Algerische Trilogie Band 1: Das große Haus – Mohammed Dib

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  • Algerische Trilogie


    Originaltitel: La Grande Maison


    Progress-Verlag, 1956 auf Deutsch erschienen
    Gebundene Ausgabe, 212 Seiten


    Kurzbeschreibung:
    Dar-Sbitar, das große Haus, ist eine alte, dichtbevölkerte Mietskaserne in der algerischen Stadt Tlemcen. Wie viele Menschen in diesem Gebäude hausen, vermag niemand zu sagen. Tagaus, tagein hallen die Treppen, die Galerien und der Hof von Rufen und Kindergeschrei, vom Lärm und Streit wieder, und erst in den Abendstunden erlebt Dar-Sbitar eine kurze Zeit der Entspannung. In dieser Umgebung wächst der kleine Omar auf. Wachsam beobachtet der Zehnjährige alles, was um ihn herum geschieht, und bemüht sich, die fremde, geheimnisvolle Welt der Erwachsenen zu begreifen. Unzählige Fragen, auf die er noch keine Antwort weiß, bewegen ihn. Warum verlangt der Lehrer, dass Omar und seine Kameraden dem fernen Frankreich, einem nie gesehenen Land, Liebe und Gehorsam entgegenzubringen? Warum finden sich die Erwachsenen widerspruchslos mit ihrer Armut ab? Es wäre doch so einfach, sich zu empören! Warum wird Hamid Sarasch verhaftet, obgleich er die Wahrheit spricht...


    Über den Autor:
    Mohammed Dib war ein algerische Schriftsteller. Er wurde vor allem durch seine "Algerische Trilogie" ("Das große Haus", 1954, dt. 1956; "Der Brand" 1954, dt. 1956; "Der Webstuhl" 1957) bekannt. Weitere Romane: "Gott bei den Berbern" (1970), "Abel" (1977), "Die Terrassen von Orsol" (1985), "Die maurische Infantin" (1994); auch Novellen und Essays. 1994 erhielt er als erster nordafrikanischer Schriftsteller den Großen Preis der Francophonie der Académie française.


    Mein Eindruck:
    In diesem ersten Teil der algerischen Trilogie beschreibt Mohammed Dib das Leben des 10jährigen Omar und seiner Familie.ca. Ende der 30ziger Jahren. Sie leben mit vielen anderen Mietern in einem großen Haus in Tlemcen, Algerien. Die Mutter Naini zieht ihre 3 Kinder ohne Vater auf, sie sind verarmt und es geht beengt zu im kleinen Mietszimmer. Finanzielle Nöte beherrschen das Leben. Kein Wunder, das für Omar der Hunger allgegenwärtig ist. Die meiste Zeit verbringt er auf der Straße, zwischen den Kinderbanden herrscht nahezu Krieg. In der Schule werden erste Ressentiments gegen die französischen Besatzer spürbar. Es gibt auch Verhaftungen. Doch dann droht bald der zweite Weltkrieg auszubrechen.


    Das Buch lebt von Omars Wahrnehmungskraft und Beobachtungsgabe. Zwar verwehren ihm die Lebensumstände noch hartnäckig, das Leben in seiner ganzen Fülle zu erfassen, ein Schleier trennt ihn von der Erkenntnis, aber er stellt das Leben in Frage. Er wundert sich über die Erwachsenen, die alles nur hinnehmen und ansonsten widersprüchlich handeln.


    Ein wichtiges Thema, dass Mohammed Dib aufzeigt ist, wie Armut zu Elend führt.
    Obwohl Aini die Nächte an ihrer Nähmaschine durcharbeitet und sich sogar auf riskante Schmuggler- und Schwarzmarktaktivitäten einlassen will, reicht es kaum, die Kinder und ihre kranke Mutter durchzubringen. Satt essen können sie sich nie, für mehr als Brot langt es kaum.
    Aber so geht es dem größten Teil der Bevölkerung in dieser Zeit. Das Elend führt zum zerbrechen aller sozialen Netze, Kriminalität und Verrohung wird zum Normalzustand. Der Tod ist nicht mehr zu fürchten, er lockt vielmehr als Erlösung.


