Rosamond Smith (d. i. Joyce Carol Oates): Der Andere

  • Rosamond Smith (d. i. Joyce Carol Oates): Der Andere
    dtv 1997. 269 Seiten
    ISBN-13: 978-3423083782
    Originaltitel: Lives of the Twins (1987)
    Übersetzerin: Maria Poelchau


    Verlagstext
    Molly Marks, Ende Zwanzig, attraktiv, wenn auch ein wenig flatterhaft, ist glücklich wie noch nie. Sie hat den Mann ihres Lebens gefunden: Jonathan. Ihr Psychotherapeut. Jonathan ist ernst, solide, fürsorglich, zuverlässig. Denkt sie. Doch dann erfährt sie etwas, das sie an der Aufrichtigkeit ihres Geliebten ernsthaft zweifeln läßt. Jonathan hat einen Zwillingsbruder, den er rigoros aus seinem Leben verbannt hat! Und je beharrlicher Jonathan sich über James ausschweigt, um so neugieriger wird Molly zu erfahren, was sich zwischen den Brüdern abgespielt hat. Mehr noch: Sie will ihn kennenlernen. James ist ebenfalls Psychiater, und Molly läßt sich auf ein gefährliches Spiel ein, bei dem sie den anderen Jonathan kennenlernt. Einen brutalen, zynischen und dominanten Mann - den sie verachtet, und dem sie verfällt. - Ein Thriller, der einer Verfilmung durch Hitchcock würdig gewesen wäre.


    Die Autorin
    Joyce Carol Oates wurde 1938 in Lockport/New York geboren. Sie lehrt englische Literatur an der Princeton University.


    Inhalt
    Molly und ihr Psychotherapeut Jonathan verlieben sich ineinander und ziehen zusammen. Jonathan, ein sehr zurückhaltender Mann, gesteht Molly nur sehr widerwillig, dass er einen Zwillingsbruder hat, der ebenfalls Psychotherapeut ist. Jonathan und James sind "spiegelbildliche Zwillinge". Einer ist Rechtshänder der andere Bruder Linkshänder; das Spiegelbild des eines Mannes wirkt wie das exakte Abbild seines Zwillings. Als Kinder haben die Jungen ihre Ähnlichkeit so extrem zu Streichen ausgenutzt, dass ihre Schule beschloss, nach diesen speziellen Knaben kein Zwillingspaar mehr zuzulassen. Molly, von Neugier getrieben, aber nicht intelligent genug, um es mit Jonathan und James gemeinsam aufzunehmen, meldet sich unter falschem Namen in James Praxis als Klientin an. Während Molly ihr Leben komplett auf den Kopf stellt, um Jonathan ihre therapeutischen Eskapaden zu verheimlichen, stellen sich beim Lesen allmählich die Nackenhaare auf. Zur Steigerung des gepflegten Gruselns trägt Kater Danton bei, der Molly offenbar gezielt verwirren soll. Ist es überhaupt möglich, eine Katze zu manipulieren? Jonathan als jüngerer Bruder hat sich dem dominanteren James stets unterlegen gefühlt. Dass James ihm nun beruflich Konkurrenz macht, war sicher keine gute Idee. Als Molly Zweifel an dem kommen, was ihr die Zwillingsbrüder unabhängig voneinander erzählen, hat sie sich bereits unrettbar in einem Netz aus Wahnsinn, Illusion und Manipulation verfangen.


    Fazit
    Rosamond Smith erzeugt subtiles Gruseln, indem sie ihre Leser an der eigenen Wahrnehmung zweifeln lässt. Solange Jonathan und James Molly (und mit ihr den Lesern) noch nicht gemeinsam gegenübergetreten sind, muss man hier bis zum letzten Absatz alles infrage stellen.


    10 von 10 Punkten

  • Inzwischen habe ich Der Andere auch gelesen. Mir gefiel der Stil, der intelligente und "unheimlich" gut gelungene Plot sowie das Thema. Interessant finde ich auch die eingestreuten Informationen über Zwillinge, die dem damaligen Stand der Zwillingsforschung entsprechen. Und im Gegensatz zu anderen Thrillern, die oft sprachlich etwas schlichter gestrickt sind und hauptsächlich auf Spannung setzen, sind in diesem Psychothriller geschickt einige wunderbar passende Zitate eingestreut. Auch spielt sich im Hintergrund des Geschehens eine spannende Diskussion um Wertvorstellungen ab, die in Frage gestellt und umgekrempelt werden, bis man nicht mehr weiß, was man selbst eigentlich noch glauben soll/will/kann. Zudem hat J.C. Oates - wie in allen ihren Romanen - sehr detaillierte Charakterstudien betrieben. Kurz: ein intelligenter Thriller mit einer gewissen Tiefe, ganz wie man es von J.C. Oates erwartet.


