Der Büchereulen-Adventskalender 2012

  • 1. Dezember 2012 von Batcat



    Weihnachten im Mauseloch


    Merlin Moustache hieß so, da eine Fellzeichnung unterhalb seiner Nase so aussah, als würde er einen winzigen Schnurrbart in seinem Mäusegesicht tragen. Er lebte zusammen mit seiner Frau Martha und den beiden Kindern Mimi und Max in einem ruhigen Vorort.


    Doch das war nicht immer so. Die Familie hatte ein aufregendes und nicht immer einfaches Jahr hinter sich. Begonnen hatte es, als kurz nach Neujahr die alte Agathe, mit der sie sich friedlich eine bescheidene Wohnung geteilt hatten, plötzlich starb. Leider hatte die betagte Seniorin keine weiteren Anverwandten mehr und so hatte es ein paar Wochen gedauert, bis ihr Briefkasten so voll gewesen war, daß die Nachbarn sich doch endlich einmal Gedanken machten und die Wohnung aufbrechen ließen. Bis dahin zehrte die kleine Familie Moustache mehr schlecht als recht von den Bröseln, die Agathe aufgrund ihrer schlechten Augen beim Putzen stets übersehen hatte.


    Sie beschlossen noch abzuwarten, wer nach Agathe in die Wohnung ziehen würde, da sie nur ungern ihre behagliche Zuflucht in einem Loch in der Wand hinter der Wohnzimmerkommode – aber mit Blick auf den Fernseher! – verlassen wollten. Doch leider war das unumgänglich, denn Agathes Nachfolgerin Auguste war zwar sehr sympathisch, doch hatte sie zwei Kater, die ihnen permanent nachstellten. Als sie Merlin eines Tages erwischten und er ihnen erst im letzten Moment verletzt und mit einem halb abgerissenen Ohr entfliehen konnte, war das Maß voll und die Moustaches begaben sich auf Wanderschaft.


    Doch es war nicht einfach, ein neues Zuhause zu finden: viel zu viele Menschen hatten gefährliche Katzen und Hunde und wo es keine dieser Bestien gab, waren alle Mäusewohnungen bereits vergeben. Glücklicherweise war es inzwischen Sommer geworden und die Familie fand wenigstens immer einen trockenen Unterschlupf in Schuppen und Garagen – doch ein neues Heim war auch hier nicht für sie dabei.


    Als der kleine Max bei der Futtersuche Gift erwischte und nur mit Müh und Not knapp überlebte war klar, daß auch das Leben im Freien auf Dauer keine Option war. Doch wohin sollten sie nur gehen? Sie hatten das Gefühl, schon unendlich viele Behausungen angesehen zu haben, aber überall waren sie unerwünscht gewesen und nun ging es auch schon wieder mit Riesenschritten auf die kalte Jahreszeit zu…


    Sie beschlossen, den Winter in einem Schuppen auf einem verlassenen Grundstück zu verbringen, in dem sie schon im Frühjahr ein paar Tage Rast gemacht hatten. Doch zu ihrem Erstaunen war der Schuppen weg, die wilden Büsche waren ordentlich gestutzt und mitten im Grundstück stand nun ein nagelneues Haus. Geschäftiges Treiben herrschte auf dem ganzen Areal: die Hausbauer zogen gerade ein.


    Daher fiel es auch gar nicht weiter auf, daß nicht nur eine Familie mit einem kleinen Sohn in das Haus zog, sondern auch eine Mäusefamilie versuchte, darin unterzukommen. Und sie hatten Glück, denn sie fanden in der rustikalen Wandvertäfelung gleich ein paar Astlöcher, hinter denen sie sich behagliche Räume einrichten konnten.


    Als nun die Weihnachtszeit nahte, herrschte in allen Räumen – den großen und den winzigen hinter der Wand – geschäftiges Treiben. Martha gelang es, ein paar Lamettafäden zu entwenden und dekorierte die Mäusewohnung mit Hilfe ein paar heruntergefallener Tannenzweige ganz allerliebst. Mimi schaffte es, ein ganzes Plätzchen zu stibitzen. Max mopste ein wenig Lachs vom Büfett und Merlin organisierte – der Himmel weiß, wie! – einen ganzen Fingerhut voll köstlichen Weihnachtspunsches.


    Während die Familie im großen Wohnzimmer um den Weihnachtsbaum stand und fröhliche Lieder sang, war das Fest in der Mäusestube eher besinnlich: „Haben wir nicht großes Glück, dieses grauenvolle Jahr gemeinsam hinter uns gebracht zu haben?“ fragte Merlin Moustache gerade seine Frau, als plötzlich zwei wurstige Fingerchen ein Stück Käse durch das Mauseloch pressten und ein dünnes Stimmchen „fröhliche Weihnachten, liebe Mausefamilie“ wisperte.

  • 2. Dezember 2012 von Dori



    Driving Home for Christmas


    Nur noch eine Akte - Unterschreiben, Stempeln, Lochen, Abheften.
    Feierabend. Endlich kann ich nach Hause fahren.


    Der Gedanke an vier Stunden Autobahnfahrt weckt nichts als Unwillen in mir.
    Dabei ist doch Heiligabend.


    Als ich aus dem Bürogebäude, in dem ich arbeite, hinaus auf den Parkplatz trete, ist es bereits dunkel. Kleine Schneeflöckchen fallen vom Himmel. Na super, das heißt für mich, die Autobahn im Schritttempo entlang zu fahren, immer den lahmen Schnecken hinterher, die man irgendwie immer vor sich hat, wenn man eigentlich so schnell wie möglich nach Hause kommen muss.
    Ich fahre los, biege vom Parkplatz und mache mich auf den Weg Richtung Autobahn.


    Dabei hat Weihnachten für mich seinen Zauber eigentlich verloren, seit ich diesen Job 400 Kilometer von Zuhause entfernt annehmen musste. Meine Frau wirft unser Geld trotzdem mit vollen Händen zum Fenster raus, obwohl sie weiß, wie hart ich dafür schuften muss. Ich will auch gar nicht wissen, wieviel Sie dieses Mal für die vielen Geschenke an ihre Verwandtschaft ausgegeben hat, die sie natürlich wieder zu uns eingeladen hat, um sie zu bekochen und zu umsorgen. Allein der Gedanke an meine Schwiegermutter jagt mir einen kleinen Schauer über den Rücken. Was sie wohl dieses Mal an mir auszusetzen hat?


    Ich fahre auf die Autobahn. Ganz schön voll heute. Na klar, die aktuelle Wirtschaftslage zwingt ja nicht nur mich zum Pendeln.


    In meiner Ehe läuft es schon lange nicht mehr rund. Wenn ich überhaupt mal Zuhause bin, streiten wir uns eigentlich nur noch. Ich denke an meine Kinder, die heute wieder zornig sein werden, weil sie auch dieses Jahr wieder kein iPhone bekommen haben werden, und meine Lust, nach Hause zu kommen, schwindet immer weiter.


    Na toll, ein Stau. Wenn ich das richtig sehe, steht vorne ein LKW quer auf der spiegelglatten Straße. Der Fahrer steigt fluchend aus dem Führerhaus, tritt wütend gegen sein riesiges Fahrzeug und zückt sein Handy, um die Polizei, einen Abschleppwagen, oder vielleicht nur seinen Chef anzurufen.
    Ich kurble die Scheibe meines Autos herunter und zünde mir eine Zigarette an. Aus dem Radio plärrt "Last Christmas", wie immer. Als ich den Motor abstelle, genieße ich die darauf folgende Stille.


    Natürlich hält sie nicht lange an, denn die Autos um mich herum hupen laut, weil ihre Fahrer nach Hause zu ihren Familien wollen.
    Der Mann vor mir steigt aus seinem Wagen und scheint mit seiner Frau zu telefonieren, denn er klingt sehr traurig, als er sie bittet, mit dem Essen schon ohne ihn anzufangen, da er es nicht pünktlich schaffen wird.
    Ich setze kurz eine SMS nach Hause ab:
    "Wird wohl wieder nichts. Sorry."


    Dann steige ich auch aus und rauche an mein Auto gelehnt meine Zigarette zuende, während ich beobachte, wie der fallende Schnee um mich herum zu Boden fällt und langsam auch die stehenden Autos bedeckt.


    "Hier, wir haben Glühwein! Möchte jemand?" Schallt es aus einem weiter hinten stehenden Wohnwagen. Ich verriegele meinen Wagen und gehe nachsehen.


    Mit einigen anderen Familienvätern, Ehemännern, Onkeln, Chefs, Angestellten oder was auch immer sie sein mögen, stehe ich schließlich auf der Autobahn und trinke meinen Glühwein.


    Oh holy Night!

  • 3. Dezember 2012 von beisswenger



    Holy Xmas (Holistische Weihnacht)


    Montag, 3. Dezember 2012 zur Mittagszeit, irgendwo in Afrika.
    Zwei Halbwüchsige reinigen die Toiletten eines Waisenhauses. Gottes vergessene Kinder sind im Flow. Sie wischen und schrubben ebenso sorgsam wie eifrig. Seltsam, immerzu führt der Junge die Hand des Mädchens zum Eimer. Hin und wieder reicht er ihr Lappen oder Bürste. Nach einer Weile, viel länger als vom Betrachter vermutet, hebt das Mädchen den rechten Arm.
    „Kurze Pause!“, flüstert der Junge und streicht seiner Gehilfin übers Haar. Von der Arbeit erschöpft, legen sie das Werkzeug zur Seite und lassen sich auf dem Boden nieder. Einen Moment später räuspert sich der Knirps und spricht mit tiefer Stimme, die nicht recht zu seinem Körper passen will:
    „Siehst du, Mahelet, ich werde bald Eltern bekommen!“ Das Mädchen lacht, schüttelt den Kopf und erwidert:
    „Har, Asaria, kleiner Dummkopf! Was soll ich sehen, hab‘ ich doch schlechtere Augen als eine Fledermaus! Und selbst ein Blinder weiß, dass dich keiner mehr nimmt, so alt und zwergwüchsig wie du bist!“ Der Junge nickt und spricht ruhig, fast ohne Trotz.
    „Vom Fuß bis zum Kopf zähle ich 135 Zentimeter und dabei wird es wohl auch bleiben, hmpf! Aber, ob ich so groß bin wie Dr. Kant oder so klein wie deine einarmige Puppe, ist doch einerlei - für dich genauso wie für diejenigen, die wirklich sehen!“ Das Mädchen runzelt die Stirn.
    „Wer will schon einen Krüppel?“ Asaria bleibt stumm. Mahelet beantwortet die Frage selbst: „Niemand!“ Der Zwerg lacht und gibt dem Mädchen eine Kopfnuss.
    „Genau, Mahelet! Niemand wird einen Namen bekommen und mich hier rausholen. So wird es sein!“ Mahelet hebt den Kopf. Das ernste und zuversichtliche Gesicht des Jungen kann sie nicht erkennen, dennoch scheint sie dessen Kraft zu spüren.


    Gleichzeitig in einer anderen Raumzeit, irgendwo im Universum. Prächtig gekleidete Aliens sitzen an einem Zwölfertisch und beraten über intergalaktische Belange. Der Vorsitzende, eine Mischung aus Teddybär und Meister Yoda, ruft in die Runde:
    „Kommen wir zum TOP 14. Es geht um die Selbstmörder vom Planeten Erde. Wie viel Zeit bleibt den Menschen noch?“ Ein Keppler11b-Planetarier klopft mit der Tatze auf den Tisch und krächzt: „Nach meiner Prognose noch etwa 200 Jahre, dann ist der Planet tot!“ Ein Teufel im Wolfskostüm erhebt sich und bellt dazwischen:
    „Wieso so lange warten? Am 21.12.2012 geht die Erde unter, mit Pauken und Trompeten!“ Er lacht hämisch. „Wer sagt das?“, fragt Yoda und das Teufelchen knurrt wie aus der Pistole geschossen:
    „Der Maya-Kalender!“ Da mischt sich ein Schnabeltier mit engelsgleichem Gefieder ein:
    „So viel ich weiß, existieren die Mayas nicht mehr. Auch so eine Kultur, die sich selbst ausgelöscht hat. Die spinnen, die Menschen!“ „Sag ich doch!“, schmettert der satanische Wolf und macht ein teuflisches Gesicht.
    „Was meint ihr?“, wirft Yoda ein, „Sollen wir mal wieder jemanden runterschicken?“ Der Teufel hebt die Arme und entgegnet:
    „Nein, vor zweitausend Jahren haben wir schon mal einen zugestellt, wie hieß er noch mal…, Jesua – und, hat es was gebracht? Nichts! Schaut euch doch um: Dort, wo wir ihn abgeliefert haben, fliegen Raketen und fallen Bomben. Wenn’s nach mir ginge - zur Hölle mit den Menschen!“ Drei Aliens schütteln den Kopf, einer bohrt in der Nase, der Rest zeigt keinerlei Regung. „Gut, stimmen wir ab!“, befiehlt Yoda und zählt sogleich die Handzeichen.
    „Sieben zu fünf Stimmen, das ist eindeutig, also geben wir ihnen eine letzte Chance und hoffen, dass sie es nicht wieder vermasseln. Wen schicken wir?“ Endlich mischt sich ein gelehrt dreinblickendes Echsengesicht im Hyänenkörper ein:
    „Das brauchen wir nicht. Der Auserwählte ist schon unten. Er muss nur noch Eltern finden!“
    „Wer und wo?“, rufen neun Gestalten aus einem Maul.
    „Der Knabe Asaria wohnt in einem Waisenhaus in Harar, Äthiopien, etwa 500 km östlich von Addis Abeba!“, sagt jemand, der so klein ist, dass man ihn kaum sieht. Yoda runzelt die Stirn.
    „Äthiopien? Warum nicht Israel?“ Die Hyänenechse setzt ein professorales Gesicht auf, hebt die Zeigepfote und setzt zur Rede an. Alle stöhnen.
    „Nach der ersten Gründung durch König Salomos Sohn Menelik um das Jahr 1000 vor Jesua, entstand im 11. Jahrhundert zum zweiten Mal der Staat Äthiopien. Heute ist knapp die Hälfte der Bevölkerung unterernährt, über sauberes Trinkwasser verfügt etwa ein Fünftel der Bevölkerung und kaum eine Hütte hat sanitäre Anlagen. Es gibt nur wenige Krankenhäuser und die Ausbreitung von AIDS schreitet ebenso rasch fort, wie die Anzahl der Waisen wächst. Viele Kinder sterben schon vor ihrem fünften Geburtstag…“ Ein garstiger Fluch des Teufels unterbricht ihn. Alle Blicke richten sich auf den Teufel, der befiehlt:
    „Spar dir deinen Vortrag und komm‘ endlich zum Punkt!“ Der Gelehrte schreckt zurück und schweigt, deshalb springt Yoda in die Bresche und trifft eine Entscheidung:
    „Abgemacht, dann schnappt euch diesen Asaria, lasst ihn gedeihen und dann schauen wir uns nächstes Jahr das Ergebnis an!“ Der Teufel, der immer das letzte Wort haben muss, ätzt seinen Unmut heraus: „Darüber hat der Namenlose noch nicht entschieden!“


    Am 6. Januar, vormittags im Waisenhaus in Harar. Vorfreude hat sich breitgemacht, die Kinder springen und hüpfen herum. Viel zu früh läutet die Glocke. Erstaunt blicken alle zum Büro hinüber. Davor posiert Dr. Kant, der hochgewachsene stellvertretende Leiter. Er verharrt einen Augenblick bis die Stimmen verstummt sind, dann ruft er den kleinen Asaria. Stolz schreitet der Junge durch die Reihen. Dr. Kant ergreift seine Hand und führt ihn hinein.
    „Asaria, dort sitzen Frau und Herr Aserate. Sag guten Tag!“ Ein etwa vierzigjähriger bebrillter Mann mit Halbglatze, gutmütigen Augen und eine zarte Frau in traditioneller Kleidung, einem langen Rock, darüber die Shamma, ein weißer Baumwollumhang, lächeln dem Kleinen zu. Herr Aserate blickt dem Knaben freundlich ins Gesicht und sagt: „Du kommst mit uns in den Norden nach Aksum. Wir wohnen direkt neben der Kirche.“ Asaria glotzt den stellvertretenden Leiter an. Dr. Kant zwinkert ihm zu und erklärt: „Herr Aserate meint die Kirche der Heiligen Maria von Zion, wo die Bundeslade aufbewahrt wird.“ Asaria strahlt übers Gesicht und eine Träne läuft ihm an der Nase vorbei in den Mund hinein.

  • 4. Dezember 2012 von Lesebiene



    Barbaratag


    „Kathy, komm wir gehen zu Onkel Willi und Tante Helga in den Garten.“ Bitte Sue ihre Tochter. „Au wie fein,“ freut sich die 8jährige Kathy. „Du Mama, ob Tante Helga wieder heißen Kakao für mich macht? Der ist immer so lecker.“


    „Aber bestimmt.“ Lacht die Mama und schaut sich Kathy an. „Wo sind denn schon wieder Deine Handschuhe? Es ist kalt draußen. Ach, hier in der Manteltasche.“


    Nachdem Kathy hinten auf dem Kindersitz angeschnallt ist, steigt Sue ein und schnallt sich an. „So – ab geht’s“ freut sich Kathy.


