre - das Gegenteil ist der Fall. Es ist ein äußerst spannendes Sachbuch, voller hochinteressanter Erkentnisse, die, durch umfangreiche Studien belegt, in manchem Punkt bei mir ein Umdenken eingefordert haben. Dazu schreibt Saunders flüssig und fesselnd.
    Insbesondere die tiefgehende Betrachtung der verschiedenen weltweiten Einwanderungswellen aus historischer Sicht ist frappierend. Denn die aktuelle muslimische Einwanderung ins westliche Europa ist ja kein Präzedenzfall. Es lohnt sich, dem Autor aufmerksam in seiner Betrachtung der "katholischen Flut" oder der "jüdischen Flut" zu folgen, die hinsichtlich ihres Ablaufs über die Generationen sehr wohl vergleichbar waren.


    Besonders wird in diesem Buch klar, dass fast alle (Fehl-)Urteile im Zusammenahng mit der "muslimischen Flut" von der Angst der Westeuropäer vor "Überfremdung" gesteuert sind, eine Angst, die allen Einwanderern, wo hinein auch immer, in der Geschichte entgegengebracht wurde. Fast immer, das weist Saunders nach, war diese Angst der schlimme Ratgeber für falsche politische Entscheidungen und gefährliche gesellschaftliche Fehlentwickungen.


    Bisweilen verbeißt sich Saunders etwas zu sehr in seine Botschaft, ein Fehler, der Vielen unterläuft, die sich mit Leidenschaft (und in diesem Fall argumentativ überzeugend) gegen den Meinungs-Mainstream stemmen. Das hätte er nicht nötig, denn er liefert fundierte Beweise zuhauf.


    Ein lesenswertes Buch, ein Muss für alle, die dieses wichtige Thema umtreibt, die aber auch bereit sind, ihre eigenen geliebten Vorurteile in Frage zu stellen. Und vor allem endlich ein ernsthaftes Werk im Kanon der vielen auf Stammtischniveau lamentierenden Publikationen, die scheinbar "dem Volk aufs Maul schauen" und damit gefährliche, erwiesenermaßen falsche Ängste schüren.

  • Danke, Alex, für das Feedback. Dies poste ich jetzt nur, um den Thead noch mal hochzuholen ...
    Sachbücher, auch wenn sie noch so brisant sind, scheinen - trotz gründlicher Besprechung - hier nur Interesse zu finden, wenn sie vorher durch BILD oder Jauch ins Gespräch gebracht wurden. Für dieses Buch ist das schade. Es wäre besonders empfehlenswert für diejenigen, die sich schon über "Neukölln ist überall" rege ausgetauscht haben.
    Vielleicht wird's ja noch was ... :grin

  • Hallo Dieter, steht auf meiner Liste und wird akribisch durchgearbeitet, nachdem ich das Buch "Islamismus in Deutschland" gelesen habe. Was ich allerdings noch nicht wusste, dass ich eine Marionette Sarrazins bin: Überfremdung: Eine Abrechnung "Unsere von Sarrazin geprägten ... über muslimische Einwanderung sind falsch."

  • Zitat

    Original von beisswenger
    Hallo Dieter, steht auf meiner Liste und wird akribisch durchgearbeitet, nachdem ich das Buch "Islamismus in Deutschland" gelesen habe. Was ich allerdings noch nicht wusste, dass ich eine Marionette Sarrazins bin: Überfremdung: Eine Abrechnung "Unsere von Sarrazin geprägten ... über muslimische Einwanderung sind falsch."


    Da haste ganz recht, Kai: Der Subtitel gefällt mir auch nicht, verallgemeinert unzulässig. Ist wohl ein Versuch, durch diesen Reiznamen Interesse zu wecken. Na ja, da kann der Autor nix dafür ...
    Bin sehr gespannt auf deine Meinung! :wave

  • Danke für die Buchvorstellung! Das möchte ich auch gerne lesen. Ich habe einen Bericht darüber gesehen inkl Interview des Autors, das war sehr sympathisch.

    Ailton nicht dick, Ailton schießt Tor. Wenn Ailton Tor, dann dick egal.



