Mari lebt mit ihrem geschiedenen und depressiv wirkenden Vater auf den Orkney Inseln vor der Küste Schottlands. In einem einsamen und verlassenen Häuschen direkt an den Klippen, wo ihr Vater seltene Orchideen züchtet, um ihre Existenz einigermaßen sichern zu können.
Und einsam und verlassen fühlt sich auch Mari.
Seit Kindesbeinen an träumt sie sich in die schottischen Legenden und Mythen über Meerjungfrauen, Selkies und Sirenen hinein, mit denen sie aufgewachsen ist.
Und plötzlich werden ihre Träume Wirklichkeit, Märchen nehmen Gestalt an, Mythen wehen nicht nur übers Meer hinaus, sondern direkt in eine kleine Scheune hinterm Haus.
Wo vorher in der Holzhütte noch ein angeschossener Seehund lag, kauert plötzlich ein nackter Junge - mit der gleichen Verletzung wie der pflegebedürftige Seehund mit dem silbern glänzenden Fell. Doch Mari kann ihren Augen nicht trauen, will es dafür umso mehr, und muss letztendlich erkennen, dass sich direkt vor ihren Füßen ein mystisches Wesen befindet, an dessen Existenz fast niemand mehr glaubt:
Der Selkiejunge Louan.
Legenden können doch wahr werden!
Fortan sucht Mari Louans Nähe und schließlich führt Louan Mari in seine fremdartige Welt ein und sie ihn in ihre ferne Welt. Doch ihr gemeinsames Glück währt nur kurz, denn in Maris Welt lauert bereits eine Bedrohung, denn zwei skrupellose Forscher haben es auf den letzten noch lebenden Selkie abgesehen...
Wird Louan in seiner menschlichen Gestalt bei Mari und ihrem Vater bleiben können, in der Hoffnung unentdeckt zu bleiben, oder wird er mit pfeilschnellem Flossenschlag die Flucht ergreifen?
Vor der rauen Küste Schottlands lässt Britta Strauß in ihrem ersten Jugendroman eine magische und brutale Welt auferstehen, in der sich poetische und grausame Legenden und Sagen ranken wie Seegras um die schillernden Flossen einer Meerjungfrau.
In über dreihundert Seiten haucht sie dem Mythos um den Selkie, dem Seehund, der an Land gehen, sein Fell abstreifen und eine menschliche Gestalt annehmen kann, Leben ein.
Über die Selkies erzählt man sich in Schottland viele verschiedene Geschichten, die von grausam bis wunderschön reichen. Denn der Selkie bringt den Menschen Jagdglück auf hoher See, weckt Begierden und erfüllt Sehnsüchte, schürt aber auch gleichzeitig Hass, Angst und Misstrauen, er bringt Verderben, Unglück und den Tod.
Verliebt sich ein Mensch in einen atemberaubend schönen und verführerischen Selkie, raubt dieser ihm den Verstand und das Herz, stiehlt schließlich dessen Seele und kehrt mit ihr in seine Heimat, die See, zurück. Die Sehnsucht nach dem Meer und dem Selkie zerfrisst den allein und trauernd zurückgelassen Menschen.
Und so ist es nicht verwunderlich, dass Louan der Letzte seiner Art ist, ausgerottet durch Liebe und Begierde, Hass, Neid und Angst.
Auf Grundlage dieser grausam- schönen Legende entstand mit "Sturmherz" eine märchenhafte und magische Geschichte über die Liebe zwischen Mari und Louan, zwischen Mensch und Selkie, zwischen Land und Meer - zweier Gegensätze, die sich nur in der Flut berühren können, für die es keine gemeinsame Zukunft geben kann, weil ihre Liebe wider die Gesetze der Natur ist, weil sich das Wasser während der Ebbe vom Land zurückziehen und dem Ruf der Natur folgen muss.
Doch nicht nur die unwiderstehlichen und vielleicht auch gefährlichen Verführungskünste Louans und Maris Sehnsucht nach dem Meer lässt die (obligatorische und gewohnt übereilte) Liebe der beiden unter keinem guten Stern stehen, denn eine Liebe zwischen Mensch und Selkie endete seit Menschengedenken stets in Trauer und Tod.
Sondern auch die Gefahr, die von außen in Gestalt der ehrgeizigen und gierigen Biologen kommt. Denn wie auch schon in "Meeresblau" greift Britta Strauß Themen wie Arten- und Umweltschutz, wissenschaftliche und industrielle Habgier auf - ohne den pädagogischen Zeigefinger allzu sehr zu erheben. Wie in "Meeresblau" liest man einfach aus jeder Zeile ihre Liebe zum Meer heraus.