    Als die beiden im Garten ankommen, freuen sich Onkel Willi und Tante Helga. Die Ankömmlinge werden geherzt und Tante Helga fragt Kathy: „Möchtest Du eine Tasse Kakao und ein Stück Ribbelkuchen?“ Kathy hüpft auf und ab: „Fein, Tante Helga – ich freue mich“.


    Sue und Onkel Willi gehen derzeit zum Apfelbaum. „So, Mädchen, wie viele Zweige hättest Du gerne?“ lacht Willi. „Och, die Zweige sollen ja nicht soooo dick sein – 4 oder 5 vielleicht,“ grübelt Sue.
    Willi greift zur Säge und sägt 10 Zweige ab. Mit den Zweigen gehen sie zurück zur Datsche und Willi ruft: „Helga, ist der Glühwein fertig?“ Helga lacht: „Aber natürlich!“


    Sue wärmt ihre Hände an der heißen Glühweintasse und erfreut sich der Apfelbaumzweige. Kathy setzt sich zu ihrer Mutter, hält den Kopf schief und grübelt: „Mama, warum willst Du Apfelbaumzweige in Deiner Vase stellen? Da sind doch überhaupt keine Blüten dran. Tante Helga hat doch so schöne andere Blumen.“


    Sue versucht zu erklären: „Schau Kathy, das ist eine uralte Tradition. Wenn wir am 4. Dezember frisch geschnittene Obstbaumzweige in eine Vase stellen, dann blühen sie am Weihnachtsabend.“


    Kathy möchte natürlich noch mehr wissen. „Woher kommt denn die Tradition, Mama“.


    „Das ist auf die Heilige Barbara, die Schutzpatronin der Bergleute, der Schlesier, der Gefangenen, der Glöckner, der Architekten und der Helfer des Technischen Hilfswerkes zurückzuführen.“ Erklärt die Mutter von Kathy. „Barbara von Nikomedien lebte etwa im 3. Jahrhundert und war eine Märtyrerin.“


    „Mama,“ will Kathy weiter wissen, „warum ist Barbara heilig?“ Sue lacht: „Sie wurde von einem Papst, ich weiß auch nicht welcher, wurde sie heiliggesprochen. Aber ich kann ja mal bei der Büchereule nachfragen. Da gibt es einen Thread ‚einfach fragen‘. Da gibt es viele schlaue Leute, die das ganz bestimmt wissen.“ „Ja Mama – das machen wir.“ Meint Kathy.


    Dann verabschieden sich Mama und Tochter von Onkel Willi und Tante Helga und machen sich auf den Heimweg.

  • 5. Dezember 2012 von arter



    Sankt Nikolaus‘ Klage


    Morgen ist mein Namenstag. Kaum einer feiert mehr einen Namenstag. Aber ausgerechnet bei mir wird ein Riesenbohei darum gemacht. Ich selbst bin dann immer schon so platt, dass ich keinen Finger mehr rühren kann. Ich ziehe mich dann für gewöhnlich in meine gemütliche Hütte nach Lappland zurück, wo mir der finnische Staat netterweise eine lebenslange Pension gewährt. Die wissen offenbar nicht was sie tun, denn in meinem Falle ist lebenslang wirklich sehr, sehr lang. Ich bin als Heiliger nämlich eigentlich unsterblich, jedenfalls solange noch irgendjemand an mich glaubt. Na ja, die Finnen haben wohl einen ziemlichen Narren an mir gefressen, denn sie haben das Wohl und Wehe ihrer ganzen Nation meiner Obhut anvertraut, indem sie sich ausgerechnet an meinem Ehrentag für unabhängig erklärten und ihren Nationalfeiertag draus gemacht haben.


    Der Stress geht für mich schon am Vorabend los. Schuhe putzen ist ja heutzutage eigentlich kaum mehr angesagt. Aber ausgerechnet heute, am fünften Dezember muss jedes Kind seine selbstpflegenden Plastikbotten mit einer Bürste bearbeiten. Und die Eltern drohen „Mach die Schuhe schön sauber, sonst bringt der Nikolaus keine Geschenke“. Nicht, dass ich mich um die Geschenke selbst kümmern würde, Gott bewahre. Früher haben es noch Äpfel und Nüsse getan, heute muss schon zumindest eine Nintendo-Spielkonsole oder ein Lego-Exklusivset in den Schuhen stecken. Die Kinder sind zwar meist schon im Alter von vier Jahren nicht mehr hinters Licht zu führen, doch das hindert die Eltern nicht, immer wieder diese Lüge zu erzählen. Als Heiliger kann ich mich da leider nicht aus der Verantwortung stehlen. Jedes Mal wenn ein Kind seine Schuhe rausstellt, ist mein Segen gefragt. Und Segen spenden, das geht ganz schön auf die Schultergelenke. Ich weiß wovon ich rede, ich muss das jedes Jahr aufs Neue, millionen- und abermillionenfach tun und das schon seit Jahrhunderten rund um den Erdball.


    Das hätte ich mir damals nicht träumen lassen, als ich noch ein einfacher Bischof in Myra war. Diesen Ort kennt ihr wahrscheinlich gar nicht, es sei denn ihr macht Badeurlaub in der Türkei und schiebt mal einen Tag Kultur ein. Damals war das noch ein christlicher Ort. Eigentlich einer der ersten wirklich christlichen Orte im oströmischen Imperium. Das Christentum war damals der neueste Schrei und die Leute liefen mir in Scharen zu. Ich muss zugeben, ich habe auch ein ziemlich cleveres Marketing betrieben. Vielleicht ist das aber auch der Grund, warum man mich nicht vergessen hat. Man hat mir dann allerhand Wunder angedichtet und das Märtyrertum. Ist alles nicht ganz so gewesen, wie es in den Legenden erzählt wird, das muss ich zugeben.


    Zum Beispiel die Geschichte mit den Goldstücken, die ich den Jungfrauen gegeben haben soll. Ihr Papa wollte sie in die Prostitution geben, weil er ihnen keine Mitgift für eine ordentliche Verheiratung geben konnte (ich glaube er hatte sein Geld verzockt). Ich mochte die drei alle sehr gern und es waren ein paar Winkelzüge notwendig, doch ich hab da eine Lösung gefunden. Natürlich habe ich ihnen keine Goldklumpen in die Strümpfe gesteckt, wie das dann später erzählt wurde und weshalb dieser Unsinn mit den Schuhen heute gemacht wird. Woher sollte ich diese Menge Gold auch gehabt haben, ich konnte schließlich nicht zaubern. Im Endeffekt war es aber dasselbe Ergebnis, die drei und ihr Vater mussten sich nie wieder über wirtschaftliche Schwierigkeiten beklagen. Aber wahrscheinlich würde die Wahrheit ein viel weniger heiliges Licht auf mich werfen.


    Genauso die Sache mit den eingepökelten Gelehrten, die ich wieder zum Leben erweckt haben soll oder dem Sturm den ich abgewendet habe oder wie ich den Kaiser um die Getreidelieferung berumst habe. Ich muss immer schmunzeln, wenn ich das höre. Ich glaube es wäre mal an der Zeit, die Wahrheit zu berichten. Vielleicht erzähle ich euch später mal, wie es wirklich war.


    Wegen all dieser Geschichten darf ich jedenfalls nicht in den Ruhestand gehen, sondern bin als Heiliger immer wieder gefragt, meinen Segen zu spenden. Das ist wohl die späte Rache meiner bösen Taten. Vergessenwerden, zur Ruhe kommen. Wie schön wäre das. Aber nein, der Hype um meine Person wird immer größer. Kein Gedanke an Rückzug. Nicht, dass ich nach dem sechsten Dezember meine Ruhe haben werde, nein der eigentliche Stress geht dann erst los. Schuld daran sind die Amis und die Holländer. Die Holländer waren schon immer völlig abgedreht, wenn es um meine Person und die Feierlichkeiten drumrum geht. Die feiern ihren Sintaclaas über 2 Tage. Bereits heute ist da die Hölle ... äh Verzeihung, der Himmel los. Die große Schenkerei findet bei denen schon morgen statt. Weihnachten ist dann nur noch ein Nachklang.


    Früher war es überall so, dass nur am Nikolaustag geschenkt wurde. Aber dann kam dieser Luther. Ich wäre ihm fast dankbar gewesen und ich hatte auch gute Hoffnungen damals, dass die Menschen den Zirkus um meine Person einstellen würden. Aber dann hat es sich doch etwas anders entwickelt. Luther meinte, dass man diese ganzen Heiligen (und ganz speziell meine Person) doch nicht so anhimmeln solle. Stattdessen soll der gute Christ doch die Bibel lesen. In der Bibel gibt es keinen Nikolaus. Nur Jesus Christus. Und der hat in der Nacht vom 24. Zum 25. Dezember Geburtstag, nicht am sechsten. Das hätte dann in den reformierten Gegenden auch fast geklappt. Aber den Kindern waren wohl geistige Gaben nicht genug, sie wollten lieber Äpfel und Nüsse (wenn die Eltern damals gewusst hätten, wie billig sie eigentlich davongekommen sind…) und mit dem heiligen Christ als Geschenkebringer, wie von Luther vorgeschlagen, konnte sich auch so niemand richtig anfreunden. Deshalb wurde der dann in vielen Regionen durch ein Kind in der Form eines blonden Engel ersetzt. Na ja, das soll mir recht sein, das entlastet mich ja nur. Ich frag mich allerdings manchmal, warum heute ausgerechnet in katholisch geprägten Ländern Luthers Weihnachtsreform Früchte getragen hat. In den protestantischen Gebieten kam das anders, viel schlimmer, wie ein Bumerang, über den großen Teich geworfen kam ich als skurrile Karikatur meiner selbst zurück nach Europa und das bereitet mir nun wirklich langsam unerträglichen Stress.


    Die nach Amerika ausgewanderten Holländer hatten damals ihren Sintaclaas mit in die neue Welt genommen. Dort sind die verschiedensten Gebräuche und Aberglauben zusammengekommen und wurden miteinander verwoben. Und die Menschen in der neuen Welt haben irgendwie Gefallen dran gefunden. Und als aus New Amsterdam New York und aus Sintaclaas Santa Claus geworden war, begann das Desaster. Plötzlich musste ich auch am Heiligen Abend ran. Schon in den Sezessionskriegen soll ich den tapferen Kämpfern vom Schlitten aus Geschenke gereicht haben. Später gab man dem Schlitten noch Rentiere bei, ließ ihn durch die Luft fliegen und schickte mich zur Bescherung durch einen rußigen Kamin.


    Dann hat noch ein Getränkekonzern diese zugegebenermaßen recht erfolgreiche Marketingkampagne veranstaltet. Da bekam ich dann diesen absurd-pompösen roten Mantel und den lächerlichen Rauschebart übergeholfen, das passte wohl ganz gut zur Corporate-Identity des Konzerns. Und die haben mich dann wieder zurück nach Europa exportiert. Dort hat man mir noch diesen finsteren Gefährten in die Persönlichkeit eingeimpft, diesen bösartigen Knecht Ruprecht. Früher, als ich NUR der Nikolaus war, hat mich der Ruprecht immer noch als Faktotum begleitet, da war die Rollenverteilung klar. Jetzt als Weihnachtsmann bin ich beides in einer Person, das ist schon leicht schizophren. Die Weihnachtsmannrolle verlangt wirklich viel von einem alten Mann und Kinder mit der Rute zu bedrohen, wenn sie nicht artig sind, das war noch nie mein Ding. Aber auch das muss ich wohl oder übel über mich ergehen lassen.


    Ich bin dann so froh wenn der ganze Trubel vorbei ist. Ihr seht, das mit dem Vergessenwerden ist bei mir ein hoffnungsloser Fall. So, jetzt muss ich mich aber auf das Segen-Spenden vorbereiten. Das wird jetzt wieder eine lange Nacht. Also dann fange ich mal bei euch an: Habt eine friedliche und gesegnete Adventszeit und wenn ihr mich benötigt, egal ob jetzt als Nikolaus oder später als Weihnachtsmann, ich werde für Euch da sein und mein Bestes geben. Geduldig, gütig und respekteinflößend wie immer. Aber eine dringende Bitte hätte ich dann doch noch. Hängt mich bitte nicht in Kletterpose an eure Häuserfassade und lasst mich dort nicht bis ins neue Jahr hängen. Das machen meine alten Knochen wirklich nicht mehr mit!

  • Liebe Eulen, die folgende Geschichte ist tatsächlich einmal in der Nacht vor dem Nikolaustag entstanden. Ich habe sie nie veröffentlicht. Nun ist sie mein ganz persönliches Nikolausgeschenk an Euch. Herzlich, Eure Alex

    6. Dezember 2012 von AlexBerg



    Kein Fremder


    Es war der Vorabend zum Nikolaustag.
    Eben hatte ich meine Kinder zu Bett gebracht, und ihnen wie in jedem Jahr die Geschichte vom Nikolaus erzählt, der mit seinem Pferdeschlitten, gezogen von zwei prächtigen Schimmeln, am Himmel zwischen Wolken und Mond vorbeizog und in die Fenster schaute, ob die Kinder auch artig schliefen. Ob sie vorher ihre Stiefel geputzt vor die Tür gestellt, und auch das Brot, die Äpfel und das Wasser für seine Pferde nicht vergessen hatten. Seine Schimmel, benannt nach dem schönsten und hellsten Stern am Firmament - Morgenstern und Abendstern.
    Deswegen würden sich die Wolken heute Abend auch so schnell bewegen, mutmaßte der ältere meiner Söhne, sie versuchten, mit dem Schlitten des Nikolaus Schritt zu halten. Ich erzählte weiter, von dem großen Sack mit den Geschenken für die artigen Kinder, den der Nikolaus hinten im Schlitten dabei hatte, und den Ruten für die unartigen. Mein jüngster Sohn war durchaus beeindruckt. Aber statt sich lieb ins Bett zu legen, um dem Nikolaus zu zeigen, was für ein braver Junge er war, setzte er sich aufs Fensterbrett und starrte gebannt in die Nacht, hocherfreut darüber, dass der Mond hell schien, so dass er den den "Mikolaus" sicher besonders gut sehen konnte, wenn er an unserem Haus vorbeiflog. Alle gemeinsam hatten sie sich vor dem Schlafen gehen eifrig an unserem alljährlichen Ritual beteiligt und neben den Stiefeln - „Ich nehm' die neuen, die brauche ich nicht zu putzen!" - auch die Schüsseln für die Pferde des Nikolaus mit vor die Tür gestellt. Es wurden noch Zweifel geäußert, ob der Hof unseres Bauernhauses denn auch groß genug zum Landen des Schlittens wäre, doch ich konnte meine Jungs beruhigen.
    Inzwischen lagen sie selig schlummernd in ihren Betten, und ich suchte die Überraschungen und Leckereien zusammen, die ich am Nachmittag in aller Eile besorgt hatte, um an diesem Abend ihre Stiefel zu füllen. Als ich die Hunde vor dem Schlafen gehen noch einmal hinaus ließ und mit ihnen in die frostklare Nacht trat, sah ich zum funkelnden Sternenhimmel auf und eine stille Wehmut überkam mich. „Schade eigentlich“, dachte ich, „dass er nicht wirklich kommt.“
    Da hörte ich plötzlich eine tiefe Stimme: „Ihr habt mich überflüssig gemacht. Da ihr längst nicht mehr an mich glaubt, füllt ihr die Stiefel eurer Kinder selbst. Warum sollte ich da noch kommen?"
    „Ja," entgegnete ich völlig in Gedanken versunken. "Warum solltest du da noch kommen." Auch ich hatte die gefüllten Stiefel schon vor die Zimmertür der Kinder gestellt.
    „Aber es ist lieb von dir, dass du trotzdem an meine Pferde denkst“, fuhr die Stimme fort. „Nach dem langen Weg können sie eine Stärkung gut gebrauchen und inzwischen wissen sie schon, dass es hier immer etwas gibt."
    Wie zur Bestätigung hörte ich ein zufriedenes Schnauben und Kauen, und das war es letztlich, was mich aus meiner Versunkenheit riss. War eins meiner Pferde ausgebrochen und labte sich an den bereitgestellten Brötchen und Äpfeln? Ich fuhr herum.
    Und da sah ich ihn.
    Er sah genauso aus, wie ich ihn mir immer vorgestellt hatte. Er trug einen langen roten Mantel und schwarze Stiefel. Der Kragen, die Ärmel und der Saum des Mantels waren mit weichem weißen Pelz eingefasst. Sein Gesicht war eingerahmt von einem mächtigen weißen Bart, der ihm bis zum Gürtel reichte, und auf dem Kopf trug er eine große rote Zipfelmütze mit einem weißen Bommel. Aus seinen dunklen Augen blickte er mich ernst, aber voller Liebe, an. Er war alt, sehr alt, und trotz der Kraft, die er ungeachtet seines Alters verströmte, war eine tiefe Müdigkeit um ihn.
    Hinter ihm standen, wie sollte es auch anders sein, angespannt vor einem goldenen Schlitten, seine beiden Schimmel. Ihre langen Mähnen fielen seidig glänzend über die edel geformten Hälse und ihre warmen Augen richteten sich freundlich auf mich, während sie voller Genuss ihre Gaben zerkauten und ab und an einen Schluck Wasser tranken. Kein Zaum verunzierte ihre schönen Köpfe.
    „Was staunst du mich so an?" fragte der Nikolaus beinahe vorwurfsvoll. „Meine Pferde sind versorgt. Aber ich könnte auch etwas vertragen. Warum bittest du mich nicht einfach herein?"
    Sprachlos vor Überraschung öffnete ich die Tür und lud ihn mit einer Handbewegung ein, hineinzugehen. Von meinen Hunden war nichts zu sehen.


