Der Büchereulen-Adventskalender 2012

  • 21. Dezember 2012 von rienchen


    Weltuntergang nachholen

    „Hey, aua“, entfuhr es mir, als eine kleine, untersetzte Frau sich rücksichtslos an mir vorbei in den Zug drängelte und ihr Koffer meinem Schienbein einen innigen Pferdekuss gab. Sie reagierte nicht, drehte sich nicht mal um, sondern schob sich einfach weiter durch die vorantrottende Menschenmenge und hinterließ dabei eine Schneise der Empörung. Ich presste die Lippen zusammen. Und das am frühen Morgen. Außerdem war fast Weihnachten. Die Zeit der Besinnung. Das Fest der Liebe und Menschlichkeit. Aber eben nur fast. Es war erst der 21. Dezember, da war sich noch jeder selbst der Nächste. Wenn es auch nur um einen guten Reiseplatz ging. Oder worum auch immer. Vielleicht ging ja heute die Welt unter, da sollte man wenigstens noch bequem sitzen. Es war mir egal, ich nahm den erstbesten freien Platz im Großraumwagen und achtete erst wieder auf meine Umgebung, als das Mädchen mit dem Tablet- PC neben mir anfing, die Melodie eines Musikvideos mitzusummen. Ein DJ mit Smileymaske hüpfte zu einem Weltuntergangstext in der Gegend rum und ich ertappte mich bei dem Wunsch, ihm seine Smileymaske vom Kopf zu reißen und solange darauf herumzuspringen, bis der Smiley endlich heulte. Das würde ich noch tun, und wenn heute die Welt unterging. Dazu würde ich irgendwie noch Zeit finden. Und alle Fernseher, in denen Roland Emmerichs 2012 lief, würde ich auch noch zertrümmern. Es wurde Zeit für 2013. Ich seufzte und versuchte, das mulmige Gefühl in meiner Magengegend zu ignorieren. Ich fuhr nach Hause. Oder dorthin, wo mal mein Zuhause war, früher. Und ich hatte Angst davor. Vor dem ersten Weihnachtsfest, das wieder normal sein sollte. Weihnachten mit Mama, meinem Bruder Mirko und dessen Freundin Steffi. Ohne Papa. Ich schob den Gedanken sofort beiseite und sah aus dem Fenster, die verschneite Eislandschaft flog vorbei, Lichter mit Häusern, in denen noch staunende Augen und Lachen wohnten.


    Es war bereits Abend, als ich die Tür aufschloss. Der schwere Vorhang, wie immer, um die warme Innenluft am Entweichen ins kalte Draußen zu hindern. Es roch nach Kindheit, nach Jugend, nach Geheimnissen, Streit und Versöhnung. Mama saß rauchend am Küchentisch und erhob sich, als sie mich sah. Sie hatte gekocht und gab mir einen Kuss.


    Die nächsten Tage waren einfach. Mirko und Steffi besorgten Tannenbaum und Gänsebraten, Mama und ich den Rest. Wir redeten das Übliche, Unverfängliche. Schlugen große Bögen. Sie fragte nach Job, Beziehungen, Alltag. Ich fragte wenig und schmückte lieber das Haus reichlichst aus. Heilig Abend drohte.


    Als ich am Vierundzwanzigsten (die Welt war noch da) die letzten Geschenke verpackte, klackte mein Handy. Nachricht von Ben! Hey Lara, bist Du in der Stadt? Heute Abend in der Destille, wie früher? Wo warst du letztes Jahr?


    Ich grinste und schrieb: war verhindert. Bis nachher! :)


    Das Wohnzimmer wurde nur von Kerzen auf dem Esstisch und am Weihnachtsbaum erleuchtet, das Essen roch fantastisch. Ich hatte keinen Hunger. Mirko schob einen Kartoffelknödel von der einen zur anderen Tellerseite. „Fast wie früher, oder?“ fragte er leise. „Nein, nicht wie früher“, sagte Mama und zupfte einen imaginären Fussel vom weißen Leinen ab. Steffi warf Mirko einen mahnenden Blick zu und ich begann, den Tisch abzuräumen. Wir kämpften uns noch durch den Nachtisch, bescherten zügig und dann machte ich mich durch die eisige Nacht auf in die Stadt.


