Vicco von Bülow
Im Frühjahr des Jahres 1985 kehrte der ehemalige Bischof der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg Albrecht Schönherr von einer Reise aus der Bundesrepublik Deutschland in die DDR zurück. Schönherr genoss als hochrangiger Kirchenmann das Privileg der Reisefreiheit. Grenzübertritte, die seinen Landsleuten verwehrt waren, gehörten für ihn zur Routine. Dieses Mal war es aber anders. In seinem Gepäck befanden sich 60 Karikaturen und Zeichnungen eines namhaften Künstlers aus der BRD, bei deren Entdeckung es reichlich Ärger mit dem Ministerium für Staatsicherheit der DDR gegeben hätte. Diese Auseinandersetzungen war er zwar gewohnt, in diesem Fall hätte es aber auch die Konsequenz nach sich gezogen, dass eine in Kirchenkreisen gut vorbereite Veranstaltung im Dommuseum der Stadt Brandenburg an der Havel gefährdet worden wäre.
Schönherr wurde nicht kontrolliert und so konnte das Dommuseum die Ausstellung plangemäß durchführen. Hoher Besuch hatte sich angekündigt an jenem 18. Mai 1985, denn der namhafte Künstler selbst hatte sich zu einem Besuch in seiner Heimatstadt angekündigt. Wie aus späteren Aktennotizen bekannt wurde, unterschätzte die Stasi die Zugkraft der Persönlichkeit. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich durch Mund-zu-Mund-Propaganda die Nachricht über die Ausstellung und das Erscheinen des Prominenten. Über 1000 Menschen besuchten spontan die Ausstellung und viele bekamen den Besucher zu Gesicht, den sie bis dahin nur aus dem Fernsehen kannten. Die Stasi konnte dieses Aufflackern dieser im Untergrund inszenierten Verständigung zwischen Ost und West nicht verhindern und auch nicht die Tatsache, dass das Ereignis in den Westmedien die Runde machte.
Aber um wen handelte es sich bei diesem Heimkehrer, der übrigens bei der Veranstaltung durch sein Verhalten mit diplomatischem Geschick dafür sorgte, dass es keine negativen Konsequenzen für die Veranstalter gab und dem die Stasi in den Akten gar eine „loyale politische Einstellung zur DDR“ attestierte?
Bernhard-Viktor Christoph Carl von Bülow wurde am 12. November 1923 in Brandenburg an der Havel geboren. Die von Bülows sind ein prominentes Adelsgeschlecht aus dem Mecklenburgischen. Vicco, wie er genannt wurde, wuchs allerdings in recht bescheidenen Verhältnissen auf. Sein Vater war Major im preußischen Polizeiwesen. Seine Eltern trennten sich im frühen Kindesalter und seine Mutter erkrankte zudem schwer. Deshalb wurde er zusammen mit seinem einen Jahr jüngeren Bruder bei seiner Großmutter und seiner Urgroßmutter väterlicherseits in Berlin erzogen. Die Eltern ließen sich 1928 scheiden, seine Mutter verstarb als er sechs Jahre alt war. Im Alter von acht Jahren nahm der Vater, der eine neue Partnerin gefunden hatte, die Jungen auf. Für Vicco stellten diese wechselvollen Erlebnisse die Normalität dar, ein geregeltes Familienleben hatte er nie kennen gelernt. Bei den von Bülows war es nicht üblich, Gefühle zu zeigen. Diese fast an Verkrampfung grenzende Reserviertheit sollte auch den späteren Stil seines humoristischen Schaffens prägen.
1938 zog die Familie nach Stuttgart, wo er mit Kriegsbeginn 1941 ein Notabitur ablegen musste, da er für eine Offizierslaufbahn vorgesehen war und bald als Panzeroffizier an der Ostfront gebraucht wurde. Zu der Frage, ob er ein guter Offizier gewesen sei, soll er einmal geantwortet haben: „Nicht gut genug, sonst hätte ich zum Widerstand des 20. Juli gehört“.