    Wir setzten uns an den Küchentisch. Der Stuhl knarrte unter dem Gewicht des Nikolaus, als er mit einem wohligen Seufzer seine Füße zur Heizung hin ausstreckte und mich erwartungsvoll ansah.
    Unschlüssig stand ich wieder auf. „Was würdest du gern trinken?"
    „Einen starken Tee mit einem Schuss Rum:" antwortete er. „Bei eurem Frost braucht man etwas, dass einen so richtig von innen durchwärmt."
    Auf meine Frage, ob er auch etwas essen wollte, schüttelte er den Kopf, griff aber doch zu, als ich zu Tee, Kandis und Rum auch eine Auswahl an selbstgebackenen Plätzchen auf den Tisch stellte.
    „Am liebsten mag ich die bunten, süßen, die deine Kinder gebacken haben“, gestand er mit einem Augenzwinkern, während er sich einen der rosablauen Zuckergusskekse meiner Söhne in den Mund schob.
    Ich nippte an meinem Tee und staunte noch immer.
    „Du bist doch sonst nicht so still", bemerkte er. „Was hat dir die Sprache verschlagen?"
    "Du." war meine schlichte Antwort. „Aber … woher weißt du, wie ich sonst bin?" Doch bevor ich meine Frage ausgesprochen hatte, kannte ich bereits die Antwort.
    „Du weißt doch warum“, bemerkte auch er. „Weshalb fragst du?" Wieder zwinkerte er, und ich schämte mich fast. Himmel, ja, natürlich wusste ich, dass der Nikolaus alle Kinder der Erde kannte. In seinem großen Goldenen Buch hatte er für jedes Kind eine Seite reserviert, wo vermerkt wurde, was das Jahr über an Erfreulichem und Unerfreulichem passierte, bis sich am Ende entschied, ob es für das Kind am Nikolaustag ein Geschenk oder eine Rute gab. Und schließlich war auch ich einmal Kind gewesen.
    „Hast du das Goldene Buch dabei?" wollte ich wissen.
    Er strich sich ein Paar Krümel aus dem Bart und schüttelte den Kopf. „Es ist zu groß und schwer, und meine Schimmel haben schon an dem Sack mit den Geschenken und Leckereien genug zu ziehen."
    „Deine Schimmel, sie heißen Abendstern und Morgenstern", stellte ich fest.
    Er betrachte mich einen Moment schweigend. „Du bist gut informiert", erwiderte er dann. „Und du hast dein Lieblingspferd nach meinem Abendstern benannt."
    Ich musste lachen. „Du weißt aber auch nach wie vor Bescheid.“
    In seinen Augen blitzte es vergnügt auf. Das Eis war gebrochen. Ich schenkte uns Tee nach und füllte den Plätzchenteller auf.
    Wir unterhielten uns lange. Und jetzt, nachdem ich meine Überraschung überwunden hatte, scheute ich mich auch nicht, ihm all die Fragen zu stellen, die für mich im Zusammenhang mit seiner Person immer offen geblieben waren. Und er stand mir bereitwillig Rede und Antwort.
    „Aber wie holst du die Zeit wieder auf, die wir jetzt verplappert haben?" fragte ich schließlich. „Du hast sicher noch einige Stiefel zu füllen heute Nacht."
    „Wir machen Zeitsprünge, meine Schimmelchen und ich. Sonst würden wir es nie schaffen. Das ist es auch, was uns müde macht. Zeitsprünge zehren einen alten Mann sehr aus." Er erwiderte meinen Blick mit einem Mal wehmütig. " Aber die Arbeit wird weniger. Der Zeitpunkt ist bereits abzusehen, an dem wir endgültig fertig sind."
    „Fertig?", wiederholte ich erstaunt. "Der 6. Dezember kommt jedes Jahr, oder bekommst du einen Nachfolger?"
    Darüber musste der Nikolaus trotz seiner Wehmut lachen. „Nein, einen Nachfolger bekomme ich nicht. Ich bin ein magisches Wesen und existiere so lange, wie Menschen an mich glauben. Auch ich werde älter, aber ich altere sehr viel langsamer als ihr. Nun ist jedoch meine Zeit bald gekommen."
    "Ja, aber nein..." widersprach ich, "was wird denn aus uns, ohne Nikolaus?"
    "Nun, ihr werdet mich dann nicht mehr brauchen. Immer weniger Kinder glauben an mich und in immer mehr Familien gerät der Brauch, am Vorabend des Nikolaustages die Stiefel hinaus zu stellen, in Vergessenheit, und in den Familien, in denen es noch gemacht wird, übernehmen die Eltern das Füllen der Stiefel oft selbst, da sie nicht mehr glauben, dass ich wirklich komme."
    Beschämt dachte ich an die von mir gefüllten Stiefel, die vor der Tür des Kinderzimmers standen. „Dann wart ihr in den letzten Jahren immer hier, und deine Pferde haben das Wasser getrunken und das Brot und die Äpfel gefressen? Ich dachte, es wären Katzen oder Kaninchen am Futter gewesen, denn der Wassereimer war jedes Mal umgekippt."
    Der Nikolaus sah zum Fenster hinaus, wo seine Pferde im hellen Mondlicht warteten. „Morgenstern ist etwas ungestüm, wenn er die letzten Reste aus dem Eimer trinkt", entschuldigte er sich.
    Kopfschüttelnd musste ich erneut lachen, und er stimmte mit seinem tiefen Bass ein.
    Da hörte ich vor der Tür hörte ein leises Jaulen. "Meine Hunde", entschuldigte ich mich und stand auf, um sie herein zu lassen. Beim Betreten der Küche nickten die beiden dem Nikolaus freundlich zu und legten sich dann ruhig auf ihre Decke in der anderen Ecke der Küche. Ihr Verhalten überraschte mich. Normalerweise bellten sie jeden Fremden laut an.
    "Ich bin kein Fremder." sagte der Nikolaus still in meine Gedanken.
    Ich sah auf.
    Er hatte recht.
    Er war kein Fremder - und nie einer gewesen.


    „Ich muss nun weiter.“ Mit einem Seufzen schob er seinen Stuhl zurück, stand auf und fuhr mit den Händen glättend über seinen roten Mantel. „Es war schön, mit dir hier zu sitzen und zu reden, und dein Tee und deine Plätzchen waren wundervoll." Er ging zur Tür.
    Ich stürzte hinterher, wie, um ihn zurückzuhalten. „Werden wir uns wiedersehen?"
    „Vielleicht."
    Ich schnappte mir noch zwei Äpfel und gab sie draußen den beiden Schimmeln. Sie streckten mir ihre weichen Nüstern entgegen und ließen sich von mir liebkosen. Als ich mich umdrehte, stand der Nikolaus hinter mir. Ein Windstoß fuhr durch seinen langen weißen Bart, und spontan legte ich meine Arme um seine Hals, gab ihm einen Kuss auf die Wange und drückte mich an ihn. „Ich liebe dich", flüsterte ich.
    Der Nikolaus strich mir über das Haar. „Ich weiß“, entgegnete er sanft. „Und deine Liebe gibt mir Kraft." Tatsächlich war mir, als ginge er aufrechter zu seinem Schlitten zurück, und als er sich zum Abschied noch einmal umdrehte und winkte, schien sein Gesicht nicht mehr ganz so müde. Seine Schimmel tanzten und schnaubten und ihr Atem war wie Nebel um ihre schönen Köpfe. Dann waren sie fort.


    Ich habe nie jemanden von unserer Begegnung erzählt. Es war, als hätte ich damit etwas unendlich Kostbares entweiht. Am 5. Dezember stellte ich seither jedoch zusätzlich zu den Leckereien für die Schimmel auch immer eine Thermoskanne mit Tee, Rum und Kandis, sowie eine liebevoll verpackte Tüte mit bunten Plätzchen vor die Tür. Die Stiefel meiner Kinder füllte ich auch nicht mehr selbst, doch am Nikolausmorgen waren sie immer voller wunderschöner Überraschungen.


    Eines Tages schließlich, an einem 6. Dezember, als meine Kinder längst erwachsen und aus dem Haus waren, standen die Gaben, die ich dem Nikolaus und seinen Pferden noch jedes Jahr vor die Tür stellte, unberührt da, und da wusste ich, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, von dem er vor so vielen Jahren gesprochen hatte. Dass von nun an alle Eltern die Stiefel ihrer Kinder wirklich selbst füllen mussten. Eine große Leere breitete sich in mir aus und ich rannte in den Stall zu meinem Abendstern, der nun auch schon ein alter Herr war, und vergrub mein Gesicht in seiner Mähne.

  • 7. Dezember 2012 von Holle



    Ankunft

    *
    ***
    Termin
    Zeitrafferhektik
    Bahnhofslärm
    Ohrstöpsel
    Frequenzwechsel
    Anderswelten
    *************
    *********
    *****
    I
    Weihnachtsblues
    I
    ***** Treppenstufen Granitmelange *****
    **** standardisierte Marschrichtung ****
    ********** Augen geradeaus **********
    ********* Koffer nachgezogen *********
    I
    Engelgraffiti
    I
    ********* Verspätungsansage *********
    ********* Augenblickswirren **********
    *********** Tagtraumbilder ***********
    ***** Menschenbündel Sitzgruppen *****
    I
    LED-Lichter
    I
    *********** Zugluftbahnsteig **********
    ****** Magenknurren Kaffeedurst *******
    ************* Erinnerung *************
    ********* Sehnsuchtsvorfreude *********
    I
    Marzipanstollen
    I
    ****** Bremsenquietschen Türöffner ******
    ***** Ausstiegsbewegung Körperballett *****
    ** vertrautes Gesicht lachendes Willkommen **
    ******** offene Arme ersehnte Nähe ********



    Das alltägliche Geschehen irritiert mich heute. Im Zentrum meiner Aufmerksamkeit befindet sich ein Termin und lässt alles um mich herum in Zeitrafferhektik vorbei eilen. Es gleicht einem schnellen Fluss, an dessen Ufer ich mich langsam auf mein Ziel zu bewege. Gegen den Bahnhofslärm setze ich die Ohrstöpsel des Players ein. Der Frequenzwechsel blendet die hektische Umwelt in den Hintergrund und lässt musikalische Anderswelten wirken. Wunderbarer Weihnachtsblues.


    Treppenstufen aus Granitmelange lenken meine Schritte in eine standardisierte Marschrichtung. Inmitten von Menschen, deren Bewegungen selbstähnlich erscheinen, bewege ich mich abwärts. Ich muss an Roboter denken, Augen geradeaus, Koffer nachgezogen. Assoziationen erobern mein Denken. Lämmer zur Schlachtbank? Rituale? Das Ballett von Marius Petipa zur Vertonung Tchaikovskys „Von Einer, die auszog, das Lieben zu lernen?“ Der Puls beschleunigt sein Tempo, die Musik im Ohr entwickelt einen offensiveren Takt. Meine Augen finden Ruhe beim Betrachten raphaelitischer Engelgraffiti.


    Unten angekommen empfängt mich eine Verspätungsansage. Soll ich mich ärgern? Ich suche mir einen ruhigen Platz, um den Augenblickswirren zu begegnen. Die Engel haben Tagtraumbilder in meinem Kopfkino ausgelöst. Himmlische Heerscharen bewegen sich unsichtbar auf dem Bahnsteig und segnen Menschenbündel, ausgestreckt auf Sitzgruppen, im Schein der LED-Lichter.


    Der Zugluftbahnsteig lässt meinen Körper frösteln. Magenknurren ruft das ausgefallene Frühstück ins Gedächtnis. Nur nicht zu spät kommen! So lange habe ich schon gewartet. „Geduld. Gelassenheit. Beherrschung!“ kommandiert mein Verstand. „Kein Warten mehr! Jetzt soll der Zug kommen! Sofort!“ faucht mein Reptiliengehirn. Zwischen die widerstreitenden Impulse mischen sich Kaffeeduft und Marzipanstollengeschmack.


    Bremsenquietschen schrillt und vereinnahmt meine Aufmerksamkeit. Ohrstöpsel raus, Musik aus. Türöffner werden betätigt, und die konzentrierte Ausstiegsbewegung vieler Menschen gleicht einem graphischen Konzept. Ströme von Adrenalin bewegen sich durch den Körper und lassen mein Gehirn schnellstmöglich ein vertrautes Gesicht entdecken, lösen lachendes Willkommen in meinem Sprachzentrum aus. Ich laufe los, hinein in offene Arme. Die ersehnte Nähe des Erwarteten erreicht mich als perfekter, zeitloser Augenblick.

  • 8. Dezember 2012 von Fay


    Vampirnachten auf Schloss Eulenschreck


    Dass Vampire nicht am Heiligen Abend das Fest begingen, war irgendwie verständlich. Dieser besondere Feiertag, an dem die ganze Sippschaft gemeinsam eine besinnliche Nacht beging, fiel immer auf den 8. Dezember. Warum? Ganz einfach, diese Zahl stand für die Unendlichkeit.


    Da saß Fay nun zwischen den anderen Vampiren. Einer abgehalfterter als der andere. Wo war sie da bloß reingeraten? Sie dachte, es wäre schon Strafe genug, als einziger Moppel-Vamp in die Geschichte einzugehen, aber es kam noch schlimmer. Sie war zu Besuch bei ihren Schwiegereltern, wenn man sie denn so nennen durfte. Die Stimmung schien irgendwie gedrückt. Unwohl sah sie den merkwürdig geschmückten Baum an. Sie wollte gerade zu der Frage ansetzen, was diese komischen Kringel wären, als ihre Schwiegermutter, Lady Johanna, die offensichtlich Gedanken lesen konnte, die Frage beantwortete, bevor sie überhaupt gestellt wurde.


    „Blutwurst, aus eigener Herstellung“, sagte sie mit stolzgeschwellter Brust.
    Fay wurde bei dem Gedanken übel. Noch hatte sie sich erfolgreich geweigert, Menschenblut zu trinken. Dafür hatte sie sich mit Hunden und Katzen über Wasser gehalten. Nur das Kuschelhundchen und das Batcat‘zchen hatte sie verschont. Der süße Cockerspaniel und die geflügelte Katze waren ihr einfach zu sehr ans Herz gewachsen. Der Rest war ihr egal, zur Holle mit dem Kroppzeug.


    „Ach, das ist Blutwurst?“, Opa Churchill setzte das Monokel auf und sah erneut zum Baum hinüber. „Und ich dachte, das sind Meisenringe. Ich habe mich gewundert und mich gefragt, seit wann unsere Fledermäuse Groupie und Tom zum Veganismus konvertiert sind.“


    „Vaginismus?“ fragte Oma Rienchen und sah geschockt in die Runde. „Ist das so ansteckend wie Tripper?“ Schützend faltete sie die Hände im Schoß.


    „Rienchen, hast du schon wieder dein Hörgerät nicht drin?“, schrie Arter über den Tisch. „Und Papa, wann gehst du endlich zum Augenlasern? Langsam wirst du untragbar für die Familie!“ plustert sich der Vampirvater auf. „War schon peinlich genug, als du das letzte Mal Graf Voltaire einen Knutschfleck verpasst hast, weil du dachtest, es wäre Gräfin Nicole.


    „Das musst gerade du sagen“, blubberte Opa Churchill zurück. „Wer braucht denn neuerdings Inkontinenzwindeln, weil er das Blut nicht mehr halten kann? Du bist undicht wie ein Sieb!“


    „Ich bin nicht undicht“, entrüstete sich Arter und sah seinen Vater böse an. „Ich habe mir vorgestern eine Blasenentzündung zugezogen, als ich auf dem Dach Ausschau nach unserem Braten gehalten habe.“


    „Ihr seid widerlich“, schaltete sich Lady Johanna ein. „Wir haben einen Gast.“


    Fay fühlte sich wie auf dem Präsentierteller. Alle Augen ruhten auf ihr. In diesem Moment bemerkte sie, wie Opa Churchill das Monokel zurechtrückte, und auf ihre Nippel starrte. Kein Wunder, dass sich diese Dinger keck aufgerichtet hatten und wie Kirchturmspitzen anmuteten. Hier war es so kalt wie bei einem zugigen Eulentreffen.


    „Na, kann sie sich doch gleich dran gewöhnen. Übrigens, diese Wurstringe würde ich an deiner Stelle nicht kosten“, Onkel Beisswenger beugte sich zur ihr rüber. „Johanna konnte schon zu Lebzeiten nicht gut kochen.“


    Fay fragte sich, ob er sich zu ihr herübergebeugt hatte, damit er ihr besser in den Ausschnitt schauen konnte.


    „Beisswenger, das habe ich gehört.“ Lady Johanna wirkte beleidigt.
    Fay wusste nicht, was sie sagen sollte. Wo steckte eigentlich ihr Schöpfer? Wie konnte er sie so lange alleine mit diesen Irren lassen???


    Lady Johanna sah sie an: „Unser Didi holt das Essen.”
    Fay schluckte, irgendwie hatte sie es geahnt. Diese Nacht würde ihr sicher noch lange im Gedächtnis bleiben.