    Die Destille war schon voll, die Luft schneidend, Rauch quoll mir entgegen und raubte mir den Atem. Ich entspannte mich augenblicklich. Hinter der Theke stand Piet, schwitzend und glücklich, er begrüßte mich überschwänglich, um dann weiter Bier zu zapfen. An einem Tisch in der Ecke saßen Ben und Tobi, Andi und Ellen. Gestrandete aus allen Himmelsrichtungen, wieder zwei Jahre älter. Sie fielen mir alle gleichzeitig um den Hals. Wir rauchten und tranken, erzählten und lachten stundenlang. Der Laden wurde langsam leerer und die Gespräche ruhiger. „Lara, wo warst Du letztes Jahr, wieso hast Du Dich nicht gemeldet? “, bohrte Ben. „Wir haben Dich vermisst.“ Und dann leiser: „Ich habe Dich vermisst. Wenigstens einmal im Jahr gehören wir doch hierher.“ Das Grübchen in seinem Kinn, mein Grübchen, vertiefte sich ein bisschen. Ich nagte an meiner Unterlippe, blickte auf den Fernseher in der Ecke, auf dem Bildschirm krachte grade eine riesengroße Arche Noah Next Generation gegen einen überfluteten Berg im Himalaya. „ Ich habe Dich auch vermisst, Ben“, sagte ich. Und dann leiser: „ Ich war ja hier, aber letztes Jahr ist einfach die Welt untergegangen.“ Er nickte nur schweigend und streifte meinen Arm.


    Zuhause saß Mama auf dem Sofa, sie war eingeschlafen. Früher hatten sie an Heilig Abend immer hier auf mich gewartet, auf dem Sofa. Einmal sogar bis um fünf Uhr morgens. Erst dann waren sie beruhigt schlafen gegangen. Beide. Mama und... Mama und... und... Papa. Der Schmerz kam so heftig und unerwartet, dass er mir die Atemwege zudrückte. Er war nicht mehr hier. Er würde nie wieder hier sein, nie wieder darauf warten, dass ich endlich nach Hause kam. Auf diesem Sofa, auf dem er seit ich denken konnte seine Zeitung gelesen und Ferngesehen und seinen Tee getrunken und geraucht hatte. Ich sah Mama, wie sie dort alleine auf dem Sofa im Licht des Tannenbaums schlummerte und wie ihr ein kleiner Speichelfaden aus dem Mundwinkel floss. Sie sah so klein und verloren aus auf diesem Riesensofa. Aber sie war noch da. Ich war noch da. Langsam setze ich mich neben sie, hielt ihre Hand, roch an ihren Haaren. Erinnerte mich an alles. Vorsichtig zog ich sie an mich und fing endlich an zu weinen.


    Als ich am nächsten Morgen erwachte, klebten meine Augen und mein Kopf schmerzte und ich verfluchte Piet mit seinen Spezialcocktails, denen er Namen wie „Orgasmus“ oder „U- Boot“ gab. Jemand hatte eine Wolldecke über mich gebreitet, aus der Küche hörte ich leise Radiomusik und geschäftiges Frühstückstreiben. Im Türrahmen erschien ein älterer Mann mit wachen Augen und lebendigem Blick. Er trug eine Küchenschürze, auf der in großen Lettern Mister LoverLover, Mmmmhhhh stand und hielt eine Pfanne in der Hand. „Hallo Lara“, sagte er. „Hast Du Hunger?“ „Ich... wer... woher... “, stammelte ich und rieb meine Augen. „Entschuldige“, sagte er verschmitzt und begann eifrig damit, Essen auf das Frühstücksgeschirr zu schaufeln. Mama kam mit frischem Orangensaft und blinzelte mich an. Sie drückte beherzt meine Hände und gab mir einen Kuss. Gut sah sie aus. Frisch und erholt, als hätte sie einen Kurzurlaub hinter sich. Mirko und Steffi sahen sich an. „Das ist Karl“, sagte Mama schließlich, als wir alle am Tisch saßen und ihre Wangen nahmen eine gesunde Farbe an. „Wir haben uns auf dem Friedhof kennengelernt. Im Sommer schon. Jetzt sind wir endlich mal alle zusammen und können uns einander vorstellen.“ Ich sah Mirkos Augen, die die von Steffi suchten und die Verwunderung darin, die sich in erstaunte Freude wandelte. Mein Handy klackte. Nachricht von Ben! Möchte den Weltuntergang mit Dir nachholen. Könnte mir nichts Schöneres vorstellen. Alles Liebe, Ben.


