Árni Thórarinsson - Ein Herz so kalt

  • Akureyri im Ausnahmezustand: das Sommerfestival füllt die Stadt mit Feierwütigen, die Polizei ist im Dauereinsatz und Einar, Lokalredakteur bei der Abendzeitung, hat auch alle Hände voll zu tun. Schnapsleichen, Prügeleien, sexuelle Übergriffe: für ein Wochenende verwandelt sich das beschauliche Städtchen in ein Sodom und Gomorrha. Mitten in diesem Getümmel wird die Leiche einer jungen Frau gefunden, nackt in der Badewanne eines leerstehenden Hauses. Eine mysteriöse Anruferin hatte Einar darüber informiert, und die weiß auch noch so allerhand andere Sachen, obwohl sie doch im fernen Reykjavik wohnt. Erst als Einar sie dort aufstöbert, kommt so langsam Licht in dieses dubiose Verbrechen.


    Ich-Erzähler Einar schildert zwar wunderbar selbstironisch und lakonisch diese Geschichte, aber eigentlich geht es bei diesem Fall ganz schön zur Sache: die höchsten Kreise Island (ein gerne genommenes Motiv) sind in finstre Machenschaften verwickelt, und eine Filmcrew aus Hollywood, die sich gerade zufällig in Akureyri aufhält, macht die Sache auch nicht besser. Es herrscht purer Hedonismus in diesen Kreisen, der, bekanntlich fängt der Fisch am Kopf an zu stinken, in weite Teile der isländischen Bevölkerung durchsickert. Die Verlierer dieser Art zu leben, ob nun Banker, Popstar oder Teenager, versammeln sich in Virkid, dem isländischen Suchtkrankenhaus. Hier ermittelt Einar, immerhin als trockener Alkoholiker für diesen Job qualifiziert, undercover weiter und muss feststellen, dass das Böse nicht einmal vor dieser vorgeblichen Heilanstalt haltmacht.


    „Ein Herz so kalt“ ist ein Krimi in bester isländischer, sozialkritischer Manier, auch wenn er, anders als zum Beispiel die Bücher Indridasons, keineswegs düster-melancholisch, sondern vordergründig fast spaßig daherkommt. Umso ungeheuerlicher ist der Plot: eine im Kern verrottete Gesellschaft, deren Mitglieder keine Grenzen mehr kennen und deren enthemmtes Treiben die wenigen verbliebenen Wertkonservativen nur mit furchtsamer Hilflosigkeit betrachten können.
    Und da liegt auch der Hase im Pfeffer: die Maßlosigkeit der Bösen ist doch ein wenig zu maßlos, während man den Guten auch durchaus einen verkniffenen Calvinismus unterstellen könnte. Hier verliert Thórarinsson manchmal ein wenig die Balance, das Feintuning stimmt meines Erachtens nicht so ganz. Außerdem scheint mir Amerika, das tatsächlich lange Zeit „Leitkultur“ zumindest der isländischen Massen war (falls man bei 300 000 Menschen von Massen sprechen kann), als Ursprung allen Übels ein wenig zu kurz gesprungen


    Aber zugegeben, ich war noch nie beim Sommerfestival in Akureyri, vielleicht ist ja unser jährliches Goten-Treffen im Vergleich ein Kindergarten-Sommerfest. Dann müsste ich mir das eigentlich mal angucken.


    Zum Schluss mein übliches Covergemotze: vorne drauf ist die Blaue Lagune, die mit dem Buch rein gar nichts zu tun hat. Und auch wenn ich den Originaltitel nicht so recht verstehe (Daudi trudsins, m.E.: „Tod des Clowns“ ?(), erschließt sich mir der deutsche Titel genausowenig: hat der Mörder, wie womöglich in Mörderkreisen verbreitet, ein kaltes Herz? Oder, biologisch einleuchtend, das Opfer?


    Egal, eine klare Leseempfehlung für Freunde des gepflegten Island-Krimis.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)