    Grüße, Das Rienchen ;-)

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von rienchen ()

  • Von Sarrazin bin ich nicht geprägt worden, allerdings hat er eine wichtige Debatte angestoßen, die dieses Buch erst möglich gemacht hat. Zwar missfällt mir manchmal der Tenor des offensichtlichen Schönfärbers Saunders, aber an vielen seiner Widerlegungen der angeblichen Behauptungen ist etwas dran. Wobei wir vorsichtig sein müssen: Erstens sind die Behauptungen, die er widerlegt, nicht so einförmig wie er sie darstellt, denn diejenigen, die die Behauptungen aufgestellt haben, sind oft sehr unterschiedlicher Meinung. Zweitens sind die Wertungen des Autors nicht immer glücklich.

    Zudem missfällt die Semantik und oftmals sind Aussagen des Autors eindeutig falsch. So sei Sarrazin ein führendes Mitglied der SPD gewesen. Das war er aber nie, denn er war „nur“ Staatssekretär im Ministerium für Finanzen in Rheinland-Pfalz und Berliner Senator für Finanzen.

    Auch die Behauptung, Sarrazin als Vertreter der Linken habe eine Denkweise über religiöse Minderheiten wiederbelebt, die sechs Jahrzehnte aus dem politischen Gedankengut der Deutschen verbannt gewesen war, ist nicht nur äußerst grenzwertig, sondern auch falsch (Seite 46). Der Knaller ist aber das Wort "Eurabien" - ein Unwort und völliger Blödsinn.


    So ziehen sich die Halbwahrheiten wie eine Schleimspur durchs Buch, manchmal hat der Leser den Eindruck, es handle sich um Satire.


    Dennoch hat der Autor oft Recht und sein Zahlenmaterial beruht auf seriösen Quellen, auch wenn er es manchmal etwas blauäugig verkauft. So schreibt er, dass gemäß PEW-Studie der Anteil der Muslime in Deutschland von 5% im Jahre 2010 auf 7,1% im Jahre 2030 steigen wird. Nun kann man über Prognosen streiten und man sollte sich auch nicht nur auf eine verlassen. Nach der Prognose „Islam in Deutschland 2030“ der Universität Tübingen wurden statt 7,1% satte 10% prognostiziert. In einigen westdeutschen Städten sogar ein Drittel. Das bedeutet, dass in manchen Stadtteilen der Großstädte (Berlin-Neukölln, Duisburg-Marxloh, Dortmund-Nord) der Anteil durchaus über 50% liegen wird. Und damit ist er von den Aussagen Sarrazins nicht mehr weit entfernt.


    Dann unterschlägt er, dass kein Problem für Großbritannien durchaus ein Problem für Deutschland sein könnte. Während 77% der britischen Muslime sich sehr stark mit ihrem Land identifizieren, sind es in Deutschland nur 40%. Wenn er für Europa eine starke Identifizierung konstatiert, sollte er ganz speziell für Deutschland recht vorsichtig sein (Seite 105).


    Seine Vergleiche des Islam mit dem Judentum und mit dem Christentum sind fahrlässig (S. 96ff), denn er unterschlägt, dass es im Einflussbereich des Islam keine Aufklärung gegeben hat und der Islam seinen Bruderreligionen um 500 Jahre hinterherhinkt. Insofern sind diese Vergleiche unzulässig.


    Saunders widerlegt scheinbar die These von der Zunahme des islamistischen Extremismus (Seite 152ff), unterschlägt aber, dass die Sauerland Gruppe und die Kofferbomber von Köln die Statistik besonders im Vergleich mit rechtsextremer Gewalt völlig verändert hätten, falls Verfassungsschutz und Polizei nicht so wachsam gewesen wären. Und er unterschlägt die Zunahme des Gewaltpotenzials unter Hobbydschihadisten und Internetterroristen.


    So erinnert Saunders sehr stark an Sarrazin. Während der eine übertreibt, untertreibt der andere.


    Nehmen wir an, Saunders wäre Doktorand und ich wäre sein Professor. Ich hätte ihm für die Arbeit ein gutes Ausreichend gegeben – ich bin eben ein netter Kerl!