    Abgemacht! :), schrieb ich zurück und ich konnte es kaum abwarten. In diesem Moment wusste ich, dass die Welt nicht untergegangen war. Sie war einmal kurz aus der Achse gekippt, hatte die Umlaufbahn verlassen und zog erst ein bisschen eierig, dann aber konstant und ruhig weiter ihre Runden.


    „Das ist toll! Karl!“, lächelte ich mit leicht überschnappender Stimme und ignorierte dabei den stechenden Schmerz in meiner Schläfe. Ich fing an, soviel Rührei wie nur irgendwie möglich in mich reinzuschaufeln. Ich brauchte Kraft. Ich hatte einen Riesenhunger, wir alle hatten plötzlich einen Riesenhunger. Einen Mordshunger hatten wir. Auf Eier mit Speck, auf Lachsbrötchen, auf Kaffee, auf Weihnachten mit allem Pipapo und auf all das, was noch vor uns lag.

  • 22. Dezember 2012 von harimau


    Weihnachten 2004


    Obwohl es sich viele Europäer nicht vorstellen können, war es auch bei 32 Grad im Schatten, mit Palmen am Straßenrand statt Christbaum im geheizten Wohnzimmer, ein schönes Fest. Zu Beginn jedenfalls. Meine Mutter war für sechs Wochen zu Besuch gekommen, was uns ein gemeinsames Essen am Heiligen Abend ermöglichte; eine liebgewordene Tradition, für mich, der sich wenig aus den üblicherweise mit ihr verbundenen Ritualen machte, das Herzstück jeder Weihnacht. Ursprünglich wollten wir das Fest am Meer verbringen, in Khao Lak im Süden Thailands, doch zwei Tage vorher, bei einem Essen mit Freunden in Bangkok, kamen mir Bedenken. Der Ort würde voll mit Pauschaltouristen sein, darunter zu viele von der unangenehmen Sorte, die frei von Taktgefühl und Selbstzweifeln alles für sich in Beschlag nahmen, die herumjohlten und Bier tranken, während sie sich am Strand ihre winterweißen Bäuche verbrannten. Darauf konnte ich gut verzichten. Wir änderten den Plan und setzten uns in den Zug nach Penang, einer Insel vor der Westküste Malaysias, wo Steffi und ich als Untermieter einer chinesischen Familie zu Hause waren.


    Am Heiligen Abend genossen wir die exquisite Küche eines Nyonya-Restaurants in der Inselhauptstadt Georgetown. Danach saßen wir zusammen, redeten, lachten bei frisch gepressten Säften und kaltem Bier bis spät in die Nacht, so vertraut und fröhlich wie sonst in Hamburg.


    Den ersten Weihnachtstag verbrachten wir mit Sightseeing, schauten uns Tempel und ein chinesisches Clanhaus an. Abends aßen wir scharfes Curry statt Gans und Rotkohl, ein wenig ungewohnt für den Anlass, aber wohlschmeckend, wie meine Mutter feststellte. Wir gingen in bester Stimmung heim.


    Am zweiten Weihnachtstag stürzte unser Teil der Welt in den Abgrund.


    Ich wurde morgens aus dem Schlaf gerissen, weil unser Bett schwankte wie ein Schiff in schwerer See. Das Beben nahm an Stärke zu, Bücher fielen aus den Regalen, die Lampe krachte vom Tisch, eine Vase zerschellte auf dem Fußboden, während das Haus wackelte, als würde es von einem misslaunigen Riesen durchgeschüttelt. Steffi saß aufrecht neben mir im Bett und schaute mich an, die Pupillen geweitet, Spiegel ihrer Furcht. Wer selbst kein Erdbeben erlebt hat, kann sich nur schwer das beklemmende Gefühl vorstellen, wenn urplötzlich der feste Boden unter den Füßen nachgibt und sich damit eine der wenigen Gewissheiten in unserem Leben verflüchtigt. Ich weiß nicht mehr, ob ich gebetet habe, wahrscheinlich nicht, aber ich hatte ganz sicher eine Scheißangst.
    Nach einigen Minuten kehrte abrupt Ruhe ein. Ich sah auf die Uhr, es war kurz nach neun. „Sumatra?“, fragte Steffi, ihre Stimme brüchig. Ich nickte. Wo sonst? Malaysia lag fest verankert auf der Asiatischen Platte, die tektonische Bruchkante verlief über 500 Kilometer westlich von uns, vor der Küste Sumatras. Wenn die Erdstöße auf Penang so kräftig zu spüren gewesen waren, musste es dort drüben furchtbar gerumpelt haben. Unheil lag in der Luft.


