An diesem Tage lasen wir nicht weiter - Will Schwalbe

  • Inhaltsangabe laut Klappentext:
    Eine Mutter, ein Sohn und eine Welt von Büchern: Will Schwalbe erzählt vom letzten Lebensjahr seiner Mutter. Er erzählt von den Büchern, die ihrer beider Leben geprägt haben: Joseph und seine Brüder, Die Eleganz des Igels, Der Vorleser …
    Und er erzählt von Trauer, Angst und der Erkenntnis, dass das Glück ganz unerwartet aus dem Moment heraus entsteht. Am Ende erkennt Will: Lesen ist nicht das Gegenteil von Handeln – es ist das Gegenteil von Sterben.


    Zum Autor laut Klappentext:
    Will Schwalbe war Journalist bei der New York Times und danach Cheflektor bei den Verlagen William Morrow und Hyperion. Nach dem Ausstieg aus der Verlagswelt gründete er die Online-Kochrezeptsammlung Cookstr. Er lebt als Autor in New York.


    Die Übersetzung besorgte Henriette Zeltner; sie übersetzte auch die Zitate aus den noch nicht in deutscher Sprache erschienenen Büchern.



    Meine Meinung:
    Gebundenes Buch, insgesamt 383 und eine halbe Seite bedruckt. Nach einer Widmung und dem Inhaltsverzeichnis folgen nach der Vorbemerkung des Autors 28 Kapitel, ein Epilog, Dank und eine Leseliste sowie der obligatorische Quellennachweis.


    Eine Frau, deren Lebenslauf sich beeindruckend liest, deren Engagement im sozialen Bereich immens gewesen sein muss, gesegnet mit einer Lebensenergie, die mir Staunen abverlangt, und ausgestattet mit einem mir unersättlich erscheinenden Hunger auf Bücher, auf das Lesen und den Austausch darüber, erkrankt an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Will Schwalbe, einer ihrer Söhne, erzählt von wesentlich mehr als dem in der Inhaltsangabe annoncierten letzten Lebensjahr, er erzählt über eine Erkrankung, die letztlich zu der Diagnose Krebs führte, bis zum Tod der Mutter, er erzählt von ihrem Leben, von ihren Reisen in arme und ärmste Länder, in Krisen- und Kriegsgebiete. Er berichtet über die Organisationen, für die seine Mutter arbeitete und Spenden sammelte, aber auch von den kleinen alltäglichen Hilfen, die sie anderen Menschen zukommen ließ, Menschen, denen es finanziell und materiell schlechter ging als ihr. Er berichtet auch über sich und seine Geschwister, über das Leben der Familie, über die Prägungen, die sie erfuhren. Er erzählt über einen der kleinsten Leseclubs, der nur knapp zwei Jahre bestand und der zwei Personen als Mitglieder zählte, nämlich Mary Anne Schwalbe und ihren Sohn Will. Natürlich endet sein Erzählen mit der Trauerfeier, mit den Würdigungen, mit dem, was seine Mutter ihm „beigebracht“ (Seite 371) hat.


    Es ist beeindruckend, mit welcher Energie Mary Anne Schwalbe das, was sie gerade plante, in Angriff nahm, seien es nun die Beschaffung von Geldern für eine Bibliothek in Afghanistan, sei es das Lesen eines Buches gemeinsam mit ihrem Sohn, sei es die Behandlung ihrer Erkrankung. Es ist bewegend zu lesen, wie sehr sie auf andere Menschen zuging, wie sehr sie sich dort einsetzte, wo sie ihre Hilfe erforderlich wusste. Will Schwalbe nennt dies „leicht sozialistische Tendenzen“ (Seite 104), vielleicht verkennend, dass für seine Mutter der Glaube nicht nur Lippenbekenntnis war und sie nicht unbedingt politischer Motivation bedurfte, um zu teilen.


    Immer wieder komme ich, wenn ich über dieses Buch erzähle, auf das Wort „beeindruckend“ zurück. Und als beeindruckend empfinde ich auch, wie Will Schwalbe erzählt: Sachlich gewiss, ruhig, aber auch emotional. Höflich, wenn auch persönlich, erscheinen mir seine Worte, eine letzte Distanz wahrend. Zu höflich vielleicht, um mir die Wut, den Schmerz zuzumuten, wie das Schlingensief mit seinem „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein“ gelang. Eine Zuschauerin durfte ich sein, fühlte mich aber beinahe unbeteiligt, fühlte nicht den Wunsch, am Leben der dargestellten Personen teilnehmen zu wollen.


    Was für mich das Buch kostbar macht, sind die Gespräche über die gelesenen Bücher, sie eröffnen einen neuen Blick auf die, die ich schon kenne, sie machen Lust auf Neuentdeckungen, sie wecken das Bedauern, nicht mehr Zeit für Bücher und die Gespräche darüber zu haben. Dieses Buch ist ein Plädoyer für das gedruckte Buch (und man findet sehr starke Argumente gegen E-Reader in ihm), für das Lesen sowieso. Die Bandbreite der gelesenen Titel ist enorm, vom Roman zum Sachbuch, vom Krimi zur Biografie, von Gedichten bis zu Theaterstücken ist alles enthalten, von Dante Alighieri bis Alan Bennett, von Patricia Highsmith bis Herman Wouk – Namen über Namen listet die Leseliste auf; Vielleser mögen sich darin wiederfinden oder an ihre eigene Route durch die Welt der Bücher denken.


    Das Buch liest sich gut und flüssig. Nicht jede Formulierung fand ich glücklich gewählt; beispielsweise empfinde ich das Wort „rührend“ im Zusammenhang mit der „Vorstellung von einem politischen Gefangenen mit seinen Papierschnipseln“ (Seite 157) als unangemessen. Etliche Fragen hat das Buch bei mir aufgeworfen, sei es beispielsweise über die Definition des Wortes „Freundschaft“, sei es über den Gebrauch des Wortes „großartig“ nachzusinnen. Mehr als meine Zustimmung darf Will Schwalbe aber erwarten, wenn er gegen die Tabuisierung des Sterbens und des Todes anschreibt, wenn er für Achtsamkeit und Dankbarkeit im Miteinander plädiert.


    Trotz vieler positiver Momente hat mich das Buch nicht völlig überzeugt; mir fehlte schlicht ein wenig Bissigkeit, mir fehlten sozusagen der Schlingensiefsche Zorn und die Wut, mir fehlten auch die gedanklichen, manchmal wie eine Zumutung daherkommenden Widerhaken, die beispielsweise Henri Nouwen in seinem Buch „Sterben, um zu leben“ (in dem er über den Tod seiner Mutter spricht und in dem ein sehr persönlicher Brief an seinen Vater enthalten ist) dem Leser bietet. Viele schöne und mir sehr wichtig und richtig erscheinende Gedanken bietet das Buch, nur sehr, sehr wenigen würde ich widersprechen. Sie bieten mir allerdings kaum eine Überraschung, sind mir nicht neu, erscheinen mir selbstverständlich. Eher bedrückend erscheint mir der Gedanke, dass diese Selbstverständlichkeiten, seien es unter anderem die Hilfe für andere Menschen oder die Akzeptanz der eigenen Sterblichkeit, in unserer heutigen Welt als etwas besonderes, weil vom allgemeinen Verhalten abweichend, gewürdigt werden müssen.


    Beeindruckend nenne ich diesen Band trotzdem und immer noch – aber nicht vergessend, dass dieses Wort nicht immer nur im Positiven wirkt.