    Didi, der eigentlich Dieter hieß, hatte einen stattlichen Mann geschultert und ließ diesen unsanft auf dem Tisch plumpsen. Ihr quollen fast die Augen aus dem Kopf. Dort lag doch wirklich kein anderer als der Nikolaus.


    „War klar, Arter, dass du so einen alten, zähen Brocken abgreifst. Was hat der eigentlich an? Sieht irgendwie schwul aus. Wer trägt denn heute noch Rot?“ Opa Churchill schüttelte den Kopf. „Früher, da gab es noch was fürs Auge.“


    „Wobei wir wieder bei deinen Augen angelangt wären. Wundert mich, dass du den Braten überhaupt als Mann identifizieren konntest. Hätte ich dir gesagt, es ist ein Rentier, hättest du es wahrscheinlich gestreichelt.“


    „Nun werde mal nicht frech. Ein bisschen mehr Respekt hat dein Vater wohl verdient!“ Rienchen hatte sich aufgerichtet und mit ihren Gehstock auf den Tisch gehauen.


    „Lebt er noch?“, fragte Fay in die Runde, und rückte die Mütze des Nikolaus zurecht.
    „Klar, ein guter Jahrgang.“ Beisswenger schnupperte an seinem Hals. „Sehr alter Jahrgang.“
    Beisswenger wollte gerade kosten, da fielen ihm die Zähne aus dem Mund.
    Lady Johanna bekam einen Lachkrampf und auch Fay konnte sich nun nicht mehr zurückhalten und prustete los.


    „Sehr lustig“, stellte Beisswenger fest und schob das Gebiss zurück an seinen Platz. „Jedenfalls habe ich nicht so viele Pickel im Gesicht.“ Er zeigte auf Lady Johannas Kinn.
    „Das sind keine Pickel, das ist Rasurbrand.“ Lady Johanna wirkte jetzt wirklich peinlich berührt.


    Arter lief puterrot an, offensichtlich war er kurz vor dem Platzen. „Es reicht, können wir uns jetzt bitte alle wie eine große, freundliche Familie benehmen und essen? Ich habe Hunger.“


    Doch bevor irgendwer auch nur einen Zahn in den Nikolaus versenken konnte, stand Fay auf.


    „Ich stehe total auf Blutwurst. Können wir vielleicht auf dieses üppige Mahl verzichten?“


    Beisswenger konterte: „Und ich auf deine Nippel“.


    Didi wartete nicht lang und landete bei Beisswenger einen Kinnhaken. Das Gebiss schlidderte über den Boden, wo Kuschelhundchen es schwanzwedelnd schnappte und wie eine Beute forttrug.


    „Die gehört mir“, sagte er stolz. „Das hast du nun davon, nur weil du zu geizig für Implantate warst.“ Didi rieb sich die Hand.


    Und Beisswenger das Kinn und fragte anschließend lispelnd: „Kann man die Blutwurst zuzeln?“


    Lady Johanna nickte und schnitt die Kringel vom Baum. Fay weckte den Nikolaus, der mit ihnen bei Blutwurst und Traubensaft ein paar lustige Geschichten zum Besten gab.


    Fay war satt und müde. Als sie in ihrem Bett lag, war sie froh, dass sie nur moppelig war. Es hätte sie weitaus schlimmer treffen können.

  • 9. Dezember 2012 von JASS


    Crescendo der Weihnachtsplanung (gekürzte autorisierte Fassung)
    Ein vielstimmiges Weihnachtsstück, gespielt vom Familienensemble.

    „Und, wo feiern wir dieses Jahr Weihnachten?“
    „Ich geh mir ein Bier holen.“
    „Ist doch noch Zeit, das zu klären.“
    „Naja, noch so drei Wochen.“
    „Ja, dann kann man ja noch zwei warten.“
    „Ich muss mal. Entscheidet ja nicht ohne mich!“
    „Und wo soll ich feiern?“
    „Wo willst du denn?“
    „Als wär das so einfach, mit dem wollen.“
    „Könnte es sein.“
    „Dann ist wieder jemand beleidigt. Ich wechsel einfach ab.“
    „Das ist wie in der einen Mythe. Das Mädchen, das die Hälfte des Jahres in der Unterwelt und die andere Zuhause verbringt. Nur, dass es bei dir dreigeteilt ist: Ein Jahr Mutter, ein Jahr Vater, ein Jahr Partner.“
    „Jetzt soll es auch noch zu meiner Schwester gehen.“
    „Naja, selbst schuld, wenn dann alle rennen.“
    „Ach ne, das ist so weit weg. Dann bleib ich hier.“
    „Nie machen wir was bei meiner Familie.“
    „Zwingt dich doch keiner. Kannst bei denen feiern.“
    „Will noch jemand Wein?“
    „Und du?“
    „Ich feier bei meinen Eltern.“
    „Na, das ist ja auch blöd.“
    „Jedes Jahr das gleiche …“
    „Bei uns ist dieses Jahr Babyweihnachten, wir sind also nicht da.“
    „Ich mach das wieder bei mir, kann ja kommen, wer möchte.“
    „Welches Baby?“
    „Na, der Sohn da, der hat eines bekommen.“
    „Mir ist das echt zu blöd. Ich verzieh mich in die Küche.“
    „Ich hab gehört, bei euch ist Babyweihnachten?“
    „Wieso das?“
    „Na, hat der Opa erzählt.“
    „Das ist noch überhaupt nicht geklärt.“
    „Das erzählt er aber anders.“
    „Na toll, nur weil er rennt, wenn sein Sohn ruft.“
    „Also willst du nicht hin?“
    „Er kann ja gehen. Ich feier immer mit meiner Familie.“
    "Isst du das da noch auf?"
    „Ist mir viel zu anstrengend, mit dem hin und her fahren. Wer kommen will, mag kommen. Ich feiere auch mit Kindern und Großeltern allein.“
    „Na, toll, jeder denkt dabei auch nur an sich.“
    „Wenn am 25. eh bei der Oma ist, dann müssen wir uns am 24. ja nicht zerteilen.“
    „Das war die letzten Jahre jetzt auch kein Argument.“
    „Also 24. bei deinen Eltern?“
    „Ja, die kleine Schwester will bei sich feiern.“
    „Ähm … wohn die nicht in einer WG?“
    „Gibt auch nicht viel Platz da.“
    „Noch jemand Wein? Bier? Nen Schnaps?“
    „Dann können wir ja gleich in meiner Einraumwohnung feiern.“
    „Naja, die können ja die anderen Zimmer aufmachen.“
    „Klar, bei zwei Parteien mit eigenem Haus feiern wir lieber auf kleinstem Raum.“
    „Und wo ist die Tante?“
    „Die feiert dieses Jahr bei ihrem Freund.“
    „Das ist doch voll blöd.“
    „Noch jemand Kuchen?“
    „Sie hat doch immer mit uns gefeiert.“
    „Die teilen sich das eben, jedes Jahr woanders.“
    „Siehst du, die machen das.“
    „Ich will das halt nicht.“
    „Deine Familie ist doch eh total zerspalten.“
    „Und wo ist die andere Tante?“
    „Die arbeitet.“
    „An Weihnachten?“
    „Kann man sich nicht immer aussuchen.“
    „Gibt gut Geld.“
    „Dann muss sie hier wenigstens nicht mitdiskutieren.“
    „Und wir bleiben dann da, wo deine Eltern hingehen?“
    „Bisher hab ich das so gehandhabt.“
    „Willst du lieber zur anderen Seite fahren?“
    „Gib mal den Teller, wir räumen ab.“
    „Nene, passt schon.“
    „Aber die kennst du besser.“
    „Ne, passt.“
    „Wenn die Tante arbeitet, was macht dann die Cousine?“
    „Geht wohl zu ihrem Vater.“
    „Noch jemand Wein?“
    „Äh ... gibt's irgendwie auch Wasser ... oder so?“
    „Redet die noch mit dem?“
    „Weiß auch nicht.“
    „Das ist ja voll die Bestrafung.“
    „Seine Neue ist doch so … merkwürdig.“
    „Und er war eh schon immer so streng.“
    „Bei deiner Familie ist es tot langweilig.“
    „Red nicht immer so schlecht über meine Familie.“
    „Das sagst du doch selbst.“
    „Ja, aber das ist was anderes.“
    „Ich dachte, ihr hättet jetzt mal 'ne Lösung.“
    „Sagt mir einfach, wo ich am 24. sein soll.“
    „Boah, dann bleib ich halt einfach zu Hause und feier gar nicht.“
    „Na toll, das soll jetzt die Lösung sein.“
    „Kann dich voll verstehen. Voll.“
    „Ist doch eh nur total der Konsum. Immer noch größer und bunter und geiler die Geschenke.“
    „Ich bin jetzt schon froh, wenn die Feiertage vorbei sind.“
    „Was mach ich mir hier eigentlich die Mühe, wenn’s euch eh allen so egal ist.“
    „Ja, was soll ich denn sonst tun?“
    „Total konstruktiv von dir.“
    „Es gibt dann jetzt Abendbrot, ja?“
    „Noch jemand Wein?“

  • 10. Dezember 2012 von imandra777


    Lautloser Besucher

    Klare kalte Luft
    streicht über das Eis.
    Kleine Eiszapfen schillern
    im faden Wintersonnenschein.


    Schnee, wie weiße Watte,
    bedeckt die Landschaft,
    verschluckt den Lärm,
    breitet Schwingen der Stille aus.


    Lautlos tapst ein schwarzes Tier
    durch das unberührte Weiß.
    Verheißungsvolle Düfte locken es.
    Ein eleganter Sprung aufs Fensterbrett.


    Seine rosa Nase
    ans Fenster gedrückt
    wandert der Blick
    ins Innere des Hauses.


    Heiße Schwaden von
    Zimt, Kardamon und Nüssen
    drängen durch den schmalen
    Fensterspalt in die Kälte.


    Kinderhände strecken sich
    nach frischen Keksen,
    knuspern die süße Versuchung,
    verlassen den Raum.


    Das katzenartige Tier wartet,
    Glocken rufen die Menschen
    in der beginnenden Dämmerung
    zu Weihrauch und Gebet.


    Die Haustür knarzt,
    die Familie verlässt das Haus,
    Kinderlachen ertönt,
    Schneeballschlacht auf dem Weg.


    Stille – ein quietschendes
    Fenster öffnet den Weg
    in die heimelige Stube.
    Schwarze Pfoten schleichen hinein.


    Kleine scharfe Zähne
    schnappen die Kekse,
    genießen die Süße
    selbst letzte Krümel.


    Ein Sprung zurück auf
    das Fensterbrett – kein Blick
    zurück in die Stube.
    Zeit zum Putzen ist immer.


    Dunkle Fledermausschwingen
    entfalten sich; grüne Augen
    blitzen auf und die Flederkatz
    fliegt zurück in die Nacht.

  • 11. Dezember 2012 von Nicole


    Merry Christmas

    „… du kannst dich nicht auf ewig verkriechen, und ein bisschen Ablenkung tut dir gut!“, schallte mir Ninas Telefonstimme aus dem Hörer entgegen. „Du weißt doch: wenn man aus dem Sattel geplumpst ist, hilft nur eines –sofort wieder rauf aufs Pferd!“


    „Ich überleg’s mir“, murmelte ich ausweichend. Als Nina sich mit einem herzhaften Appell, mich jetzt bloß nicht hängen zu lassen, verabschiedete und auflegte, atmete ich auf.


    Ich starrte auf die Anzeige meines Anrufbeantworters. Acht Nachrichten, denen ich nur mit halbem Ohr zugehört hatte. Bine aus meiner Abteilung, die sich erkundigte, ob ich einigermaßen okay war. Claudia, die einen vorweihnachtlichen Stadtbummel vorschlug. Viermal Nina, die in jeder neuen Nachricht noch drängender geklungen hatte, bis ich mich schließlich aufraffte und zurückrief. Zweimal meine Mutter, die mir anbot, jetzt nun doch Heiligabend zu Besuch zu kommen statt wie früher immer am ersten Feiertag.


    Früher / Jetzt. Ein klarer, halbwegs sauberer Schnitt, der mein Leben zertrennt hatte.


    Ich hatte keine Ahnung, ob ich Lust auf einen Bummel mit Claudia hatte. Ob ich Heiligabend zu meinen Eltern wollte oder doch lieber mit Nina zu der Funky-Xmas-Party im neuen In-Schuppen der Stadt. Ich hatte wohl verlernt, zu wissen, was ich wirklich wollte, nachdem ich so lange Teil eines Wir gewesen war.


    Neben dem Anrufbeantworter lagen die fahrig aufgeschlitzten Kuverts der Weihnachtskarten, die ich vorhin aus dem Briefkasten gefischt und nur überflogen hatte. Gute Wünsche für das bevorstehende Fest, die manchmal fast schuldbewusst klangen, betont flapsige Kopf-hoch-Parolen, vage formulierte Einladungen für die Tage nach Weihnachten und ein Kinogutschein. Geöffnete Lupo-Umschläge, die Pralinen, selbstgebackene Plätzchen und in Weihnachtspapier eingepackte Tütchen mit Badesalz zu mir befördert hatten.


    Erstaunlich, wie schnell sich die Nachricht verbreitet hatte. Eine Trennung kurz vor Weihnachten war offenbar ungleich tragischer als zu jedem anderen Zeitpunkt im Jahr. Ausgenommen vielleicht kurz vorm Valentinstag. Der ultimative Alptraum: Weihnachten plötzlich wieder Single zu sein. Ausgerechnet am Fest der Liebe.


    Hätten wir in diesem Sinne Weihnachten überhaupt etwas zu feiern gehabt, Oliver und ich? An Heiligabend, an dem seine Mutter beharrlich Jahr für Jahr das traditionelle Kaninchen auf den Tisch brachte - mit einem Knödel extra für mich, wie sie mir immer mit einem wohlwollenden Nicken, aber einer gewissen Schärfe in der Stimme versicherte; sie wisse ja, dass ich Kaninchen nicht möge. Am ersten Feiertag bei meinen Eltern, wenn Oliver bei der ersten Tasse Kaffee nach dem Essen demonstrativ auf die Uhr zu schauen begann, weil er gedanklich schon aus den Variablen Zeit, Lichtverhältnisse, Wegstrecke und Wetterlage eine Risikokalkulation für die achtzig Kilometer Rückfahrt vornahm. Oder am zweiten Feiertag, unserem Tag, wie wir uns jedes Jahr aufs Neue versicherten, den wir aber zunehmend nebeneinander verbrachten und nicht wirklich miteinander. In denselben vier Wänden, aber Lichtjahre voneinander entfernt.


    Ziellos wanderte ich durch die Wohnung, die viel zu still war, nachdem meine geschrienen Anschuldigungen, seine gebrüllten Rechtfertigungen verklungen waren. Nachdem Oliver gegangen und mein wütendes, verletztes Weinen verstummt war. Als wollte ich nach unserer Liebe suchen, weil sie einfach nur hinter einen Schrank gerutscht oder mit der Nachlässigkeit des Alltags unter den Teppich gekehrt worden war.


    Natürlich würde ich sie nicht finden. Sie war fort, irgendwann einfach verschwunden, genau wie seit ein paar Tagen Olivers Kleider und seine Sachen im Bad, seine Platten, CDs und DVDs, seine Bücher. In Kartons verstaut und in Evas Wohnung inzwischen bestimmt wieder ausgepackt. Evi-Mausi. Die um einiges jünger war als ich und einiges dünner und sicher komplett cellulitefrei.


    Mein Blick blieb an der Ansammlung von prallvollen Papiertüten in der Ecke neben dem Fernseher hängen. Die Weihnachtsdeko, die ich an dem Tag aus dem Keller heraufgeholt hatte, an dem Oliver dann den Schlussstrich unter acht gemeinsame Jahre zog. Ende, aus, vorbei.


    Wie jedes Jahr hatte ich mir die Woche vor Heiligabend freigenommen, um die Wohnung zu schmücken, einzukaufen, die letzten Geschenke zu besorgen und zu verpacken. Die übliche Festtagsroutine, von der ich nicht mehr wusste, ob ich sie wirklich über die Zeit liebgewonnen hatte.


    Was fing ich denn jetzt an mit all den leeren, sinnlosen Tagen?


    Ich könnte ausmisten, alles wegpacken oder besser gleich wegwerfen, was mich an Oliver erinnerte. Ich könnte mir überlegen, die Wohnung neu zu streichen, in den Farben, die mir gefielen, und online nach neuen Möbeln stöbern. Darüber nachdenken, ob ich mir den Wunsch nach einer Katze erfüllen wollte oder gleich den Wohnungsmarkt nach etwas Kleinerem durchsehen, vielleicht zentraler gelegen. Mich mit Glühwein oder einer Flasche Champagner betrinken. Ich könnte stundenlang ungestört in der Badewanne liegen, bis meine Finger und Zehen verschrumpelt waren und danach Sissi oder Drei Haselnüsse für Aschenbrödel anschauen, ohne mir sarkastische Kommentare dazu anhören zu müssen. Ich könnte mich aufbrezeln und mit Nina um die Häuser ziehen oder den Kinogutschein einlösen. Ich könnte wegfliegen, in die Sonne, last minute. Ich könnte Weihnachten auch einfach im Bett verbringen, mit einem Stapel Alles-wird-gut-Romane oder blutiger Thriller, danach wäre mir gerade. Mir etwas Ausgefallenes kochen oder nur von Miracoli leben, über die Oliver immer die Nase gerümpft hatte und dazu Last Christmas auf Dauerschleife hören, bis sogar ich genug davon hatte. Ich könnte mir ausmalen, wie ich Silvester verbringen würde. Den restlichen Winter. Das kommende Jahr. Das Jahr nach Oliver.


