Berlin - Ost 1976. Wolfgang, 16, kann aufatmen: Die Klausuren und Aufnahmegespräche an der hoch angesehenen Humboldt - Universität hat er überstanden. Es fürhrt ein Weg heraus aus der Enge des vorpommerschen Provinznestes, aus dem er stammt. In der Hauptstadt ist das wahre Leben mit neuen Freunden, nächtelangen Diskussionen, Mädchen. Doch da gibt es auch die Staatssicherheit und den schlimmen Verdacht, es könnten Forschungsergebnisse manipuliert werden, wenn sie der Obrigkeit missfallen.
Ein Roman in schnellen Schnitten, komisch, bewegend und keine endgültige, aber eine mögliche Antwort auf die Frage: Wie war das eigentlich, jung sein, damals in der DDR?
Um es gleich vorwegzunehmen, das Buch ist kein Krimi und kein Politthriller. Es geht um den Blick auf die Welt. Die, die den Blick riskieren, sind Jugendliche an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Wolfgang erzählt die Geschichte aus der Ich-Perspektive. Er ist einer der sogenannten Hochbegabten, sein Gebiete sind Mathematik und Physik. Das kommt im Buch auch vor, ebenso wie Anverwandtes, Philosophie, Schachspielen und Wolfgangs zweite Begabung: Musik. Wenn man von all dem ein bißchen versteht, liest sich das Ganze noch besser.
Seine Begabung hat es Wolfgang ermöglicht, in einem Sonderkurs gleich an der Prestige - Uni des Landes für das Abitur zu lernen. Der Kurs besteht aus einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von gleichfalls Hochbegabten, wie Matti, dem Pfarrerssohn, Cordula, deren Vater irgendwo im Außenhandel arbeitet und seiner Familie einen westlichen Lebensstil ermöglicht, von dem Wolfgang mit Mühe ahnte, daß es ihn überhaupt gibt. Oder auch Bruce, den hoch Hochbegabten, der schon mit 13 die Mathematik-Olympiade gewann. Außerhalb des Kurses treffen sie Jeannette, eine durchgebrannte Verkäuferin, die unbedingt Sängerin werden will, ganz egal wie. Oder doch nicht ganz egal?
Die ProfesssorInnen und LehrerInnen sind nicht minder extreme Charaktere. Die Unterrichtsgespräche, die sich entwickeln, sind Musterbeispiele dafür, daß die Kunst des absurden Dialogs in der Literatur noch längst nicht ausgestorben ist. Und wie es sich gehört, tragen sie nicht nur zur Komik, sondern auch zum Denken bei.
Der Autor, selbst Musiker, hat ein unfehlbares Ohr für den richtigen Ton und die Begabung, ihn punktgenau in Worte umzusetzen. Schnelle und häufige Szenenwechsel, die immer einen Perspektivwechsel bzw. eine Erweiterung des Blicks von Hauptfigur wie LeserInnen bedeuten, bringen zusätzlich Schwung in die Geschichte.
Matti verliebt sich in Jeannette, Cordula vielleicht in Wolfgang. Wolfgang mag Cordula, spielt aber am liebsten mit ihrem Schicki-Micki-Vater Schach und ist sich nicht sicher, ob er nicht eigentlich Jeannette liebt, die mit ihm schläft, weil er ihr die Grundlagen der Musik beibringt, die sie für ihre Prüfung braucht. Bruce wird mit seiner Begabung nicht fertig, die ihn von seinen Altersgenossen trennt und auf die Erwachsenen zurückwirft, die ihrerseits mit ihrer Begabung und ihrer Macht über Wissen auf eine Art umgehen, die Bruce nicht gutheißen kann. Schließlich ist Wissen alles, worauf er bislang vertrauen konnte. Er schweigt nicht, wo er schwiegen sollte. Die Staatsicherheit wird auf Jeannette aufmerksam, deren Lebenswandel zu offensichtlich wird. Wolfgang wird klar, daß es nicht mehr genügt 'auf jede Antwort eine Frage zu haben.' (Eine der vielen wunderbaren Charakterisierungen)
Die Freunde müssen handeln. Die Folgen sind unausweichlich.
Das wirklich Wichtige an diesem Buch ist, daß hier nicht verurteilt und angeklagt wird. Es wird nur dargestellt, aus den Augen junger Erwachsener heraus. Junger Erwachsener noch dazu, die ihre Familien, ihre Umgebung, die Möglichkeiten, die ihnen ihr Staat bietet, durchaus schätzen und ernst nehmen. Deshalb aber werden ihnen auch die Reibungsflächen schneller bewußt und in einem so repressiv agierenden Staat, wie es die DDR war, stoßen sie schnell an Grenzen. Mit ihren Vorstellungen, ihren Wünschen, ihren Fragen. Die Grenzen aber, und das ist ein weiterer Pluspunkt, den diese Geschichte bietet, werden nicht durch eine anonyme Macht gesetzt, sondern durch die Erwachsenen.
So unterliegt dem Ganzen auch immer die Frage: muß ich so werden? Will ich so werden? Kann es nicht auch anders gehen? Und genau an dieser Stelle reicht die Geschichte dann über den Kontext 'Jugend in der DDR' hinaus.
Tatsächlich geht es hier nämlich um die Lügen der Erwachsenen und die alte Frage, wie man als Jugendliche/r damit umgehen soll. Und als Erwachsener natürlich auch.