    Bis zum Mittag wich die Aufregung in der Stadt angespannter Ruhe. Wir fuhren in ein Einkaufszentrum am Guerney Drive, dem Küstenboulevard Georgetowns, um einige Dinge zu besorgen. Als wir nach einer halben Stunde wieder aus dem Gebäude herauskamen, herrschte draußen das Chaos. Auf der trotz wolkenlosen Himmels mehrere Zentimeter unter Wasser stehenden Straße trieben Müll und das Astwerk umgeknickter Bäume, dazwischen lagen wie achtlos verstreut umgestürzte Mofas auf der Fahrbahn. Indem wir das Gespräch einer aufgeregt diskutierenden Menschengruppe belauschten, erfuhren wir, dass eine Flutwelle über die drei Meter hohe Kaimauer geschlagen war und sich das Wasser danach unerklärlicherweise bis hinter den Horizont zurückgezogen hatte. Der Anblick des trockengefallenen Meeres gefiel mir überhaupt nicht. Erst das Erdbeben und nun diese Flutwelle – was ging hier vor?
    „Das sieht nach einem Tsunami aus“, meinte Steffi.
    „Unsinn“, sagte ich aus einem Reflex, ohne über ihre Theorie nachzudenken. „Tsunamis gibt es nur im Pazifik, nicht im Indischen Ozean.“


    Als wir am Abend nach dem Essen nach Hause fuhren, wurde ich eines Besseren belehrt. Mein Malaiisch reichte nicht aus, um die Nachrichten im Radio des Taxis zu verstehen, aber die Worte Richter scale, sembilan kosong und Tsunami waren eindeutig: Ein Erdbeben der Stärke 9,0 hatte einen Tsunami ausgelöst. Da wir zu Hause weder Fernseher noch Radio besaßen, erfuhren wir vorerst nichts Genaueres.


    Nachts um zwei klingelte das Telefon, mein unüberhörbar besorgter Schwiegervater aus Hannover wollte wissen, ob es uns gut ging. Seinen Aussagen zufolge hatte der Tsunami ganze Küstenstriche Süd- und Südostasiens verwüstet, in Indien, Sri Lanka und Thailand tausende, wenn nicht zehntausende Menschenleben gefordert. Auch bei uns in Malaysia sollte es Tote gegeben haben. Unsere Nachtruhe war dahin. Steffi und ich spekulierten bis zum Tagesanbruch über das Ausmaß der Naturkatastrophe, hofften gegen den gesunden Menschenverstand das Beste, während wir auf das Erscheinen der Morgenzeitung warteten.


    Auf unserer Insel gab es 55 Menschenleben zu beklagen. Die Zeitung machte mit der schrecklichen Geschichte eines Busfahrers und seiner Familie auf, die bei ihrem sonntäglichen Ausflug an den Strand von der Welle überrascht wurden. Es gelang dem Mann, seine jüngste Tochter, einen Säugling, zu retten; seine Frau und vier weitere Kinder verschlang vor seinen Augen das Meer. Ihre Leichen wurden nicht gefunden.


    Die mittlerweile im Stundentakt eintreffenden Nachrichten aus anderen betroffenen Ländern zeichneten ein Bild allgemeinen Grauens: Über 30000 Opfer in Sri Lanka hieß es, unvorstellbare Verwüstungen entlang der indischen Küste, sogar aus dem weit entfernten Afrika wurden Tote gemeldet. Die Dimension der Verheerung überstieg mein Vorstellungsvermögen, wurde auf makabere Weise erst wieder greifbar, persönlich, als wir hörten, dass es allein in Khao Lak, dem kleinen Ort in Südthailand, in dem wir eigentlich Weihnachten hatten verbringen wollen, über 4000 Opfer gab. Bis heute empfinde ich ratlose Dankbarkeit dafür, dass ein unbestimmtes Bauchgefühl meiner Familie und mir das Leben gerettet hat.