    Ich ließ mich auf die Couch fallen und starrte zum Fenster hinaus. Über die Mauern und Dächer kroch schmutziggraue Dämmerung, und was vom Himmel herabfiel, war mehr Regen als Schnee; als wären die Wolken unschlüssig, ob dieser Tag schon weißglitzernden Winter-Weihnachtszauber verdiente oder nicht einfach trübseliges Matschwetter genügte. Umso heimeliger wirkte der Schein der Lichterketten an den Balkonen und in den Bäumen der Vorgärten, und die erleuchteten und festlich geschmückten Fenster verhießen kuscheliges Beisammensein und romantische Zweisamkeit.


    An einem sonst dunklen Fenster gegenüber glühte ein blaues M auf. Ein rotes E folgte, dann ein grünes und ein gelbes R. Bis in schrillen Regenbogenfarben der komplette Schriftzug MERRY CHRISTMAS leuchtete und zu blinken begann, wie ein Clown, der Faxen macht und einem dabei zuzwinkert. Kitschig. Albern. Aber auch von einer ansteckenden Fröhlichkeit, und ich musste lächeln.


    „Merry Christmas“, flüsterte ich zurück.

    Mein Weihnachten. Meines.

    Nur für mich allein.

  • 12. Dezember 2012 von Dieter Neumann


    Ein Kind


    In diesem Jahr ist es anders.
    Vor allem, wenn sie singt.
    Der Chor gibt wieder sein Weihnachtskonzert in der alten Stadtkirche.
    Schon bei den Proben wird ihr klar, dass etwas nicht stimmt. Beim Orgelvorspiel, spätestens aber wenn sie mit dem Chor einsetzt, hört sie bang in sich hinein.
    Damals, als die kindliche Frömmigkeit aufgebraucht war, ist es ihr noch peinlich gewesen, weiter in der Kirche zu singen. Verstohlen hat sie sich dafür geschämt, dass die großartige Musik, entstanden aus einem Glauben, den sie nicht mehr teilt, sie so berührt.
    Als wäre nichts geschehen.
    Murat, ihr Arbeitskollege im Krankenhaus, hat sie ausgelacht. Seine Familie, gläubige Muslime, freut sich jedes Jahr auf das deutsche Weihnachtsfest. Begeistert schmücken Jung und Alt den Tannenbaum, feiern ein fröhliches Fest mit Gänsebraten und scheren sich nicht um einen Stall in Palästina.
    Schließlich hat sie sich ergeben und lässt es nun einfach zu.
    Ungläubiges Staunen.
    Ihr Weihnachten. Immer noch besondere Zeit im Jahreslauf. Zeit der Einkehr, der Wärme, der Nähe. Nachdenkliche Zeit.
    In diesem Jahr aber gelingt es selbst den vertrauten Klängen nicht, weihnachtliches Wohlgefühl in ihr auszulösen. Die Töne fliegen trostlos über kahles Brachland und verklingen wie im Nebel. Von Probe zu Probe sehnt sie sich mehr danach, dass die Leere sich füllt.
    Es will einfach nicht klappen
    „Hast du noch einen Augenblick Zeit?“, fragt sie der Kantor nach der Probe, als sie sich gerade den Schal umbindet. Sie setzen sich in die hinterste Kirchenbank.
    „Sei mir nicht böse“, sagt er, „aber ich weiß, dass du besser singen kannst.“
    „Singe ich denn falsch?“, fragt sie entsetzt.
    „Nein, nein, du machst es gut, aber da fehlt etwas …“
    „Was meinst du denn?“ Sie weiß genau, was er meint.
    „Es fehlt … der Glanz in deiner Stimme.“
    Ob sie Sorgen habe, ob er ihr helfen könne, fragt er.
    „Nein“, sagt sie, „es geht mir gut.“
    In der Nacht vor dem Konzert liegt sie lange wach. Die Generalprobe ist gut gelaufen, der Kantor zufrieden, wäre da nicht dieser eine kurze, fast traurige Blick, den er ihr zugeworfen hat, als der Sopran gerade in einer hohen Passage besonders gefordert war.


    Noch eine Stunde bis zum Konzert.
    In ihren wärmenden Mantel gepackt läuft sie durch den dichten Schneefall. Das Auto hört sie erst, als sie die Straße schon halb überquert hat.
    Da ist es zu spät.
    Als die Scheinwerfer sie erfassen, bremst der Fahrer und reißt das Lenkrad herum. Wenige Zentimeter schießt der Kühler an ihr vorbei, die Räder knallen mit einem trockenen Geräusch gegen den Bürgersteig, und kurz darauf kracht der Wagen gegen die massive Mauer der alten Fabrik.
    Dann Stille.
    Wie angewurzelt steht sie mitten auf der Straße. Der Schnee fällt in dicken Flocken. Sie sieht, dass er das Auto rasch mit einem weißen Tuch bedeckt.
    Plötzlich Schreie, ganz besondere, die sie gut kennt.
    Die aber hier nicht hergehören.
    Sie reißt sich aus ihrer Erstarrung und läuft hinüber. Mit dem Ärmel ihres Mantels wischt sie die Seitenscheiben frei. Das Licht einer Straßenlaterne erleuchtet das Wageninnere. Ein Mann hängt hinter dem erschlafften Airbag über dem Steuer. Blut ist nicht zu sehen, und seine Schultern heben und senken sich rhythmisch im Takt der flachen Atmung. Auf dem Rücksitz liegt eine Frau. Sie hält die Hände auf ihren Leib gepresst und starrt mit bleichem, schmerzverzerrtem Gesicht zum Fenster. Ihr Mund öffnet sich zu einem neuen Schrei.
    Aus den umliegenden Häusern kommen Menschen gelaufen. Einige
    reden aufgeregt in ihre Handys hinein. Ein junger Mann tritt an sie heran: „Ich habe die Feuerwehr dran“, sagt er ruhig. „Was ist denn …“
    „Sagen Sie denen, wir brauchen einen Notarzt für den Fahrer! Er atmet,
    ist aber bewusstlos.“ Sie zerrt am hinteren Türgriff. „Und dann sagen Sie,
    dass hier gerade ein Kind geboren wird.“
    Er wirft ihr einen verschreckten Blick zu, schluckt kurz und wiederholt
    alles in sein Handy. „Notarzt kommt in zehn Minuten … spätestens in einer Viertelstunde – das Wetter …“
    Aus dem Wagen dringt ein neuer Schmerzensschrei. Der junge Mann schiebt ihre Hand beiseite, umfasst den Griff mit beiden Händen, und mit einem blechernen Knall springt die Tür auf. Sofort kriecht sie hinein und hockt sich neben die Frau auf den Sitz.


    Genau in dem Moment, als die beiden Rettungswagen eintreffen, tut das Kind seinen ersten Schrei. Nach wenigen Minuten ist der Vater erstversorgt und auf dem Weg ins Krankenhaus.
    Mutter und Kind liegen im zweiten Wagen. Im dichten Schneetreiben steht sie daneben, eingehüllt in eine Wolldecke, die ihr ein Polizist umgelegt hat. Kurz geht die Tür des Rettungswagens auf, der Notarzt blickt sie an, zwinkert ihr zu und hebt seinen Daumen. Dann schließt sich die Tür wieder, der Fahrer schaltet das Martinshorn ein und der Wagen fährt davon. Versonnen blickt sie hinterher, bis das zuckende Blaulicht im Schneetreiben verschwindet.
    Der Polizeiwagen bringt sie nach Hause und wartet vor ihrer Haustür. Schnell wäscht sie sich, zieht eine frische Bluse an und wechselt den Mantel.
    Als sie durch die Sakristei in die Kirche tritt, hat der Chor bereits Aufstellung genommen. Gerade schiebt sie sich durch die Tenöre nach vorn, da füllen schon die ersten Töne der Orgel das hohe Gewölbe.
    Der Chor setzt ein, nach einer Minute kommt das Sopransolo. Sie fängt einen Blick des Kantors auf.
    Sofort weiß sie, was ihr dieser Blick sagen will.
    Und lächelt.

  • 13. Dezember 2012 von Groupie


    Die Weihnachtsplanerin oder wie ich ein Weihnachts-Groupie wurde

    Ich wette, ihr kennt Ebenezer Scrooge. So war ich früher auch. Ein echtes Weihnachts-Ekel. Natürlich nicht immer. Als Kind habe ich mich jedes Jahr sehr auf die Feiertage gefreut. Ich habe mit meiner Mutter Plätzchen gebacken und dazu „In der Weihnachtsbäckerei“ gehört, ich habe Wunschlisten geschrieben und den Baum geschmückt. An Heiligabend kam immer die ganze Familie zusammen und mein Vater hat mit mir mitten in der Nacht noch „Ist das Leben nicht schön?“ geguckt. Das alles habe ich geliebt. Doch irgendwann war es vorbei. Drei Umzüge, keine Familie mehr und ich war ziemlich einsam. Ich fing an, alles an Weihnachten zu hassen: die gestressten Menschen, die Weihnachtsbeleuchtung, die Süßigkeiten und vor allem die scheinbar glücklichen Familien zum Fest. Ab Mitte November war ich zickig, unfreundlich und ein Mensch, den niemand gern in seiner Nähe hatte. Wieso denn auch? Ich konnte mich ja nicht mal mehr selber leiden. Das ging viele Jahre lang so. Doch dann passierte etwas Seltsames. Mein Weihnachtswunder sozusagen. Ich war an Heiligabend arbeiten und fuhr spät nach Hause. Es war eiskalt und die Straßen waren glatt. Mein Auto geriet ins Schleudern und ich prallte bei Tempo 80 gegen einen Baum. Totalschaden!


    Wenn ihr jetzt mit einer Geschichte rechnet, bei der mir nahtodmäßig die Dickens-Geister erschienen sind oder ihr Clarence, den Engel, erwartet, dann muss ich euch enttäuschen. Ich brach mir glücklicherweise nur ein paar Knochen und lag über Weihnachten im Krankenhaus. Auf dem ganzen Flur war ich die Einzige, die nie Besuch bekam. Dieses Weihnachtsfest war noch deprimierender als normalerweise. Ich ging mir so sehr selber auf die Nerven, dass ich irgendwann feststellen musste, dass es nur zwei Möglichkeiten gab: entweder ich würde so weitermachen und mich irgendwann selber hassen oder ich würde einen anderen Weg einschlagen.


    Was soll ich sagen?! Es ist wieder Mitte Dezember und ich freue mich auf Weihnachten. Ja, wirklich. Ich habe es sogar gewissermaßen zu meinem Job gemacht. Nein, ich bin nicht der Weihnachtsmann. Allerdings greife ich ihm ein bisschen unter die Arme. Ich bin Weihnachtsplanerin. Irgendwann habe ich erkannt, dass ich nicht der einzige Mensch auf dieser Erde war, der sich zu Weihnachten allein fühlte. Oder gestresst. Oder überlastet. Ich habe mich darauf spezialisiert, anderen ein frohes Fest zu bescheren. Auf Wunsch kaufe ich Geschenke oder liefere einfach nur die Tipps dazu. Mittlerweile bin ich selbst beim Verpacken ein Ass. Ich übernehme aber auch alle anderen Aufgaben. Manchmal gehe ich sogar in den Wald und schlage Weihnachtsbäume. Außerdem gibt es eine Menge einsame Menschen, die sich an mich wenden. Ich sorge dafür, dass sie über die Festtage eine Ersatzfamilie finden, mit der sie feiern können. Oder ich bringe sie einfach nur zusammen. Auf diese Weise sind schon viele (Weihnachts-)Freundschaften entstanden. Wer nach wie vor nichts für diese Feiertage übrig hat, dem suche ich auch die perfekte Party oder ein Traum-Ausflugsziel. Euer Wunsch ist mir Befehl.


    Ich habe gemerkt, dass es mich am glücklichsten macht, wenn ich möglichst vielen Menschen ein schönes, besinnliches Fest bescheren kann. Das macht auch mein Weihnachten perfekt. Ich muss übrigens ebenfalls nicht mehr alleine feiern, denn ich habe jemanden kennengelernt. Jetzt verbringe ich die Feiertage mit ihm und seiner Familie. Ich liebe Weihnachten. Habe ich das schon erwähnt? Vielleicht noch mehr als früher.


    Solltet ihr mal meine Hilfe brauchen, dann meldet euch. Besucht meinen Blog (www.weihnachtsplanerin.wordpress.com) oder schreibt mir direkt eine Mail an weihnachtsplanerin@gmail.com. Selbst bei Twitter könnt ihr mich finden (X_MAS_GROUPIE). Ich würde mich freuen, wenn ich auch für euch das Weihnachtsfest ein bisschen schöner machen könnte.

  • 14. Dezember 2012 von Voltaire


    Bei den Klippen


    Der Heilige Abend ist ein besonderer Tag. Das habe ich gerade gestern wieder erfahren, als man mir diese Geschichte erzählte. Der Heilige Abend scheint der Tag des Jahres zu sein, an dem alles ein wenig intensiver ist – an dem man den Mitmenschen ein wenig mehr und ein wenig anders zur Kenntnis nimmt.


    Hier nun die Geschichte. Ich habe versucht es so aufzuschreiben wie sie mir erzählt wurde. Übrigens, die Geschichte soll sich wirklich so zugetragen haben.


    *********


    In zwei Tagen ist es wieder soweit. Dann haben wir ihn wieder, den 24. Dezember. Der Tag an dem alles endete, der Tag an dem alles begann.


    Ich sitze hier auf der Terrasse, eingehüllt in Decken und genieße die ungewohnt milde Luft dieses sonnigen Wintertages. Immer wieder schließe ich meine Augen und überlasse mich ganz meinen Gedanken und meinen Erinnerungen.


    Seit zwei Jahren befinde ich mich in meinem neunten Lebensjahrzehnt und ich merke, wie die Kraft von Tag zu Tag schwindet. Jeder Schritt ist mühsam, viele Dinge haben ihren Reiz verloren und immer mehr schweifen die Gedanken ab, zurück in die Vergangenheit. Die Vergangenheit wird zur gedachten Gegenwart.
    Es gibt kaum noch etwas auf das ich wirklich neugierig bin.


    Es interessiert mich nur am Rande, ob Schwester Marion endlich den Mut findet ihren Mann zu verlassen. Es ist nicht wichtig für mich. Es hat mit meinem Leben bzw. mit dem Rest der noch gelebt werden muss, nichts mehr zu tun. Egal jetzt, das Schwester Marion ein sehr lieber Mensch ist und alles Glück dieser Welt verdient hat.


    Aber in zwei Tagen, am 24. Dezember, da werde ich noch einmal meine letzten Kräfte mobilisieren und so wie jedes Jahr an diesem Tag die Klippen an der Küste aufsuchen. Ich habe so eine Ahnung, dass es das letzte Mal sein wird, das ich dort sein werde. Der Ort, der jedes Jahr aufs Neue ein einziges Versprechen gewesen ist. Ein letztes Mal die Magie dieses Ortes spüren.


    55 Jahre sind nun zwischenzeitlich vergangen.


    Vielleicht sollte ich aber der Reihe nach erzählen, sollte versuchen meine Gedanken zu ordnen. Ich muss diese Geschichte endlich einmal erzählen. Und wenn auch nur ein Mensch zuhört, so ist es nicht umsonst gewesen. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass die Geschichte wahr ist. Ohne Wenn und Aber.


    Es begann schon etwa ein Jahr vor dem 24. Dezember 1951. Wir waren noch geprägt von Krieg, Tod und Zerstörung, aber so ganz langsam gelang es uns, das Leben anzunehmen, seine schönen Seiten wieder zu genießen.


    1950 lernte ich dich kennen. Es war dieses Dorffest in dem kleinen Ort an der Küste. Ich war viel zu schüchtern dazu um dich zum Tanzen aufzufordern, obwohl du mich dein Lächeln eigentlich hätte ermutigen müssen.
    Und dann warst du wohl der Meinung, du müsstest endlich die Initiative ergreifen, zu damaliger Zeit eine Riesensache.


    Du fragtest mich, ob du so hässlich seiest, dass es mir zuwider sein mit dir zu tanzen. Ich stammelte irgendwas völlig Blödsinniges und trotzdem schenktest du mir weiterhin dein Lächeln. Du nahmst meine Hand und seit diesem Zeitpunkt hast du sie nicht mehr losgelassen.


    Die Bedeutung des Satzes „sie waren füreinander bestimmt“ wurde mir erst an diesem Tage so richtig klar.

    Verblüfft stellten wir fest, dass wir aus der gleichen Stadt stammten. Wer wolle da wohl nach an den Fügungen des Schicksals zweifeln?


    Wir sahen uns täglich. Natürlich wohnten wir nicht zusammen, du wohntest noch bei deinen Eltern und zu mir in meine winzige Wohnung konntest du ja schlecht ziehen – wir wollten erst ein Jahr nach unserer ersten Begegnung heiraten.