Nach Ende des Krieges schlug er sich zunächst als Holzfäller durch und holte dann sein vollständiges Abitur nach. Auf Anraten seines Vaters studierte er zwischen 1947 und 1949 Malerei und Grafik an der Kunstakademie Hamburg. 1950 begann er, als Cartoonist in der Hamburger Zeitschrift „Der Stern“ zu publizieren. Für diese Veröffentlichungen wählte er sein heute aus der deutschen Unterhaltungskunst nicht mehr wegzudenkendes Pseudonym. Es entstand aus dem französischen Wort für das Wappentier der von Bülows, dem Pirol: „Loriot“.
Die erste Cartoonserie trug den Titel „Auf den Hund gekommen“. Hierfür erfand Loriot die berühmten Knollennasenmännchen und kreierte seinen absurd-ironischen Humor, der es anfangs allerdings nicht besonders leicht hatte, vom Publikum akzeptiert zu werden. Die „Stern“-Serie endete nach nur sieben Ausgaben, nachdem zahlreiche Leser empört über seine Karikaturen drohten, das Abonnement zu kündigen. Der „Stern“ wollte Loriot zunächst auch keine Aufträge mehr geben, veröffentlichte aber 1953 die Serie „Reinhold das Nashorn“ in seiner Kinderbeilage. Die Cartoons wurden von dem Schweizer Verleger Daniel Keel in dem gerade gegründeten Diogenes Verlag als zweite Veröffentlichung herausgegeben. Dies zog eine langjährige Zusammenarbeit nach sich, denn die Veröffentlichungen Loriots verhalfen dem jungen Verlag zu ungeahnten Erfolgen. Die Bekanntheit Loriots stieg langsam, aber kontinuierlich, auch nachdem er in den 60er Jahren erste Engagements auf der Bühne und im Film bekam.
Spätestens mit der Moderation der Serie „Cartoon“, die der Süddeutsche Rundfunk 1963 ausstrahlte, war der Name „Loriot“ aus dem deutschsprachigen Raum der Unterhaltungskunst nicht mehr wegzudenken. Es würde den Rahmen der Brandenburger Geschichten sprengen, alle erfolgreichen Arbeiten Loriots aufzuzählen. Wer kennt sie nicht, die Figuren „Wum und Wendelin“, die für viele Zuschauer in den 70er Jahren der Grund waren, eine Quizsendung namens „Der große Preis“ einzuschalten. Oder die Konversation der Herren Müller-Lüdenscheid und Dr. Klöbner in der Badewanne, das nach Hausfrauengefühl genau fünf Minuten gekochte Frühstücksei? Kaum wegzudenken auch die Sketche mit der unvergessenen Evelyn Hamann, die in seiner Fernsehserie „Loriot“ unsterbliche Klassiker der deutschen Fernsehgeschichte erschuf wie die Nudel im Gesicht, das Jodeldiplom und den Kosakenzipfel. Auch die Kinofilme „Ödipussi“ und „Pappa ante Portas“ waren große Erfolge und erleben regelmäßige Neuausstrahlungen.
Weniger bekannt sind seine Aktivitäten in der „ernsten“ Unterhaltungskunst. Er war ein Liebhaber der Oper und inszenierte als Regisseur unter anderem den „Freischütz“. Auch stammt von ihm eine Textfassung zu Camille Saint-Saens „Karneval der Tiere“.
2006 zog sich Loriot aus dem öffentlichen Leben zurück. Er lebte bis zu seinem Tode im August 2011 in Ammerland am Starnberger See mit seiner Frau und einem Rudel der von ihm heißgeliebten Möpse. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Waldfriedhof Heerstraße in Berlin.
Seiner Geburtsstadt Brandenburg an der Havel war er auch nach der Ausstellung und seinem Besuch im Jahre 1985 treu geblieben. Er rief 1993 die „Vicco-von-Bülow-Stiftung“ ins Leben, die sich unter anderem der Förderung musisch begabter Jugendlicher sowie dem Wiederaufbau und der Erhaltung kulturell wertvoller Baudenkmäler der Stadt widmet.