    Penang veränderte sich in diesen Tagen. Das öffentliche Leben verlor an Tempo, es gab kein anderes Gesprächsthema als die mordende Welle, die Menschen rückten zusammen in Trauer und Mitleid. Nie zuvor hatte ich Chinesen, Malaien, Inder und Expats aus aller Welt – Leute wie Steffi und mich – so einträchtig, in ihrer Hilflosigkeit solidarisch erlebt. Wir standen zusammen, litten zusammen, noch immer mit angehaltenem Atem, weil das Kernstück einer sich immer deutlicher zeichnenden Landkarte des Verderbens weiterhin fehlte. Obwohl der moderne Kommunikationsapparat auf Hochtouren lief, pausenlos Bilder und Berichte übermittelte, lastete über Sumatra nach wie vor eine beunruhigende, geradezu unheimliche Stille. Offizielle Stellen sprachen von ein- oder zweitausend Toten, vage Spekulationen, denen niemand Glauben schenkte. Warum sollte ausgerechnet das vom Bürgerkrieg zerrissene Aceh glimpflich davongekommen sein, wenn das Epizentrum des Bebens nur 85 Kilometer vor seiner Küste gelegen hatte und den Menschen praktisch keine Vorwarnzeit geblieben war? Obwohl sich niemand der Angst entziehen konnte, blieb Sumatra ein Tabuthema, über das man nicht sprach, als ob das Unheil ausbleiben würde, solange es nicht beim Namen genannt wurde.


    Die ersten Bilder aus Aceh trafen mich und ganz Penang wie ein Hammerschlag, Fotos und Filmaufnahmen, die wie ein Aufschrei um die Welt gingen, auch in Deutschland Entsetzen verbreiteten: Luftaufnahmen der Hauptstadt Banda Aceh – ein endloses Trümmerfeld, aus dem einzig die weitgehend intakte Hauptmoschee mit ihren starken Mauern ragte – und der Provinzstadt Meulaboh mit über 100000 Einwohnern, dem Erdboden gleichgemacht wie durch einen Atombombenangriff. Ich brauchte wenig Fantasie, um mir auszumalen, wie es in den Dörfern und Kleinstädten entlang der Küste aussah. Einige Jahre zuvor war ich durch diese Region gereist, hatte dort Menschen wie den jungen Marwan kennengelernt, mit dem ich einige Abende bei Nudelsuppe, Tee und guten Gesprächen verbracht hatte. Bestand auch nur die geringste Hoffnung, dass ihn die Welle nicht von seinem kleinen, mit Palmen bestandenen Eiland in den Tod gespült hatte? Der Gedanke an ihn brachte mich um den Schlaf.


    Den Bildern folgten die Zahlen, unfassbare, abscheuliche Zahlen von Toten, Verletzten, Vermissten. Plötzlich war nicht mehr von Tausenden oder Zehntausenden die Rede, sondern von Hunderttausenden, und die Erinnerung an Marwan machte mir deutlich, dass sich hinter jeder einzelnen Ziffer dieser brutal nüchternen Statistik ein Schicksal, ein denkender, fühlender Mensch wie ich selbst verbarg. Es ließ sich nicht länger verdrängen, dass sich ganz in unserer Nähe eine der größten Katastrophen in der Geschichte der Menschheit ereignet hatte.


    Nach kurzer Schockstarre verfiel unsere Insel in hektische Betriebsamkeit. Die Bewohner Penangs betrachteten die Acenesen auf der anderen Seite der Seestraße von Malacca seit Jahrhunderten als ihr Brudervolk, ungeachtet aller durch den Kolonialismus willkürlich gezogener Grenzen, und sie unternahmen alles, um zu helfen, wie man seinem Bruder in der Not beisteht. Täglich starteten Flugzeuge mit Hilfslieferungen, verließen Schiffe der Kriegsmarine beladen mit Verpflegung und Medikamenten den Hafen, um die Überlebenden mit dem Notwendigsten zu versorgen. Ärzte, Ingenieure und Katastrophenhelfer bildeten Freiwilligenteams und ließen sich mit gecharterten Booten nach Sumatra übersetzen, die Regierung schickte Spezialisten samt schwerem Gerät, Spenden von Seiten der Bevölkerung und der Wirtschaft flossen schneller, als sie eingesammelt werden konnten. Es war zu wenig, viel zu wenig, aber es war das Menschenmögliche. Niemals werde ich das kleine chinesische Mädchen in Schuluniform vergessen, das mich auf der Straße um eine Gabe bat und in Tränen ausbrach, als es versuchte, mir das Elend der Opfer auf Sumatra mit den anrührenden, naiven Worten eines Kindes zu schildern.



    Der große Tsunami vom zweiten Weihnachtstag 2004 tötete mehr als 230000 Menschen, darunter mindestens 165000 Indonesier. 1,7 Millionen Menschen wurden obdachlos, zahllose mehr wurden ihrer Lebensgrundlage beraubt. Eine solche Tragödie gerät nicht in Vergessenheit, sondern frisst sich wie ein Krebsgeschwür in das Bewusstsein der Region, wird als kollektive Erinnerung in kommenden Generationen fortbestehen, nicht zuletzt in Form von Legenden, wie sie jede Tragödie gebiert. Schon jetzt, nur acht Jahre danach, erzählt man sich bereits Geschichten wie die des kleinen Jungen, der als einziger Bewohner eines zerstörten Dorfes überlebte, sich von Brackwasser und Früchten ernährte, bis er Wochen später halbverhungert, verwahrlost und von Krankheit gezeichnet von einem Rettungsteam gefunden wurde, oder von den Ureinwohnern der Mentawei-Inseln, die angeblich allesamt überlebten, weil sie sich an die überlieferte Warnung ihrer Vorfahren erinnerten und unverzüglich in die Sicherheit der Hügel brachten, als das Meer zurückwich.


    Für mich persönlich ist die Erinnerung an diese Tage untrennbar mit Weihnachten verbunden. Ich denke Jahr für Jahr daran zurück, weil das ich Leid, aber auch die daraus erwachsende menschliche Größe und Hilfsbereitschaft weder vergessen kann noch will. Das Schlechte wie das Gute sind als prägende Erfahrungen Teil meines Lebens geworden. Und irgendwo, tief in mir versteckt, lebt die Hoffnung weiter, dass Marwan vielleicht doch davongekommen sein könnte.

  • 24. Dezember 2012 von SteffiB


    Verirrt


    Ich wrang den Feudel aus, drapierte ihn über den Eimer und verfrachtete das unansehnliche Ensemble auf die Terrasse. Trocknen würde der Lappen nicht, höchstens steiffrieren, aber das war nur temporär. Wenn man sich in Norddeutschland auf etwas verlassen kann, dann auf matschige Weihnachten. Sie wissen schon: Dieser unappetitliche Schneematsch in Dunkelgrau und Schlammbraun, der schöne Schuhe in weniger schöne Schuhe verwandelt, aus saubergeschrubbten Feiertagskindern Matschmonster zaubert und sich im Bauchfell des Familienhunds ausgesprochen wohlfühlt. Um dann vom Fell direkt auf dem blankgewischten Fußboden ... und da wären wir wieder beim Feudel.


    Ich zog die Terrassentür hinter mir zu, warf einen prüfenden Blick auf den Baum, zupfte hier an einer Kerze, arrangierte dort einen Federengel um, schob im Vorbeigehen noch einen Teller auf dem Esstisch zurecht und verließ das Wohnzimmer. In der Diele blieb ich stehen und lauschte ins Haus hinein. Es herrschte Ruhe, absolute Ruhe. Mann, Kinder und Hund hatte ich vor Stunden aus dem Haus gescheucht, um ungestört zu putzen und zu brutzeln und was es sonst noch vor dem Einfall von Eltern, Schwiegereltern, Brüdern, Schwester, Nichten und Neffen am heutigen Heiligen Abend vorzubereiten galt. Ich sah auf die Uhr. Halb vier, und ich war schon fertig, eine ganze Stunde vor meinem Zeitplan. Eine Stunde, bevor Mann, Matschmonster und Schlammhund nach Hause kommen würden, drei Stunden bis zum Einfall der Verwandtschaft. Ich überlegte kurz. Eine ganze Stunde. Badewanne? Bett? Buch? Oder doch noch weiterputzen, irgendwas fand sich bestimmt? Mein Blick fiel auf die Winterjacke. Spazierengehen. Das war genau das Richtige, um den Kopf frei zu bekommen.


    Wenig später erreichte ich den unsere Kleinstadt von zwei Seiten umschließenden Wald. Ich zögerte kurz. Die Dämmerung setzte bereits ein, ich dachte an die Wildschweine, die es in der kalten Jahreszeit dichter zum Waldsaum mit seinen Futterstellen zog und die meiner joggenden Freundin im letzten Winter eine unbequeme Nacht auf dem Hochsitz beschert hatten, dann schüttelte ich die Bedenken fort. Ich wollte nur eine kleine Runde auf dem Hauptweg drehen, kein Schwein würde sich in die Nähe wagen. Ein Schritt, noch einer, und schon umfing mich das graue Zwielicht unter den Bäumen, doch der Weg lag noch immer als helles Band vor mir. Kurz sackte mir das Herz in die Hose, als mir eine dunkle Gestalt entgegenkam, aber es war nur ein Jogger – Gott sei Dank ohne Schwarzkittel auf den Fersen. Ich grüßte ihn freundlich, als er vorbeihastete, eine kurze Weile hörte ich noch das Platschen seiner Schritte, dann war ich wieder allein. Der Weg gehörte zu meiner Standardrunde mit dem Hund, also achtete ich nicht weiter auf meine Umgebung, sondern erlaubte meinen Gedanken, hierhin und dorthin zu wandern. Ein Luxus, den ich mir in den letzten Wochen nicht gegönnt hatte, zu sehr waren die Tage durchgetaktet gewesen. Diese Stunde nur für mich war eine Belohnung dafür, dass ich alles so wunderbar geplant, nichts übersehen, nichts vergessen hatte. Ein Geschenk.


    Unruhe erfasste mich. Mit aller Macht setzte sich ein Gedanke in meinem Kopf fest: Ich hatte doch etwas vergessen. Etwas überaus Wichtiges. Nur: Was war es? So sehr ich mir auch das Hirn zermarterte, ich kam nicht drauf. Den Blick fest auf den Boden gerichtet schritt ich schneller aus, so als wollte ich den flüchtigen Gedanken einfangen. Noch war Zeit, das Versäumnis einzuholen und an diesem perfekt geplanten Weihnachtsabend nichts dem Zufall zu überlassen. Immer schneller hastete ich durch den Wald, konnte es kaum erwarten, wieder den Waldsaum zu erreichen und nach Hause zu kommen, denn spätestens dort würde ich wissen, woran es noch fehlte. Ein umgestürzter Baum quer über dem Weg zwang mich zum Halt. Während ich über den Stamm kletterte, stutzte ich. Dieser Baum hatte gestern noch nicht hier gelegen, und seitdem hatte kein Sturm unsere Region heimgesucht. Ich sah mich um. Es war beinahe dunkel, doch noch sah ich genug, um zu wissen, dass ich diese Ecke des Waldes nicht kannte. Nicht den Holzstapel gerade voraus, nicht die schräg stehende Fichte, die sich altersmüde gegen eine Buche lehnte, und auch nicht das verwitterte Schild direkt hinter dem umgestürzten Baum. Mir wurde mulmig. Wo war ich? Verunsichert trat ich zu dem Schild und beleuchtete es mit der Taschenlampen-App meines Handys. Das Schild schien uralt, ein von der Forstverwaltung längst vergessener Wegweiser. Flechten und Moose hatten große Teile des rissigen Holzes und den handgemalten, blassen Schriftzug überwuchert. Ich reckte mich, hielt das Handy dichter ans Holz. Der Anfangsbuchstabe war eindeutig ein "B", der zweite ein "e". Ich wischte die Flechten beiseite. Ein Doppel-T. Hektisch kratze ich das letzte Moos beiseite. Das Entsetzen kroch mir den Nacken herauf.


    Bettina. Auf dem Schild stand unverkennbar das Wort "Bettina". Mein Name. In meiner eigenen Handschrift. Das Knarren eines trockenen Asts ließ mich herumfahren, als mein Handy ein letztes Mal aufflackerte und dunkel wurde. Der Akku war leer. Das Grauen dicht auf den Fersen stürmte ich durch die plötzlich gar nicht mehr stille Stille des Waldes davon. Überall raschelte und knackte es, ein aufgeschreckter Vogel stieß einen Schrei aus, war es sein Todesschrei? Eine Eule wischte dicht an mir vorbei, in der Ferne bellte ein Hund*. Oder war es ein Wolf? Bellten Wölfe? In meiner Panik rannte ich weiter, immer weiter, der Weg verengte sich zu einem Pfad, Äste griffen nach mir, Kindheitsängste beherrschten mein ganzes Sein. Irgendwann hatte meine Flucht ein Ende, weil ich schlicht nicht mehr rennen konnte. Schwer an einen Baum gelehnt, schnappte ich nach Luft, vor meinen Augen tanzten grellbunte Flecken. Ich hatte keine Kraft mehr zum Weglaufen.


    Meine kopflose Flucht hatte mich an den Rand einer kleinen Lichtung geführt. Der Mond stand im ersten Viertel und leuchtete gerade hell genug, um Licht zu spenden und trotzdem nicht die hunderttausend Sterne zu überstrahlen, die den Nachthimmel sprenkelten. Ich hielt den Atem an; selten hatte ich einen so prächtigen Himmel gesehen. Es war, als hätte sich das Firmament festlich herausgeputzt für eine ganz besondere Nacht. Und endlich begriff ich. Der Heilige Abend. Wenn Christi Geburt nicht ein ganz besonderer Abend war, welcher dann? Über all dem Trubel, den generalstabsmäßig durchgeplanten Wochen, um nur ja alles perfekt vorzubereiten, hatte ich den eigentlichen Grund für das Weihnachtsfest vergessen. Hatte Jesus vergessen, hatte Gott vergessen, die Weihnachtsbotschaft vergessen. Und ich hatte mich vergessen. Mich verloren.


    Ein Fuchs schnürte über die Lichtung. Er witterte, hob den Kopf und sah mich an, minutenlang. Dann setzte er seinen Weg fort, sein Pelz graurot im Mondlicht. Fasziniert beobachtete ich ihn, bis er an einem weiteren Schild vorbeistrich und im Unterholz verschwand. Ich stapfte durch den Farn zu dem Schild. Wieder ein Wegweiser, ähnlich verwittert wie der erste, und wieder konnte ich meinen Namen entziffern, doch es flößte mir keine Furcht mehr ein. Ich folgte dem Richtungspfeil, bis ich zu einer Wegkreuzung kam, wo mir ein weiteres Schild die Richtung wies.


    Mit jedem Wegweiser wurde mir das Herz leichter, wurden meine Schritte beschwingter. Eine bedingungslose Zufriedenheit, wie ich sie seit meiner Kindheit nicht mehr gespürt hatte, erfüllte mich. Zufriedenheit und jenes Gottvertrauen, das mir im Erwachsenenalter abhanden gekommen war. Die Schilder hatten alles Unheimliche verloren, wiesen sie mir doch den Weg zu mir selbst.


    Später rätselte ich oft, wie lange ich unterwegs gewesen war an jenem magischen Abend. Es erschien mir wie eine lange, endlose Nacht, doch als ich nach Hause zurückkehrte, konnte kaum mehr als eine Stunde vergangen sein. Mein Mann und die Kinder waren gerade angekommen, die Diele glich einem Schlachtfeld. Überall Matsch, Hund und Kinder reif für die Badewanne, der Mann sah nicht viel besser aus. Er blickte erst auf mich, dann auf die verwüstete Diele. "Ich mache gleich sauber", sagte er, die Resignation in der Stimme unüberhörbar. "Noch ist ja Zeit."


    Ohne mir die Schuhe auszuziehen eilte ich auf ihn zu und warf mich lachend in seine Arme.
    "Ja", sagte ich. "Noch ist Zeit. Aber nicht fürs Putzen, sondern für uns vier. Lass uns die Kerzen anzünden, aufs Sofa kuscheln und die Weihnachtsgeschichte lesen."



    * Extra für dich, Mulle ;-)