Steidl Verlag
September 2012 (Erscheinungsdatum)
222 Seiten
Leineneinband (rostrot) mit durchsichtigem Schutzumschlag, Umschlagvignette: Karl Lagerfeld
Von Künstlern und Kanaillen
Die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts bildeten in Deutschland den Nährboden für eine Vielzahl von avantgardistischen Strömungen in der Kunst. Auch im Bereich Tanz war man nach der entbehrungsreichen Zeit des Ersten Weltkriegs auf der Suche nach neuen Ufern, die einen scharfen Bruch mit dem bisherigen Verständnis von künstlerischem Ausdruck darstellen sollten. Unter diesen Vorreitern war Valeska Gert, die eigentlich Gertrud Valesca Samosch hieß und 1892 in Berlin, der damaligen Hochburg der deutschen Kunst- und Kulturszene, zur Welt kam. Die Jüdin aus wohlhabendem Haus erhielt bereits mit sieben Jahren Tanzunterricht und fand darin später ihre Berufung. Nicht nur optisch, sondern auch mit der Exzentrik ihrer solistischen Darbietungen hob sie sich von der breiten Masse ab. Kaum jemand tanzte so provokativ, realistisch und innovativ wie sie. Sie hatte Engagements in Paris, Moskau und London und wurde nach ihrer Emigration aus Nazi-Deutschland auch in den USA bekannt. Später kehrte sie in ihre Heimat zurück und gründete in Berlin nacheinander zwei Kabaretts und schließlich das berüchtigte Nachtlokal "Ziegenstall" in Kampen auf Sylt. Hier verbrachte sie die letzten 26 Jahre ihres Lebens.
Das vorliegende Buch stammt aus Valeska Gerts eigener Feder und erschien erstmals im Jahr 1950 in einem Berliner Verlag. Nach der letzten Ausgabe im Selbstverlag von 1958 war es jahrzehntelang vergriffen, bis es nun vom L.S.D. Verlag wieder entdeckt und neu aufgelegt wurde. Wie der Titel schon sagt, geht es inhaltlich um die sogenannte "Bettlerbar" (im Original "Beggar Bar"), die Valeska Gert 1941 in New York aufmachte. Die Gäste wurden mit Kabarett unterhalten und bekamen dabei wie in einem Restaurant Essen und Getränke serviert. Valeska Gert hatte an der Bar nicht nur Freude, denn die amerikanischen Behörden, ortsansässige Gangster und kleingeistige Nachbarn legten ihr zahlreiche Steine in den Weg. So durfte sie beispielsweise keinen Alkohol an ihre Kunden ausschenken, was normalerweise den finanziellen Ruin eines Nachtlokals bedeutete. Doch die findige Valeska kämpfte mit allen Mitteln und konnte sich lange Zeit über Wasser halten. 1945 musste die "Bettlerbar" zum Leidwesen vieler Gäste und Stammkunden dennoch geschlossen werden.
Die Erzählung ist teilweise recht unstrukturiert, fängt mittendrin an und endet abrupt. Etwas irritierend war für mich anfangs der ständige Wechsel zwischen Präsens und Imperfekt. Vielleicht steckt eine besondere künstlerische Intention dahinter, die sich mir leider nicht erschloss. Davon abgesehen habe ich mich jedoch prächtig unterhalten, denn Valeska Gerts Schreibstil ist intelligent, unkonventionell und mit einer gehörigen Portion Witz garniert. Die Autorin mag einige Ereignisse etwas überspitzt geschildert haben, was aus künstlerischer Sicht allerdings legitim ist und der Unterhaltsamkeit zugute kommt. Erfunden hat sie aber anscheinend nichts. Man sollte das Ganze am besten als Bericht lesen, so wie die Verfasserin es vorgesehen hatte.
Neben Valeskas Schilderungen über ihren turbulenten Arbeitsalltag und Erlebnissen mit Freunden und Angestellten sind auch immer wieder Kapitel über ihre Kindheit und Jugend in Berlin eingestreut. Mit der ersten Eheschließung enden diese Einschübe und die Zeit bis zu Valeskas Emigration einschließlich ihrer Erfahrungen mit den Nazis werden von ihr nicht weiter thematisiert. Das hatte ich so zwar nicht erwartet, es passt jedoch zum Naturell der Tänzerin und Kabarettistin. In "Die Bettlerbar von New York" präsentiert sie sich dem Leser als tatkräftige, zielstrebige, von sich selbst überzeugte und stets optimistische Person, die manchmal zu gutgläubig war, aber auch enorm starrköpfig sein konnte. Ihr herbes, wenngleich sehr interessantes Äußeres wusste sie mit viel Charisma wettzumachen. Das bezeugen auch ein paar abgedruckte Schwarz-Weiß-Fotos der Künstlerin. Und waren die Niederlagen noch so groß, Valeska Gert hielt sich nicht lange mit negativen Gedanken auf, sondern blickte ausschließlich nach vorne. Das mag beim Lesen manchmal oberflächlich wirken, aber ich denke, ihr war der Erhalt ihrer Lebensfreude außerordentlich wichtig, und sie wollte der Nachwelt positiv in Erinnerung bleiben.
Valeska Gert ist im Laufe der Jahrzehnte wie so viele deutsche Künstler ihrer Zeit in Vergessenheit geraten. Dabei war sie unheimlich vielseitig und inspirierte zahlreiche andere Kunstschaffende, wie Fellini und Bertolt Brecht, mit ihren neuartigen Ideen. Sie beschäftigte sich nicht nur mit Tanz und Kabarett, sondern trat auch in Stumm- und später in Tonfilmen auf und schrieb Essays zu den verschiedensten Themen. Obwohl sie während der New Yorker Jahre viele amerikanische Berühmtheiten aus der Film- und Literaturszene (Tennessee Williams war kurzzeitig als Kellner bei ihr beschäftigt, Judy Garland war Gast) persönlich kannte, werden diese in ihrem Buch überraschenderweise so gut wie nie erwähnt. Für Valeska waren ihre engsten Mitarbeiter und Freunde wohl von größerer Bedeutung. Ich finde, das sagt einiges über diese außergewöhnliche Frau aus und würde mir wünschen, dass sich auch in Zukunft viele interessierte Leser auf Valeska Gert einlassen.
8 Eulenpunkte!
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