Gibt es für Mari und Louan gegen alle Naturgesetze, gegen alle natürlichen Sehnsüchte und Bedürfnisse, gegen alle weltlichen Bedrohungen einen gemeinsamen Weg für ihre Liebe?
Oder müssen sie sich trennen, um sich selbst und ihre Liebsten zu retten?
Mit "Sturmherz" und ihren beiden Ich- Erzählern Mari und Louan bringt Britta Strauß frischen Wind in die Reihe der Jugendbücher.
Und auch wenn die Geschichte und ihre Figuren so manches Mal vorhersehbar wie Ebbe und Flut zu sein scheinen, so überraschen sie doch im nächsten Moment wieder wie ein plötzlich aufwirbelnder Wind oder ein heranziehendes Gewitter mit kleinen Wendungen und Überraschungen und tückischen Verwicklungen, mit denen man nicht gerechnet hätte.
So wirkt Louan manches Mal animalischer und ursprünglicher als seine Kollegen aus diversen anderen Jugendromanen. Das ist dann äußerst amüsant für den Leser, aber nicht immer für Mari. Denn manchmal bugsiert Louan sie dadurch in wirklich peinliche Situationen. Mari hingegen wirkt erwachsen und vernünftig und vor allem sehr nachdenklich, manchmal aber auch kindlich- naiv. Und so macht "Sturmherz" viele unerwartete Sprünge und dümpelt nur selten vor sich hin.
Außerdem ist die Geschichte um Mari und Louan fast genauso eindringlich und wuchtig wie die Geschichte um Maya und Christopher aus "Meeresblau", und spätestens im letzten Drittel heißt es "Volle Kraft voraus" und die Geschichte nimmt noch einmal an Fahrt auf, an Spannung und Intensität zu.
Sprachlich ist die Geschichte wieder einmal mitreißend, poetisch und gewaltig wie die stürmische See. Doch wie in "Meeresblau" ist der Schreibstil dann wieder durchgängig so dicht, sodass man beim Lesen fast nicht vorankommt und es ein klein wenig Anstrengung kostet, eine Seite zu bewältigen. Als ob man eine übermächtige Welle bezwingen müsste. Die Worte prasseln auf den Leser nieder wie kleine Hagelkörner, die Zeilen ziehen den Leser tief in einen Strudel voller herumwirbelnder Bilder und Gefühle.
Und so gehört "Sturmherz" ein weiteres Mal zu den Romanen, für die man sich wirklich Zeit und Muse nehmen muss.
Jeder Satz spiegelt zudem die Liebe und die Sehnsucht der Autorin zum Meer und seinen Geschöpfen wider. Und diese Liebe und dieses Verständnis sickert unwillkürlich in die Gedankenwelt des Lesers.
Man spürt Louans Verlangen nach dem Meer und der Unendlichkeit der Tiefen und Weiten, wenn er in Menschengestalt auf Land ist, genauso wie seine Einsamkeit und Wildheit, wenn er als Seehund durch die Wellen zischt und auf verlassenen Sandbänken Ruhe zu finden versucht.
Und gleichzeitig hat man Bilder von abgeschlachteten Robben, ölverschmierten Vögeln, harpunierten Seekühen vor Augen, die man nicht abschütteln kann, aber auch Bilder von steilen und sturmumtosten Klippen, singenden Walen, mit dem Meer kämpfenden Fischkuttern, die man nicht vergessen will.
Ein bildgewaltiges, poetisches, anrührendes, jugendlich- leidenschaftliches, manches Mal auch kitschiges, vielleicht auch unglaubwürdiges (ich denke gerade an Maris überaus toleranten, zwei Augen zudrückenden Vater), frisches Märchen über Schottland, über stürmische Klippen, die raue See, keltische Legenden, die von mystischen Meereswesen erzählen, über bedrohliche und unberechenbare Gefahren, verzehrende Sehnsüchte, schmachtende Teenager.
Und vor dem Hintergrund der fortschreitenden und unaufhaltbaren Verschmutzung und Überfischung der Meere und der Gefahr der achtlosen, habgierigen Ausrottung selten gewordener Tierarten zudem eine aktuelle, brisante und aufrüttelnde Geschichte.
5 von 5 Sternchen
für dieses moderne Märchen mit dem Meer-/ Mehr- Faktor für Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen!