21. Dezember 2012 von rienchen
Weltuntergang nachholen
„Hey, aua“, entfuhr es mir, als eine kleine, untersetzte Frau sich rücksichtslos an mir vorbei in den Zug drängelte und ihr Koffer meinem Schienbein einen innigen Pferdekuss gab. Sie reagierte nicht, drehte sich nicht mal um, sondern schob sich einfach weiter durch die vorantrottende Menschenmenge und hinterließ dabei eine Schneise der Empörung. Ich presste die Lippen zusammen. Und das am frühen Morgen. Außerdem war fast Weihnachten. Die Zeit der Besinnung. Das Fest der Liebe und Menschlichkeit. Aber eben nur fast. Es war erst der 21. Dezember, da war sich noch jeder selbst der Nächste. Wenn es auch nur um einen guten Reiseplatz ging. Oder worum auch immer. Vielleicht ging ja heute die Welt unter, da sollte man wenigstens noch bequem sitzen. Es war mir egal, ich nahm den erstbesten freien Platz im Großraumwagen und achtete erst wieder auf meine Umgebung, als das Mädchen mit dem Tablet- PC neben mir anfing, die Melodie eines Musikvideos mitzusummen. Ein DJ mit Smileymaske hüpfte zu einem Weltuntergangstext in der Gegend rum und ich ertappte mich bei dem Wunsch, ihm seine Smileymaske vom Kopf zu reißen und solange darauf herumzuspringen, bis der Smiley endlich heulte. Das würde ich noch tun, und wenn heute die Welt unterging. Dazu würde ich irgendwie noch Zeit finden. Und alle Fernseher, in denen Roland Emmerichs 2012 lief, würde ich auch noch zertrümmern. Es wurde Zeit für 2013. Ich seufzte und versuchte, das mulmige Gefühl in meiner Magengegend zu ignorieren. Ich fuhr nach Hause. Oder dorthin, wo mal mein Zuhause war, früher. Und ich hatte Angst davor. Vor dem ersten Weihnachtsfest, das wieder normal sein sollte. Weihnachten mit Mama, meinem Bruder Mirko und dessen Freundin Steffi. Ohne Papa. Ich schob den Gedanken sofort beiseite und sah aus dem Fenster, die verschneite Eislandschaft flog vorbei, Lichter mit Häusern, in denen noch staunende Augen und Lachen wohnten.
Es war bereits Abend, als ich die Tür aufschloss. Der schwere Vorhang, wie immer, um die warme Innenluft am Entweichen ins kalte Draußen zu hindern. Es roch nach Kindheit, nach Jugend, nach Geheimnissen, Streit und Versöhnung. Mama saß rauchend am Küchentisch und erhob sich, als sie mich sah. Sie hatte gekocht und gab mir einen Kuss.
Die nächsten Tage waren einfach. Mirko und Steffi besorgten Tannenbaum und Gänsebraten, Mama und ich den Rest. Wir redeten das Übliche, Unverfängliche. Schlugen große Bögen. Sie fragte nach Job, Beziehungen, Alltag. Ich fragte wenig und schmückte lieber das Haus reichlichst aus. Heilig Abend drohte.
Als ich am Vierundzwanzigsten (die Welt war noch da) die letzten Geschenke verpackte, klackte mein Handy. Nachricht von Ben! Hey Lara, bist Du in der Stadt? Heute Abend in der Destille, wie früher? Wo warst du letztes Jahr?
Ich grinste und schrieb: war verhindert. Bis nachher!
Das Wohnzimmer wurde nur von Kerzen auf dem Esstisch und am Weihnachtsbaum erleuchtet, das Essen roch fantastisch. Ich hatte keinen Hunger. Mirko schob einen Kartoffelknödel von der einen zur anderen Tellerseite. „Fast wie früher, oder?“ fragte er leise. „Nein, nicht wie früher“, sagte Mama und zupfte einen imaginären Fussel vom weißen Leinen ab. Steffi warf Mirko einen mahnenden Blick zu und ich begann, den Tisch abzuräumen. Wir kämpften uns noch durch den Nachtisch, bescherten zügig und dann machte ich mich durch die eisige Nacht auf in die Stadt.
Die Destille war schon voll, die Luft schneidend, Rauch quoll mir entgegen und raubte mir den Atem. Ich entspannte mich augenblicklich. Hinter der Theke stand Piet, schwitzend und glücklich, er begrüßte mich überschwänglich, um dann weiter Bier zu zapfen. An einem Tisch in der Ecke saßen Ben und Tobi, Andi und Ellen. Gestrandete aus allen Himmelsrichtungen, wieder zwei Jahre älter. Sie fielen mir alle gleichzeitig um den Hals. Wir rauchten und tranken, erzählten und lachten stundenlang. Der Laden wurde langsam leerer und die Gespräche ruhiger. „Lara, wo warst Du letztes Jahr, wieso hast Du Dich nicht gemeldet? “, bohrte Ben. „Wir haben Dich vermisst.“ Und dann leiser: „Ich habe Dich vermisst. Wenigstens einmal im Jahr gehören wir doch hierher.“ Das Grübchen in seinem Kinn, mein Grübchen, vertiefte sich ein bisschen. Ich nagte an meiner Unterlippe, blickte auf den Fernseher in der Ecke, auf dem Bildschirm krachte grade eine riesengroße Arche Noah Next Generation gegen einen überfluteten Berg im Himalaya. „ Ich habe Dich auch vermisst, Ben“, sagte ich. Und dann leiser: „ Ich war ja hier, aber letztes Jahr ist einfach die Welt untergegangen.“ Er nickte nur schweigend und streifte meinen Arm.
Zuhause saß Mama auf dem Sofa, sie war eingeschlafen. Früher hatten sie an Heilig Abend immer hier auf mich gewartet, auf dem Sofa. Einmal sogar bis um fünf Uhr morgens. Erst dann waren sie beruhigt schlafen gegangen. Beide. Mama und... Mama und... und... Papa. Der Schmerz kam so heftig und unerwartet, dass er mir die Atemwege zudrückte. Er war nicht mehr hier. Er würde nie wieder hier sein, nie wieder darauf warten, dass ich endlich nach Hause kam. Auf diesem Sofa, auf dem er seit ich denken konnte seine Zeitung gelesen und Ferngesehen und seinen Tee getrunken und geraucht hatte. Ich sah Mama, wie sie dort alleine auf dem Sofa im Licht des Tannenbaums schlummerte und wie ihr ein kleiner Speichelfaden aus dem Mundwinkel floss. Sie sah so klein und verloren aus auf diesem Riesensofa. Aber sie war noch da. Ich war noch da. Langsam setze ich mich neben sie, hielt ihre Hand, roch an ihren Haaren. Erinnerte mich an alles. Vorsichtig zog ich sie an mich und fing endlich an zu weinen.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, klebten meine Augen und mein Kopf schmerzte und ich verfluchte Piet mit seinen Spezialcocktails, denen er Namen wie „Orgasmus“ oder „U- Boot“ gab. Jemand hatte eine Wolldecke über mich gebreitet, aus der Küche hörte ich leise Radiomusik und geschäftiges Frühstückstreiben. Im Türrahmen erschien ein älterer Mann mit wachen Augen und lebendigem Blick. Er trug eine Küchenschürze, auf der in großen Lettern Mister LoverLover, Mmmmhhhh stand und hielt eine Pfanne in der Hand. „Hallo Lara“, sagte er. „Hast Du Hunger?“ „Ich... wer... woher... “, stammelte ich und rieb meine Augen. „Entschuldige“, sagte er verschmitzt und begann eifrig damit, Essen auf das Frühstücksgeschirr zu schaufeln. Mama kam mit frischem Orangensaft und blinzelte mich an. Sie drückte beherzt meine Hände und gab mir einen Kuss. Gut sah sie aus. Frisch und erholt, als hätte sie einen Kurzurlaub hinter sich. Mirko und Steffi sahen sich an. „Das ist Karl“, sagte Mama schließlich, als wir alle am Tisch saßen und ihre Wangen nahmen eine gesunde Farbe an. „Wir haben uns auf dem Friedhof kennengelernt. Im Sommer schon. Jetzt sind wir endlich mal alle zusammen und können uns einander vorstellen.“ Ich sah Mirkos Augen, die die von Steffi suchten und die Verwunderung darin, die sich in erstaunte Freude wandelte. Mein Handy klackte. Nachricht von Ben! Möchte den Weltuntergang mit Dir nachholen. Könnte mir nichts Schöneres vorstellen. Alles Liebe, Ben.
Abgemacht! , schrieb ich zurück und ich konnte es kaum abwarten. In diesem Moment wusste ich, dass die Welt nicht untergegangen war. Sie war einmal kurz aus der Achse gekippt, hatte die Umlaufbahn verlassen und zog erst ein bisschen eierig, dann aber konstant und ruhig weiter ihre Runden.
„Das ist toll! Karl!“, lächelte ich mit leicht überschnappender Stimme und ignorierte dabei den stechenden Schmerz in meiner Schläfe. Ich fing an, soviel Rührei wie nur irgendwie möglich in mich reinzuschaufeln. Ich brauchte Kraft. Ich hatte einen Riesenhunger, wir alle hatten plötzlich einen Riesenhunger. Einen Mordshunger hatten wir. Auf Eier mit Speck, auf Lachsbrötchen, auf Kaffee, auf Weihnachten mit allem Pipapo und auf all das, was noch vor uns lag.