    Aber nicht immer kümmerten wir uns um Sitte und Konventionen. Als wird das erste Mal miteinander schliefen, unsicher, ohne Erfahrung, da merkten wir beide sehr schnell, dass nichts würde uns wirklich trennen können. Ich spüre noch heute deinen Körper und deine Finger auf meiner Haut.


    Kurz bevor wird dann heiraten wollten, hatten wir geplant das einjährige Bestehen unserer Liebe in eben diesem Dorf an der Küste zu begehen. In dem einzigen Dorfgasthaus mieteten wir ein Doppelzimmer und gaben uns als verheiratet aus. Die Wirtin zwinkerte uns zu als wir beteuerten, wir hätten unsere Ausweise vergessen.


    Wir waren gerade drei Tage dort, als es passierte. Es war der 24. Dezember 1951. Heilig Abend. Ein nahezu perfekter Wintertag.


    Wir gingen auf dem Wanderweg zu den Klippen. Dort hatten wir eine verborgene Stelle entdeckt, die seit dem nur „unseren Platz“ nannten. Du sagtest, dass wenn uns irgendetwas trennen sollte, dann würden wir uns hier wieder treffen.


    Arm in Arm gingen wir zurück, schlenderten glücklich die Dorfstraße entlang.


    Und dann geschah es.


    Das Motorrad raste ungebremst auf dich zu, kam auf der glatten Straße ins Schlingern und erfasste dich. Du wurdest durch die Luft geschleudert. Still lagst du auf der Straße.


    Ein dünner Blutfaden sickerte aus deinem Mundwinkel. Totenbleich lagst du vor mir, deine Augen waren geschlossen.


    Aus den Häusern stürzten die Menschen auf die Straße. Jemand sagte, er hätte einen Arzt verständigt.
    Einen Rettungsdienst wie wir ihn heute kennen, gab es damals nicht.


    Nach einer endlosen Viertelstunde trafen Arzt und Polizei gemeinsam ein. Ich hockte neben dir und hielt deine Hand, immer wieder flehte ich dich leise an, mich nicht allein zu lassen. Ab und zu schlugst du deine Augen auf und dein Lächeln war so schön wie immer.

    Das Sprechen fiel dir sehr schwer, aber ich höre noch genau deine Worte:
    „Denk an unsere Abmachung. Wenn wir getrennt werden, dann treffen wir uns an unserem Platz. Mach dir keine Sorgen über den Zeitpunkt, du wirst wissen wann er gekommen ist.“
    Mein Blick verschleierte sich, denn ich wusste, dass für dich keine Rettung mehr geben würde.


    Unmerklich schüttelte der nun eingetroffene Arzt den Kopf, als er dich kurz untersucht hatte.
    Ich nahm dich in den Arm und küsste deine Stirn, küsste dich auf den Mund und hielt dabei deine Hand.


    Ein kaum hörbares „Ich liebe dich“, dein letzter Atemzug. Es war vorbei.


    Vorsichtig legte man dich auf eine Trage, die die Polizisten vorsorglich mitgebracht hatten.


    Und nun merkte ich, wie mich eine grenzenlose Wut packte.


    Der Motorradfahrer saß am Straßenrand und schüttelte nur den Kopf. Ihm, der gerade einen Menschen totgefahren hatte, war nichts passiert. Ich würde ihn jetzt umbringen. Das Leben hatte für mich jeden Sinn verloren. Ich glaube nicht, dass mich jemand hätte stoppen können.


    Steifbeinig erhob ich mich, ballte die Fäuste – als ich das Gefühl hatte, es würde sich eine Hand auf meinen Arm legen um mich so zurückzuhalten. So hattest du immer beruhigend auf mich eingewirkt, wenn irgendetwas mich zornig machte. Und ich meinte auch den Stimme zu hören, ein leiser Hauch, aber ich verstand die Worte „Lass es, ihm ist verziehen“ genau.


    Meine Wut verflog so schnell wie sie gekommen war. Was blieb war tiefe Trauer.


    An die nächsten Wochen und Monate kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich lebte nicht mehr, ich vegetierte.


    Mein Leben lebte ich nur mehr automatisch. Jeglicher innerer Antrieb war mir genommen. Meine Arbeit verrichtete ich wie ein Schlafwandler. Kaum einmal drang etwas zu mir durch.


    So verging fast ein Jahr.


    Als ich dann am 22. Dezember 1952 auf den Kalender schaute, traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag. Am 24. Dezember würde ich auf „unserem Platz“ sein. Würde mich dort einfinden. denn ich wusste, dass mich dort etwas erwarten würde.


    Ich fieberte. Ich sprach mit mir selbst, aber alles das war mir egal. Es gab nur noch einen Fixpunkt für mich: Unser Platz am 24. Dezember.


    Ich lieh mir ein altes Auto und machte mich am 23. auf den Weg. Übernachten wollte ich im Auto.


    Am 24. wachte ich mit einem steifen Hals schon sehr früh auf. Der Kaffee in der Thermoskanne war noch lauwarm und auch die Brote konnte man noch essen. Die Nacht im Auto war kalt, trotz des Schlafsackes.


    Ich machte mich auf den Weg zu den Klippen.


    Unseren Platz fand ich so vor, wie wir ihn verlassen hatten. Es hatte nicht den Anschein, als wären dort im Verlaufe dieses Jahres andere Menschen gewesen.


    Es war kurz vor sieben.
    Ich setzte mich.


    Von weitem hörte ich die Kirchturmuhr siebenmal schlagen.


    „Ich wusste dass du kommen würdest. Ich habe dir doch gesagt, dass du wissen wirst wann es soweit ist.“


    Ich sprang auf, zweifelte an meinem Verstand.
    Deine langen blonden Haare waren zerzaust vom Wind und du trugst das Kleid, welches dir so unglaublich gut stand.


    „Was ist mit dir? Hast du jemand anderen erwartet?“


    Ich war nicht in der Lage zu sprechen. Kein Wort brachte ich heraus. Du nahmst mich bei der Hand, zogst mich an dich.


    Nach einer langen Weile, setzen wir uns und du sagest:


    „Es gibt nichts auf dieser Welt was unsere Liebe zerstören kann. Nichts. Auch wenn ich scheinbar von dir gegangen bin, so bin ich doch bei dir. Jeden 24. Dezember bekommen wir Zeit nur für uns. In den Monaten dazwischen werde ich dann auf eine andere Art und Weise bei dir sein.“


    Ja, und so war es auch.


    Der 24. Dezember war unser Tag - an unserem Platz.


    Im Laufe der Zeit alterte ich natürlich, du nicht. Es schien dich auch nicht zu stören dass ich alterte. Du fragest, ob man nur lieben könne wenn man jung sei und ob im Alter die Liebe wieder abgegeben werden müsse. So wie ich dich lieben würde, so würdest du auch mich lieben.


    Und so zogen die Jahre ins Land und immer trafen wir uns am Heiligen Abend. Um Punkt 20 Uhr aber, mit dem ersten Schlag der Kirchturmuhr, warst du verschwunden.


    Ich lebte während all dieser Jahre allein. Ich arbeitete, alles verlief in geregelten Bahnen. Mein Leben verlief unaufgeregt.


    So, das wollte ich nur kurz erzählen. Aber in zwei Tagen treffe ich sie wieder.



    Die Sachen für meinen Ausflug zu den Klippen waren gepackt. Für sehr viel Geld hatte ich mich ein Taxi aus der Altenwohnanlage an die Küste gebracht. Ich wohnte in dem Gasthof, der sich im Laufe der Jahrzehnte kaum verändert hatte. Die Wirtsleute hatten gewechselt, aber sonst war alles so wie vor über 50 Jahren.


    Mir war klar, dass ich den Weg zu den Klippen ohne Begleitung und ohne Hilfe würde schaffen müssen.


    Ich stellte mir den Wecker auf halb fünf. Bis 7 Uhr würde ich es dann wohl schaffen, mit ganz vielen Pausen natürlich.


    Um 5 Uhr am nächsten Tag ging ich los. Schwer stützte ich mich auf meinen Stock. Aber je weiter ich ging, umso leichter fiel mir das Gehen. Als ich mein Ziel fast erreicht hatte, hätte ich auch ohne Stock weitergehen können.


    Ich setzte mit auf unseren Platz.
    Pünktlich mit dem ersten Glockenschlag erschienst du. Dein Lächeln war heute anders als in den Jahren zuvor.


    Wir saßen wieder eng beieinander, aber irgendwie wirkte alles verändert.
    Du sprachst von der Liebe die niemand zerstören könne. Nur für jede Liebe gäbe es Prüfungen, und jede dieser Prüfungen würde anders aussehen.
    Ich sagte dir dann, dass ich wohl im nächsten Jahr nicht zu unserem Treffen würde kommen können, ich würde das nahende Ende bereits ahnen. Dein Lächeln war mehr als rätselhaft.
    „Warten wir es ab.“ Mehr sagtest du nicht.


    Um einige Minuten vor 20 Uhr begann ich wie üblich mit unserem Abschiedsritual. Nur schienst du dieses Mal nicht so richtig bei der Sache zu sein.


    Und dann war es soweit. Oder es war eben nicht soweit.


    Die Kirchturmuhr schlug acht Mal. Und wer nicht verschwand warst du.


    Dein Lächeln war ein wenig geheimnisvoll als du meinen Arm nahmst. Lachend zogst du mich hinter dir her. Ich lief als sei ich gerade 30 Jahre alt geworden. Völlig verwirrt schaute ich dich an.


    Du zogst mich hinter dich her, in Richtung Dorfgasthaus.
    Die Straßen des Dorfes waren menschenleer. Kein Mensch ließ sich blicken.


    Wir betraten das Gasthaus und du liefst die Treppe hinauf. Vor meiner Zimmertür bliebst du kurz stehen und sagte:


    „Bist du bereit für einen letzten großen Schritt?“


    Ich nickte. Du nahmst meine Hand, so wie du sie immer genommen hattest, wenn ich dich gebraucht hatte.


    Du öffnetest die Zimmertür, wir betraten das Zimmer.


    Auf dem Bett lag ein alter Mann, die Augen geschlossen, sein Lächeln schien so, als wäre ihm gerade das größte Glück widerfahren.
    Und dann erkannte ich es – auf dem Bett lag niemand anders als ich selbst.
    Nur ich bewegte mich nicht mehr.


    „Ab jetzt sind wir für alle Zeiten vereint. Dein Körper hat genug getan. Gönnen wir ihm die Ruhe die er verdient hat.“


    Hand in Hand verließen wir das Zimmer, begleitet von unserer Liebe. Einer Liebe die nur uns allein gehörte. Ein Liebe die scheinbar am Heiligen Abend endete – die nun aber an diesem ganz besonderen Tag einfach nur alles überstrahlte.


    Egal wer was sagt – dieser Tag ist wahrhaftig etwas Besonderes.

  • 15. Dezember 2012 von Idgie


    Weihnachten im Jahr 2112


    Leise Musik dudelt aus unsichtbaren Lautsprechern und die Klimaanlage verströmt passend zur Jahreszeit einen Duft, der an Tannenzweige erinnern soll. In der Zimmerecke dreht sich freihängend in der Luft langsam das Hologramm eines Adventsgestecks. Rechtzeitig zu Heiligabend wird sich das Bild in einen geschmückten Weihnachtsbaum ändern.
    Lydia muss für die kommenden Weihnachtstage nur noch die Einkaufsliste kontrollieren und ergänzen. Für die normale Aufstockung der Lebensmittelvorräte ist der Kühlschrank zuständig, der automatisiert die Verbrauchsmengen erfasst und via Internet selbständig nachbestellt, was knapp wird. Dummerweise funktioniert das Programmupdate für die Sonderbestellung „Festtage“ noch nicht und Lydia muss daher ihre Menüdatenbank durchforsten, um die entsprechenden Gerichte auszuwählen. Die Küchentechnik wird später dafür sorgen, dass alles termingerecht fertig ist, ohne dass Lydia sich dafür in die Küche begeben müsste.


    Weihnachten ist im Jahr 2112 kein Fest mehr, das die Menschen auch nur annähernd in Unruhe oder Hektik verfallen ließe. Alles ist perfekt durchorganisiert, nichts wird dem Zufall überlassen, nicht mal die Geschenke. Jeder digitale Fußabdruck, den die Menschen im Internet hinterlassen, wird erfasst, aufbereitet und gespeichert. Jede besuchte Seite wird vom Geschenkemodul Happy x-mas present ausgewertet. Die neueste Programmversion registriert sogar feinste Änderungen der Pupillengröße und der Gesichtsmimik und speichert die Informationen ganzjährig als wichtige Indizien für passende Geschenkideen. Rechtzeitig vor Weihnachten erhält man eine Liste mit Namen und den dazu in Frage kommenden Geschenken. Daraus muss man nur noch auswählen, ein paar Optionen anklicken und schon ist man fertig. Das hat Lydia schon letzte Woche erledigt und dabei geflissentlich ignoriert, dass die Empfehlungen für Onkel Gus auch ein paar Pornos enthielten. Offenbar hat der Gute ein paar Mal zu begehrlich in die Webcam geblinzelt.


    Man muss Weihnachten auch nicht mehr auf verstopften Straßen oder Flughäfen verbringen, um Verwandte und Freunde zu besuchen. Ein Fingertip zaubert alle gewünschten Gäste holographisch an die Weihnachtstafel und lässt sie praktischerweise genauso schnell wieder verschwinden, falls die Unterhaltung unharmonisch wird. Entfernungen spielen keine Rolle mehr und die Umwelt wird auch nicht belastet. Die hektische Adventszeit mit der Hast nach Geschenken und den vielen Vorbereitungen auf das Fest, über die frühere Generationen immer gestöhnt haben, ist heute einer fast sterilen Ruhe gewichen.


    Lydia könnte also ganz entspannt auf ihrem Sofa liegen und die Zeit genießen. Aus irgendeinem Grund klappt das nicht. Ohne, dass Lydia genau wüsste, woran es liegt, fühlt sie sich nicht gut. Sie ist in einer ganz merkwürdigen melancholischen Stimmung. Ob das daran liegt, dass sie in den letzten Tagen sehr häufig an ihre vor langer Zeit verstorbene Großmutter denken musste, die ihr als Kind immer so viele Geschichten von früher erzählt hatte? Da war Weihnachten und die Adventszeit nicht so ruhig und beinahe unbemerkt an den Menschen vorbei gegangen, sondern die Häuser waren erfüllt von Plätzchenduft und dem Geruch frisch geschnittener Tannenzweige. Obwohl ihre Großmutter damals zur Generation der digital natives gehörte und die Welt schon großteils durch das Internet und social media bestimmt wurde, hatte sich doch noch viel von den alten Traditionen früherer Generationen erhalten. Und ihre Großmutter war eine begeisterte Geschichtenerzählerin, die ihr immer so lebendig von den Vorbereitungen, den Weihnachtsmarktbesuchen mit ihren Eltern und der Spannung auf die Bescherung erzählt hat, dass es sich für Lydia so anfühlte, als wäre sie dabei gewesen.


    Nichts von dem hat Lydia jemals selbst erlebt, nur ihre Mutter kannte das in ihrer Kindheit noch. Lydia seufzt und am liebsten würde sie jetzt eine von Großmutters Kerzen anzünden, um der sterilen Atmosphäre ihrer Wohnzelle zu entkommen. Leider sind auch die Kerzen nicht mehr real. Die sind wegen der Brandgefahr schon lange verboten.

  • 16. Dezember 2012 von Johanna


    Zeit zu Weihnachten


    Die Vorweihnachtszeit war hektisch wie eh und je.
    Vorne und hinten fehlte die Zeit.
    Die Arbeit wurde nicht weniger, die Verpflichtungen häuften sich.


    Dieses Jahr war es besonders stressig, die Arbeit von Anika nahm Überhand, viele Kollegen waren entweder krank oder hatten Urlaub.
    Auch bei ihrem Mann Julian sah es nicht besser aus, da er von einem Geschäftstermin zum nächsten mußte.


    Bisher hatten sie noch keinen Gedanken an Weihnachten aufbringen können.
    Anika war schon froh, es dieses Jahr in den letzten Novembernächten überhaupt geschafft zu haben, den obligatorischen Adventskalender für Jule und Jonas fertig zu bekommen.


    Die beiden freuten sich auf Weihnachten und füllten ihre Wunschzettel täglich aufs Neue mit den neuesten und schönsten Wünschen.
    Sie redeten schon fast von nichts anderem mehr und stritten sich, wer wohl mehr und die schöneren Geschenke bekommen würde.


    Am Samstag vor dem 3. Advent sollte Anika nun auch noch für einen Kollegen einspringen und zusätzlich arbeiten.
    Langsam begann sie zu verzweifeln, wie sie das alles noch schaffen solle bis Heiligabend.
    Dazu kam noch, daß Julian sich bis Samstagabend auf einer Geschäftsreise befand, erst spät nachts nach Hause käme.


    Als sie dann im Treppenhaus ihre Nachbarin, eine ältere Dame die erst kürzlich hinzugezogen war, traf, frage diese sie: Sie sehen aber ziemlich mitgenommen aus, kann ich Ihnen helfen?“


    „Ach, ich muß morgen arbeiten, mein Mann ist noch unterwegs und ich habe bislang noch keine Möglichkeit gefunden, Jule und Jonas unterzubringen“


    „Wenn Sie mögen, dann schicken Sie die beiden doch zu mir.
    Ich möchte morgen sowieso Plätzchen backen und freue mich immer über tatkräftige Hilfe von Kindern“
    „Wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht? Die beiden können ziemlich anstrengend sein, gerade jetzt vor Weihnachten, wo wir noch weniger Zeit für sie haben.“


    „Wir kommen schon miteinander klar“, meinte Dora Jensen, die Nachbarin. „Schicken Sie sie nur rüber.“


    Also gingen Jule und Jonas am nächsten Tag zu ihrer Nachbarin. Erst maulig und unzufrieden, daß ihre Eltern mal wieder keine Zeit für sie hatten.
    Fügten sich dann aber und standen pünktlich vor Frau Jensens Tür.
    Die alte Dame empfing sie herzlich und führte sie gleich in die Küche, wo schon viele leckere Zutaten bereit standen.


    Mit ungeahnter Begeisterung werkelten die beiden Kinder mit Frau Jensen, die sie bat sie doch einfach nur Dora zu nennen, und buken eine Kekssorte nach der nächsten.
    Sie vergaßen sogar sich zu streiten, was wirklich nicht oft passierte.


    Als die letzten Plätzchen aus dem Ofen waren, kochte Dora eine große Kanne Kakao und sie setzten sich gemeinsam in das Wohnzimmer um die ersten Ergebnisse ihrer Arbeit zu kosten.


    Sie unterhielten sich über Weihnachten und die beiden zählten stolz auf, was sie sich alles wünschten.
    „Hast Du als Kind auch immer ganz viele Weihnachtsgeschenke bekommen?“ fragte Jule aufgeregt


    „Ich? Nein. Damals als ich Kind war nicht.
    Aber an mein schönstes Weihnachtsfest erinnere ich mich heute noch, als wäre es gerade erst kürzlich gewesen.
    Das war in dem Jahr als der Krieg zu Ende war. Damals war ich 9 Jahre alt. Im Jahre 1945.


    Unser Haus bestand nur noch aus einem halbwegs funktionierenden Raum, das war die Küche. Alles andere war zerstört, so daß wir uns meist nur in der Küche aufhielten.
    Es gab noch immer nicht viel zu essen und ein kalter Winter war es zudem noch.

    Aber für mich war es das schönste, das mein Vater einige Tage zuvor nach Hause gekommen war.
    Wir wußten bis dahin nicht, ob er den Krieg überhaupt überlebt hatte. Er war gerade aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden.
    Meine Mutter organisierte – ich weiß bis heute nicht, wie sie das geschafft hat – ein Huhn für uns und bereitete dieses zu.
    Mein großer Bruder schlich sich in den nahen Wald und organisierte einen Tannenbaum für uns.
    In den Nächten hatte meine Mutter aus alten Kleiderresten eine Puppe für mich genäht und dazu ein paar Puppenkleider.
    Für mich damals ein wunderbares Geschenk, da ich bis dahin nie eine Puppe besessen hatte.


    Dann saßen wir an Heiligabend alle in unserer kleinen Küche zusammen und genossen das Weihnachtsessen. Am schönsten war für uns aber, daß wir alle zusammen waren und mein Vater wieder zu Hause war.
    Das erste Weihnachtsfest in Frieden zu begehen und keine Angst mehr vor fallenden Bomben haben zu müssen.“


    Jule und Jonas hatten gebannt zugehört. Für sie war das zwar schwer vorstellbar, aber trotzdem eine wunderschöne und interessante Geschichte, die sie auch ziemlich nachdenklich machte.
    Als sie abends wieder in ihre Wohnung kamen, brachten sie Kekse mit und waren ungewohnt still.


    Sonntagmorgen, am 3 .Advent, als seltenerweise die ganze Familie beim Frühstück zusammen saß , Julius noch müde, da er erst spät in der Nacht nach Hause gekommen war, legten Jule und Jonas ihren Eltern einen neuen Wunschzettel hin.
    Die alten lagen zerrissen daneben.
    Auf diesem Zettel stand lediglich – Ganz viel Zeit mit Mama und Papa. Und auch manchmal Dora gemeinsam zu besuchen.


    Bis Anfang des nächsten Jahres schafften es Anika und Julius, sich den Wunsch der beiden zu Herzen zu nehmen, künftig kürzer zu treten und weniger zu arbeiten. Beide organisierten sich so, daß sie mehr Zeit für sich und Jule und Jonas haben würden. Es würde zwar finanzielle Einbußen geben, aber was waren die schon gegen zwei glückliche Kinder und eine fröhliche Nachbarin, die zur guten Freundin wurde.

  • 17. Dezember 2012 von hef


    Das Jubelfest zu Weihnachten, oder andere Katastrophen


    Ich hatte alles bestens geplant.
    Doch wie das Leben so spielt, musste es anders kommen.


    Die wechselseitige Einladung zum Fest lief Jahr für Jahr gleich ab. Aber dieses Mal nicht so ganz. Vielleicht lag es daran, dass wir alle älter geworden waren und sich unsere gegenseitigen Geschichten langsam abnutzen. >>Hast du schon gehört...? Wieder einer weniger aus meinem Jahrgang. Gottogott. Die Einschläge kommen immer näher...<<
    Wenn die Verstorbenen durchgehechelt worden waren, ging eigentlich nur noch der Alkohol und Wehmut. Es war jedes Jahr der gleiche.


    Eigentlich ging dann nur noch der Hefezopf im Backofen.
    Denn meine Götterspeise, die Kinder sagten noch gelegentlich Paps oder Alter, das hing jeweils von den finanziellen Wünschen der Jugend ab, hatte seine und meine Mutter, also beiderseitige Schwiegermütter dazu eingeladen.


    Natürlich teilte er mir das genau dann mit, als es an der Haustür klingelte.
    >>Wer kommt denn jetzt?<<
    >>Ach so. Habe ich vergessen dir zu sagen...<<


    Es blieb mir nur noch zu bitten, dass der Zopf jetzt nicht den Geist aufgab, und noch nach dem guten Kaffee Service zu suchen.
    >>Mach nicht so nen Aufstand. Die kriegen doch nichts mehr mit,<< versuchte mich mein Magier zu beruhigen.
    Von wegen.
    Die Toilette und das Waschbecken musste noch desinfiziert, der Kaffe in eine andere Tüte mit der Aufschrift „Magenschonend“ umgeschüttet werden.
    Der Süßstoff aus der Dose mit den Tabletten für Magen und Darmerkrankungen, Gicht- und Herzanfällen, Betablocker von Aspirin getrennt werden.


    Geschafft. Zwischen Klingeln und Tür öffnen hatte ich es in der Rekordzeit von zwei Minuten geschafft.


    Von da ab lief alles so, dass ich wieder zu Atem kam. Bis, ja bis...eine der Mütter nach dem Wohlbefinden ihres Sohnes, Schwiegersohnes, meines Mannes fragte.


    In den Alpen löst so etwas höchste Lawinenwarnstufe aus.
    Und diese war auch nicht mehr aufzuhalten.


    >>Ach du Ärmster. Du musst sofort den Schnupfen loswerden. Ich kannte da jemand, der ist daran letztendlich gestorben, weil sich das auf seine Lunge ausgedehnt hat,<< sagte die Schwiegermutter.
    >>Red’ nicht so einen Blödsinn. Der Junge ist doch kräftig beieinander,<< sagte die Mutter.
    >>Blödsinn? Ich nehme in diesen Fällen immer sofort Acryl-Methacrylsäure mit einer doppelten Portion Ascorbin,<< sagte Schwiegermutter.
    >>Ha, deshalb siehst du älter aus, als du bist. Ich nehme dann eine doppelte Portion Lactosemonohydrat mit einer Spur von Levothyroxin. Das hebt sogar noch den Busen,<< sagte Mutter und schob ihr Korsett zu recht.


    >>Totaler Schwachsinn, meine Liebe. Zur Straffung des Busens benötigst du Hexatytoraloximonom. Was du da meinst ist gegen Verstopfung, und dagegen nehme ich schon seit Jahrzehnten Osmipurolodat, weil nur das den Naturheilstoff Demisxylodyphen enthält,<< konterte Schwiegermutter.
    Mutter wollte das nicht auf sich sitzen lassen.
    >>Du hast von nichts eine Ahnung, und davon eine ganze Menge.
    Dioxydialetraminorbiathyperdexalsäure ist das einzig wirksame Mittel.<<
    >>Und wogegen?<< wollte Schwiegermutter wissen.
    >>Gegen Schnupfen,<< triumphierte Mutter.


    Über die diversen Beipackzettel Diskussionen vergaß ich den Hefezopf, der röchelnd seinen Geist aufgegeben hatte, und dem auch Kokain nicht mehr zur Form verholfen hätte.


    Es wurde doch noch ein ruhiger Tag, nachdem ich den Süßstoff in der mir eigenen Schnelligkeit gegen Schlaftabletten ausgetauscht hatte.


    Eines schwor ich mir..., sollte meine Götterspeise gedenken mal wieder einen Schnupfen zu haben, würde ich mich zur Erholung in die Klinik verziehen.



    All rights reserved by Hef Buthe, Jan. 2004

  • 18. Dezember 2012 von Leseratte87


    Ein kleines Weihnachtsgedicht

    Erster Schnee fällt auf die Straße,
    Kindergelächer erfüllt die Welt.
    Alte Frauen lächeln aus dem Fester,
    auf eine besinnliche Zeit eingestellt.


    Kerzenschein und Zimtgeruch,
    auf der Couch sitzend mit einem guten Buch.
    Ein heißer Tee in den Händen,
    und nun abtauchen in fremde Welten.


    Plätzchenduft tritt aus der Stube,
    erweckt ein Glücksgefühl in uns.
    Macht das Leben ein bisschen schöner,
    und vergessen ist all der Schund.


    Kummer und Leid gibt es überall auf Erden,
    doch gibt es Momente,
    wo nur zählt das Wahre in unseren Herzen.
    Das Leben ist nicht leicht und fair –
    Doch mit Liebe im Herzen nicht ganz so schwer.


    Liebe, Freundschaft und kleine Dinge,
    betören immer wieder aufs Neue unsere Sinne.
    Freunde machen das Leben um vieles leichter,
    die da sind in schweren Zeiten an deiner Seite.
    Die nicht verurteilen dein kleines Wesen,
    sondern es annehmen mit vollen Herzen.


    Kleinigkeiten machen ebenfalls das Leben leichter.
    Wie ein Plätzchenteller, und die Geschichten von Oma Liese.
    Die führen uns in eine andere Welt,
    die ist von Friedlichkeit und Freundlichkeit erhellt.
    Kinderaugen groß und glänzend,
    leuchten dann noch heller als jeder Stern.
    Folgen den Geschichten voller Schweigen,
    doch ihr Staunen sagt so viel mehr.


    Ein kleiner Spaziergang im Schnee in der Nacht (natürlich dick eingepackt),
    zeigt die Schönheit der Ruhe in voller Pracht.
    Der Schnee fällt leise aus den Wolken,
    und zerfällt schließlich glitzernd in unseren Händen.


    Wie ein Kind voller Neugier erweckt,
    die Nase in den Himmel gestreckt,
    fühlen wir etwas in uns,
    was oft vergessen ist im Alltag der Welt:


    Mit offenen Augen durchs Leben zu gehen,
    und dabei nie seine Kindlichkeit aus den Augen zu verlieren.


    Kinder, die sehen die wahre Schönheit der Welt:
    wie ein Christbaum der strahlt am Heiligen Abend sehr hell.


    Wie das Plätzchen backen mit guten Freunden,
    dabei lachen und etwas Tee zu trinken.
    Genießen die Stunden der Ausgelassenheit,
    nicht an Gestern denken und nicht an Heut.
    Den Moment zu genießen wie er ist,
    und nicht zu denken an all den Mist.
    Der beschäftigt einen Tag für Tag,
    doch nun im Augenblick nur unwichtig ist.


    Wie Geben, das viel mehr gibt als Nehmen,
    und als Dank ein Lächeln geschenkt zu kriegen.
    Freude machen ist garnicht schwer,
    und es kostet nicht mehr als ein offenes Herz.


    Denk nicht an die Zweifel, die dich manchmal erfüllen,
    sondern an das Schöne das du hast im Leben.


    Denk an das, was dich glücklich macht,
    und was du schätzen kannst Tag für Tag.
    Irgendwas gibt es bestimmt,
    auch wenn es nicht immer an die Oberfläche tritt.
    Doch es ist da verborgen in dir,
    und wartet nur darauf entdeckt zu werden von dir.


    Denk an den bunten Plätzchenteller,
    den du entworfen hast ganz alleine.


    Denk an den Spaziergang im Schnee,
    der erfüllt mit Sehnsucht dein Herz.


    Denk an das liebe Wort von Freunden,
    die dich nie lassen alleine.


    Denk an die schönen Stunden im Leben,
    wie das Diskutieren mit lieben Eulen.
    Eine kleine Familie im Netz versteckt,
    die immer da ist, wenn was ist.


    Und auch wenn es oft sehr schwer sein mag:
    Schätz dein wertvolles Leben Tag für Tag!



    ~ Fröhliche Weihnachten wünscht eure Leseratt87 ~

  • 19. Dezember 2012 von Glass


    Das Monster aus Schnee

    Nina lag auf dem Bett in ihrem Zimmer und starrte zum Fenster hinaus. In den letzten Tagen war so viel Schnee gefallen, dass der Garten aussah, als gehöre er in eine andere Welt. Berge von Schnee türmten sich meterhoch. Ihre Geschwister hatten Iglus und mehrere Figuren aus dem weißen Pulver gebaut. Manche von ihnen sahen aus wie klassische Schneemänner, geformt aus drei übereinander stehenden Kugeln. Andere waren eher wie abstrakte Kunstwerke, Gestalten mit unförmigen Körpern und Gliedmaßen. In der Mitte stand der größte von ihnen, eine massige Gestalt, die keine Arme und drei Beine hatte. Martha, ihre kleine Schwester, hatte ihn gebaut. Der Kopf war länglich und seine Ohren bestanden aus zwei Handschuhen. Als Martha ihn ihr gezeigt hatte, hatte Nina darüber gelacht, doch jetzt machte er ihr Angst. Zusammen mit den Iglus sah die Landschaft im Garten aus wie eine kleine Stadt, die bewohnt wurde von im Schnee gefangenen Monstern.
    Plätzchenduft drang in ihr Zimmer. Ihre Mutter backte mit Martha, wie jedes Jahr vor Weihnachten. Ein Teil von Nina wollte hinunterrennen in die Küche, in der Hoffnung, dass die Anwesenheit ihrer Familie und der behagliche Geruch alle unschönen Gedanken aus ihrem Kopf vertreiben würden. Aber Nina wusste, dass das wahrscheinlich nicht funktionieren würde. Die Gedanken, die ihr seit drei Tagen durch den Kopf spukten, hatten sich bis jetzt als sehr hartnäckig erwiesen.
    Sie griff nach ihrem Handy und öffnete den Posteingang ihrer SMS. Die Nachricht von Simon war nach unten gerutscht. Nina kannte sie auswendig. Trotzdem öffnete sie die SMS. „Hey Nina“, las sie, „ich habe nachgedacht, und es ist das Beste, unsere Beziehung zu beenden. Wir passen irgendwie nicht zusammen. Ruf nicht an, ich werde nicht rangehen“ Er hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, hinter den letzten Satz einen Punkt zu setzen. Kein Tschüss, auch kein „Es tut mir Leid“. Und er hatte die SMS genau an dem Tag abgeschickt, als er mit seinen Eltern für zwei Wochen in den Urlaub in die Alpen aufgebrochen war.
    Sie hatte angerufen. Er war nicht rangegangen. Seit drei Tagen versuchte sie es immer wieder, hatte SMS geschrieben und E-Mails geschickt. Sie kannte den Namen des Ortes, in den er gefahren war. Ihr Geld reichte nicht für ein Zugticket.
    Nina erinnerte sich an die Wärme der Sonne, die sie im Sommer auf ihrer Haut gespürt hatte, bei den vielen Besuchen im Schwimmbad, bei denen sie Simon lange beobachtet hatte. Er lag mit seinen Freunden immer an der gleichen Stelle und irgendwann fiel sie ihm auf. Tagelang tauschten sie nur Blicke, bis er sie schließlich ansprach.
    Sie warf das Handy auf den Fußboden. Sie wollte nicht an diese Dinge denken, aber die Gedanken ließen sich nicht vertreiben. Gedanken an den ersten Kuss, ihr erstes Mal mit Simon. War er nur wegen Sex mit ihr zusammen gewesen? War es ihm langweilig geworden, nachdem er bekommen hatte, was er wollte? Sie dachte an seine Hände auf ihrer Haut, an seine Lippen auf ihrem Nacken. Daran, wie sie ihm eines Abends die Worte „Ich liebe dich“ ins Ohr geflüstert und er so getan hatte, als hätte er es nicht gehört. An die letzten Wochen, in denen er immer wieder ihre Anrufe ignoriert und nicht auf Nachrichten geantwortet hatte.
    Morgen war Heilig Abend. Zum ersten Mal in ihrem Leben freute Nina sich nicht darauf.
    Die Dämmerung legte sich über die Schneestadt im Garten. Nina beobachtete, wie weiße, große Flocken vom Himmel fielen. Ein starker Wind wirbelte sie durcheinander, ließ sie tanzen. Sie fragte sich, ob es dort, wo Simon gerade war, auch schneite. Sie griff nach ihrem Handy und rief ihn an. Es klingelte, nach dem zehnten Mal ging die Mailbox ran. Nina legte auf, ließ sich wieder in ihr Kissen fallen und starrte in den Garten. Sie lag immer noch so da, als ihr Bruder sie zum Abendessen rief. „Keinen Hunger“ antwortete sie. In ihrem Zimmer war es mittlerweile dunkel geworden. Sie hatte keine Lust, das Licht einzuschalten. Ihre Augen fielen zu.
    Unter ihren Füßen spürte sie weiches Gras. Ihre Haut war warm und eine milde Brise umwehte sie. Sie lief langsam über den Rasen und summte dabei. Ihr Blick glitt über die grüne Wiese, hin zum Schwimmbecken. Außer ihr selbst schien niemand im Schwimmbad zu sein. Da sah sie am Rand der Wiese, ausgestreckt auf einem Badehandtuch, Simon. Lächelnd ging Nina auf ihn zu. Sie wusste, dass er auf sie wartete, dass er sich freuen würde, sie zu sehen und sie in ihre Arme schließen würde. Ohne Eile schlenderte sie in seine Richtung, als sie etwas Kaltes auf ihrem Arm spürte. Nina schaute herab und konnte gerade noch eine Schneeflocke sehen, bevor sie durch die Wärme ihres Armes zu Wasser wurde. Verwirrt schaute sie sich um. Kleine Flocken vielen um sie herum zu Boden, es wurden immer mehr und sie schmolzen nicht mehr, als sie auf den Boden und Ninas Körper fielen. Es war auf einen Schlag sehr kalt. Simon lag nicht mehr an der Stelle, wo er noch vor wenigen Augenblicken gewesen war. Stattdessen stand dort jetzt ein Iglu. Aus dem Iglu kroch das dreibeinige Schneemonster. Es lief auf Nina zu. Sie wollte sie umdrehen und wegrennen, doch sie fiel hin und –
    Der Raum, in dem sie aufwachte, war hell und warm. Sie lag in einem Bett mit weicher, weißer Bettwäsche. Das Kopfteil des Bettes war leicht aufgerichtet und sie blickte auf eine Wand, an der ein Fernseher hing. Links und rechts neben ihr stand jeweils ein weiteres Bett. Beide waren leer. An ihrer Hand schmerzte etwas. Sie hob sie an und sah, dass ein Schlauch in ihre Hand steckte. Er führte nach oben, wo ein Beutel hing, in dem sich eine klare Flüssigkeit befand.
    Die Tür des Raumes öffnete sich und herein kam ein Mann in weißer Hose und weißem Kittel. Er lächelte Nina an. „Du bist wach“, sagte er, „das ist schön.“ Nina wollte eine Frage an ihn formulieren, doch er kam ihr zuvor. „Das ist nur etwas Flüssigkeit, die du da bekommst. Du warst so ausgetrocknet.“ Er zog sich einen Stuhl zum Bett und setzte sich an ihre Seite und blickte sie erwartungsvoll an. „Wie geht es dir?“, fragte er.
    „ Mein Kopf schmerzt stark“, antwortete Nina, „und mir ist schlecht.“
    Der Mann nickte bedächtig. „Ja, das ist genauso, wie ich es erwartet habe. Du bist krank, Nina. Aber es wird dir bald wieder besser gehen.“
    „Wird es lange dauern?“, fragte Nina.
    Er sah sie ernst an. „Nun ja, das kann man nie so genau sagen. Es dauert eine Weile, bis dieser Schmerz verschwindet. Aber wichtig ist, dass es erst dann besser werden kann, wenn du ihn akzeptiert hast.“
    Nina wusste nicht genau, was er meinte. Als sie nichts erwiderte, lächelte er der Mann wieder und sagte dann: „Du wirst sicher bald die alte sein. Wenn du dich gut ausruhst, kannst du Weihnachten sogar wieder zu Hause bei deiner Familie sein. Das wäre doch gut, oder? Du solltest jetzt am besten schlafen, lange schlafen. Schlaf ein, Nina.“
    Eine Melodie drang in Ninas Bewusstsein. Nina wollte es nicht hören, wollte, dass das Geräusch weg ging, aber es wurde nur noch lauter. Jetzt erkannte Nina, was es war. Jemand sang „Alle Jahre wieder“. Es war Martha. Eine Erkenntnis drang in Ninas Verstand. Sie hatte geschlafen und erwachte, weil Martha im Flur sang.
    Jetzt riss Martha die Tür auf. „Hey, aufstehen, du Schlafmütze“, rief sie und sprang auf Ninas Bett. Nina rieb sich die Augen. Ihr Kissen war nass und ihre Klamotten durchgeschwitzt. Draußen war es hell. Es musste der nächste Tag sein. „Wie viel Uhr haben wir?“, fragte sie Martha.
    „Es ist um zehn“, antwortete Martha, „und wir fangen jetzt an, den Weihnachtsbaum zu schmücken. Du hast total lange geschlafen, weißt du das? Und bist mit deinen Klamotten eingeschlafen! Kommst du mit runter und hilfst beim Schmücken?“
    Nina rieb sich die Augen. Es erschien ihr nur eine Sekunde her zu sein, seit der Arzt zu ihr gesagt hatte, dass sie schlafen solle. Doch sie hatte seit um 18 Uhr des vorigen Abends geschlafen. Diese vielen Stunden konnten doch nicht nur aus den Träumen bestanden haben? Scheinbar hatte sie den Rat des Arztes angenommen, und viele Stunde traumlosen Schlaf hinter sich. Sie erinnerte sich klar an ihre Träume und hatte auch keine Angst davor, dass sie sie, wie sonst meistens, vergessen würde.
    „Ja, ich komme gleich“, sagte sie zu ihrer Schwester und schob sie vom Bett, „jetzt hau mal ab, damit ich mir was anderes anziehen kann.“
    Als Martha weg war, zog Nina sich um und kämmte sich die Haare. Sie betrachtete sich im Spiegel. Sie fühlte sich anders als in den letzten Tagen. Dann fiel ihr auf, woran es lag. Sie hatte nicht als Erstes nach dem Aufwachen auf ihr Handy geschaut, um zu sehen, ob Simon sich gemeldet hatte.
    Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Das dreibeinige Monster sah überhaupt nicht mehr furchteinflößend aus.

  • 20. Dezember 2012 von polli


    Lektion 20

    Es war einmal eine dieser Weiterbildungsmaßnahmen. Lektion 19 hatten sie geschafft und als Hausaufgabe mussten sie drei Merksätze auswendig lernen. Keine große Sache.


    1. Suche Menschen mit sorgenvollen Gesichtern.
    2. Finde heraus, was sie bedrückt.
    3. Tue Gutes.


    „Ich nehme an, Sie freuen sich schon: Mit Lektion 20 beginnt die praktische Erprobung, bei der Sie das Gelernte unter Beweis stellen können“, sagte der Dozent. Die Anwärter nickten. E. hatte sich bei den Theoriestunden ziemlich gelangweilt und lieber die vorbeiziehenden Wolken beobachtet, anstatt sich belehren zu lassen. Endlich ein Einsatz.
    „Lehnen Sie sich entspannt zurück und schließen Sie Ihre Augen. Alles Weitere wird sich ergeben.“
    E. schloss gehorsam die Augen und ließ ein paar zarte Schäfchenwolken vor seinem geistigen Auge erstehen.


    Auf der hell erleuchteten Einkaufsstraße herrschte Gedränge. Darauf hatte ihn niemand vorbereitet. Er bemühte sich, in die Gesichter der Menschen zu blicken, doch sie schoben sich an ihm vorbei, beladen mit allerlei Taschen und bunt bedruckten Tüten. Ihre größte Sorge schien zu sein, dass sie beraubt werden könnten, so fest umklammerten sie ihre neu erworbenen Besitztümer. E. nahm seinen Mut zusammen und sprach den Erstbesten an, der sich an ihm vorbeizuzwängen versuchte. „Entschuldigung, mein Herr, möchten Sie vielleicht -“
    „Quatsch mich nicht blöde an, du Penner!“, unterbrach ihn der Mann unwirsch und setzte seinen Weg fort.
    O je. Lektion 20 war schwerer, als er gedacht hatte. Vielleicht lag sein Misserfolg daran, dass dieser Menschenstrom, der wie ein mit Geröllmassen beladener Lavafluss an ihm vorbeizog, unbekannten Gesetzen gehorchte. Er hätte im Unterricht besser aufpassen sollen. E. rettete sich in einen weihnachtlich geschmückten Laden. Die Glastür schloss mit einem freundlichen metallischen Dingdong hinter ihm. Geschenkartikel, Handtücher in allen Farben, Kerzen in allen Duftnoten, wozu brauchten die Menschen diesen Kram? Egal. Sicher wartete eine erschöpfte Verkäuferin in einer dunklen Ladenecke darauf, von ihren Sorgen befreit zu werden. Hier war er richtig.
    „Womit kann ich Ihnen weiterhelfen?“
    Die freundliche Stimme gehörte einer lächelnden jungen Frau.
    „Ich, äh, ich weiß nicht recht.“
    „Ach so, Sie möchten sich erst einmal umschauen. Bitte schön, ich bin gerne für Sie da, wenn Sie meine Hilfe benötigen.“
    Keine Spur von Sorge. Ein perfektes Lächeln, strahlende Freundlichkeit. Etwas künstlich vielleicht, wenn man genau hinschaute. Das lag wohl an der Schminke, aber damit kannte er sich nicht aus.
    „Können wir beide uns nicht ein bisschen unterhalten?“
    Der Satz war völlig daneben, er wusste es sofort. Die Miene der Verkäuferin versteinerte sich. „Gerne dürfen Sie hier etwas kaufen. Wenn Sie Beratung wünschen, ist mein Kollege für Sie da. Bitte.“
    Sie wies mit einer Handwegung auf die Auslagen in den Regalen. E. murmelte ein undeutliches „Tut mir leid, ich wollte nur ...“, dann flüchtete er hinaus ins Freie.
    Wenn nicht noch ein Wunder geschah, dann wurde die Lektion ein Reinfall. Was nun?
    Er verzog sich in eine weniger belebte Seitenstraße. Apotheke, Rechtsanwalt, Bürohäuser.
    Im Unterricht war es ihm mühelos gelungen, sich auf die Wolken zu konzentrieren und ihnen eine neue Gestalt nach seinen Wünschen zu geben. Hier an diesem Ort war die Ablenkung zu groß, seine Gedanken flatterten wie Spatzen davon, anstatt sich an einem Mittelpunkt zu sammeln. Ich muss die Lektion 20 schaffen, irgendwie!
    Auf dem Messingschild des grauen Bürogebäudes gegenüber stand ein wunderbarer Name in altmodischer Schrift: „Engel & Söhne. Maschinen- und Anlagenbau.“
    Endlich. Hier war er richtig. Er ignorierte die Leuchttafel mit dem Logo des Konzerns am Eingang, nickte dem Mann an der Pforte zu, rief fröhlich ein „Da entlang, ich weiß!“ und verschwand im Treppenhaus, wo er beschwingt immer zwei Stufen auf einmal nahm, bis er vor der schweren Stahltür im 2. Stock stand. Verwaltung.
    Ein warmes Gefühl stieg in ihm auf. Hier arbeiteten Menschen mit sorgenvollen Gesichtern. Sie warteten nur auf den einen, auf ihn, der ihnen Gutes tun würde. Auf welche Weise, das würde ihm sicher einfallen, sobald er sie sah. Er öffnete leise die Tür und betrat die Verwaltungsabteilung. Auftritt, jetzt!


    So lange arbeitete Schröder schon in der Verwaltung, dass er sich über fast nichts mehr wunderte. Die Chefs kamen und gingen, die Kollegen blieben. Er hatte Umstrukturierungen und modernisierte Firmenlogos überlebt, Evaluationen, Zertifizierungen, Qualitätssicherungen und Normungen über sich ergehen lassen. Seine Aktenberge änderten sich ebensowenig wie das Mittagessen in der Kantine nach einem Pächterwechsel. Bratwurst bleibt Bratwurst, auch wenn sie als Schnecke serviert wird.
    Donnerstags abends ging Schröders Frau zur Gymnastik. Er blieb dann als Einziger lange im Büro und genoss das Alleinsein.


    An diesem Donnerstag im Dezember stand ein Fremder in der Tür und starrte ihn an.
    „Ja?“, sagte Schröder und fragte sich gleichzeitig, ob er den Wachdienst verständigen sollte. „Sie sind außerhalb unserer Service-Zeiten hier. Haben Sie ein dringendes Anliegen?“
    Einmal hatte die Firmenzentrale einen verdeckten Prüfer geschickt. War dieser Fremde auch so einer?
    „Ich möchte zu Ihnen. Dass Sie einsam sind und Sorgen haben, das habe ich Ihnen gleich angesehen. Weit und breit niemand im Büro, nur Sie. Da kann man leicht unglücklich werden. Weihnachten steht vor der Tür. Ein Grund, sich zu freuen. Ich zeige Ihnen den Weg aus der Einsamkeit, indem ich Ihnen über, äh, also ...“
    „Moment mal. Ich lasse mir nicht gern etwas aufschwatzen, da sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Sie gehen jetzt besser!“
    Kein Tester, nur einer dieser lästigen Vertreter.
    „Ich wollte doch nur ...“
    „Raus!“, sagte Schröder fest. „Sofort!“


    „Ach du Scheiße, total versemmelt!“, rief der Fremde und verzog das Gesicht. Eine Träne lief über seine Wange. Vielleicht hätte Schröder nicht so hart reagieren sollen, vielleicht benötigte der Unbekannte Hilfe.
    „Warten Sie!“, rief er, „bleiben Sie noch etwas, das war nicht so streng gemeint. Kommen Sie mit zum Tisch dort, ich mache uns einen Kaffee und dann erzählen Sie einfach mal, was los ist.“
    Der Fremde nickte und folgte ihm zur Kaffeemaschine. „Bitte keinen Kaffee, ich trinke so etwas nicht, aber ich würde mich gern etwas ausruhen, danke.“
    Er nahm Platz und Schröder setzte sich zu ihm. „Ich habe Zeit und ich bin donnerstags abends immer allein hier, erzählen Sie ruhig, was Sie bedrückt, keiner wird uns stören oder mithören.“
    „Ich weiß nicht. Es sollte andersherum sein: Ich müsste der sein, der Ihre Sorgen anhört.“
    Und dann begann er stockend zu erzählen. Von der Lektion und dem Menschenstrom auf der Straße und von seinem Versagen im Geschenkeladen.
    Schröder sagte nichts. Er hörte zu. Das konnte er gut.
    „Und jetzt bin ich ratlos. Ich soll nach Menschen mit sorgenvollen Gesichtern Ausschau halten und Gutes tun. Aber wie, verdammtnochmal? Ach ja, Fluchen ist mir auch untersagt. Das gibt Abzüge.“
    E. sah sein Gegenüber unglücklich an.


    „Hm“, sagte Schröder. Dann schwieg er eine Weile, bevor er bedächtig sagte:
    „Kann sein, dass Sie mir gerade ziemlichen Blödsinn erzählt haben. Oder aber Ihre Geschichte ist wahr. Wer weiß. So oder so, ich denke, es hat Ihnen gutgetan, mir alles zu erzählen, obwohl ich Ihnen nicht helfen kann, nicht einmal mit einem Kaffee.“
    Der Fremde nickte. „Ja, es geht mir etwas besser, auch wenn ich versagt habe und sogar die Regel gebrochen habe, gegenüber einem Menschen von meiner Aufgabe zu erzählen. Ich habe beschlossen, Lektion 20 abzubrechen und zurückzukehren. Was immer auch geschieht, ich fühle, dass ich diesen Weg gehen muss.“
    Er stand auf, winkte Schröder zum Abschied zu und verschwand leise.


    „Wie ich sehe, sind Sie von Ihren Ausflügen zurückgekehrt“, sagte der Dozent. "Ich freue mich darauf, von Ihren ganz persönlichen Erfahrungen zu hören, auch wenn Sie selbstverständlich in der gesamten Zeit unter Beobachtung standen und ich mir Aufzeichnungen über Ihr Verhalten gemacht habe."
    E. wurde blass.
    "Zuvor möchte ich Ihnen mitteilen, dass Sie alle Teil 1 der Lektion bestanden haben. Diese praktische Übung war ein nicht angekündigter Test. Und nun möchte ich Sie bitten, neue Merksätze zu formulieren.“


    E. sammelte seine Gedanken. Dann stand er auf und sagte: „Erst mal danke, dass ich nicht durchgefallen bin. Das war echt nett von Ihnen. Was ich gelernt habe da draußen:


    1. Engel müssen nicht perfekt sein.
    2. Das gibt Menschen Gelegenheit, selbst Gutes zu tun.
    3. Eigentlich reicht es schon aus, wenn man einander zuhört.
    Und dann vervielfacht sich das Gute, ich meine, äh, auch Menschen können Engel sein und man selbst …“


    Der Dozent lächelte. „Setzen Sie sich, mein Lieber. Wir alle wissen schon, was Sie meinen.“



    Ich wünsche uns allen ein schönes Weihnachtsfest und jede Menge Gelegenheiten, einander zuzuhören.