    Ich finde das Buch so interessant, weil es 1952 zu einer Zeit noch vor der französischen Revolution entstanden ist. Die Stimmungen der Zeit sind daher sehr viel authentischer als später entstandene Romane, die das Thema nachträglich rekonstruieren.


    Es ist Mohammed Dibs erster Roman. Die experimentelle Schreibweise seiner späteren Bücher fehlt hier, dafür wird umso atmosphärischer geschrieben. Eine große Ausdrucksstärke ist von Anfang an da.


    Mit den Büchern Der Brand und Der Webstuhl wird Das große Haus fortgesetzt. Teil 2 habe ich mir bereits bestellt.

  • Vielen Dank, Herr Palomar, für diese Buchvorstellung. Sie hat mich sehr neugierig gemacht, weil Algerien für mich ein reativ unbeschriebenes Blatt ist. Also habe ich mir jetzt die ganze Trilogie ausgeliehen.


    Schon nach ein paar Seiten traf mich das Buch mit voller Wucht. Ich war zu tiefst beeindruckt von der Beschreibung der Vorgänge im Pausenhof, ein Abbild der ganzen Welt im kleinen: Machtkämpfe, Unterdrückung, Verehrung, Erpressung, Fürsorge und Verantwortungsgefühl.
    Das "Ungeheuer" Omar erpresst von anderen Schüler das Pausenbrot, schüchtert sie sein, verprügelt sie. Um dann einem kleineren, unscheinbaren Außenseiter ein Bonbon zu schenken!


    Im weiteren Verlauf des Buches wird schnell klar, warum Omar so ist, wie er ist. Große Teile der Bevölkerung sind von Verelendung betroffen. Familien leben zusammengepfercht in einem einzigen Zimmer in Mietskasernen. Hunger ist ständiger Gast. Die Erschöpfung und Verzweiflung gehen so weit, dass der Tod als eine "goldene Decke" empfunden wird.
    Sogar der gerade bei orientalischen Völker viel beschworene Familienzusammenhalt funktioniert nicht mehr.


    Das tägliche Problem Hunger beschreibt er, wie nur einer es kann, der es selbst erlebt hat.
    Omar hat seine eigene Strategie, mit dem Hunger umzugehen, ja ihn zu zähmen. Er geht eine Beziehung mit ihm ein, gegründet auf gegegseitige Achtung, wie Menschen, die sich anfangs gar nicht mögen, eines Tages aber feststellen, dass sie einander wert sind. Auf eine liebevolle Art lässt er sich vom Hunger wie von einer Mutter in den Schlaf wiegen.
    Außerdem findet er prägnante Metapher, und auch der folgende geniale Dialog hat mich erst einmal pausieren lassen: "Na, habt ihr gegessen? ..." "... dass wir gegessen haben, wollen wir lieber nicht behaupten. Allenfalls, dass wir unseren Hunger zum Narren gehalten haben"...


    Omar versteht nicht, warum sich die Menschen nicht gegen diese Zustände wehren. Er spürt, dass sie Angst haben. Doch wovor? Irgendetwas geht vor in der Bevölkerung. Es taucht jemand auf, der mit Worten genau ausdrücken kann, wie es der armen Bevölkerung geht. Auch bei seiner Mutter steht plötzlich, wie aus dem Nichts, die Frage im Raum, wer Schuld hat.


    Gerade der Blickwinkel eines Kindes, das vieles noch nicht versteht, aber alles beobachtet und hinterfragt, macht dieses kleine, aber feine Buch so interessant und berührend, so dass ich es fast in einem Rutsch ausgelesen habe. Und man wünscht diesem Kind so sehr, dass es später seine Chance bekommt.