    Was mich allerdings nicht ganz so begeistern konnte ist, dass ich mich von dem eher oberflächlichen Charakter der Protagonistin Molly Marks nicht so richtig angesprochen fühlte. Daher konnte ich in vielen Passagen nur mit distanziertem Interesse teilnehmen, was zur Folge, dass ich mich - dank fehlender emotionaler Anbindung - nur wenig gegruselt habe. Trotzdem blieb ich dran, allein schon wegen des genialen Plots.


    Auf jeden Fall ein lesenswerter Psychothriller, der angenehmerweise zu einer Zeit spielt, in der Handys, Tabletts und ständiges Vernetztsein noch nicht vorkommen und in der man noch zum Telefon hingeht, wenn es klingelt und wenn man nicht erreichbar sein will, den Hörer danebenlegt. :-]


    9/10 Punkten

  • Ich bin nicht auf dem neuesten Stand der Zwillingsforschung, lese nur hin und wieder etwas oder sehe wissenschaftlich gestützte Berichte auf arte oder 3sat oder so.
    Die Titel der Bücher, die ich früher mal gelesenhabe, weiß ich leider auch nicht mehr. Aber die sind sowieso alle veraltet.
    Mein Faktengedächtnis ist leider auch etwas unscharf, so dass ich jetzt aus dem Stand keine Namen und Daten nennen kann. Was ich noch weiß:
    Die Frage, wieviel ist vererbt, wieviel ist Einfluss der Umwelt, die mithilfe Zwillingsforschung immer wieder versucht wurde zu beantworten, zeigt, dass das Ganze weit komplexer ist, als vor 10 oder 20 Jahren angenommen wurde. Je weiter die Genforschung fortschreitet, desto klarer wird, dass nicht allein die Vererbung darüber entscheidet, wie sich ein Mensch entwickelt. So können zum Beispiel eineiige Zwillinge, die nahezu genau gleiche Gene und Chromosomen haben, trotzdem in mancherlei Hinsicht sehr unterschiedlich sein. Es wurde u.a. ein männliches erwachsenes Zwillingspaar interviewt, bei dem der eine schwul, der andere heterosexuell ist. Und es gab andere Beispiele von eineiigen Zwillingspaaren mit ein oder mehreren eklatanten Unterschieden bei Merkmalen, die erblich weitergegeben werden, die Einzelheiten weiß ich nicht mehr. Die wissenschaftliche Erklärung dazu war, dass es auf den Chromosomen (oder auf den Genen? - Ich bin da nicht so der Fachmann) eine Art Kippschalter gibt, die nach dem An-Aus-Prinzip funktionieren.
    D.H. je nach Umwelteinflüssen, sozialen Einflüssen/Schicksalsschlägen kann also bei gleichen Erbanlagen bei dem einen der Kippschalter auf "hetero" stehen, bei dem anderen Zwilling aber auf "homo". Das gilt ebenso für andere Entweder-Oder-Eigenschaften. Daran wird, soweit ich das aus diesem Bericht in Erinnerung habe, momentan weitergeforscht.
    1996/1997, als der Thriller vermutlich entstand, war das, soweit ich weiß, noch nicht bekannt.
    Die Zwillingspaar-Studien an getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen sind schon älter, ich habe davon Mitte der 90er gelesen und im Studium wurde eifrig darüber diskutiert. Es gab da ein ganz berühmtes männliches Zwillingspaar, die Namen habe ich jetzt nicht parat, müsste ich googeln. Die Ähnlichkeiten, die bei beiden Zwillingen festgestellt wurden, obwohl einer in den USA und einer in Europa aufgewachsen war, sollen frappierend gewesen sein. Diese sind in Oates Psychothriller eingeflossen. Allerdings gab es an dieser Studie auch allerhand Kritik, nur erinnere ich mich nicht mehr genau daran. Es ging grob gesagt um die Frage, ob die auffälligen Ähnlichkeiten wirklich so viel Aussagekraft hätten, und ob es nicht auch eine ganze Menge Unterschiede zwischen den beiden gab, und dass die Frage nach Vererbung und Umwelt wieder einmal nicht "sauber" und trennscharf beantwortet werden konnte.
    Auf jeden Fall hat die gute Joyce C. Oates gut recherchiert, und sie stellt keine Behauptungen auf, die nicht stimmen, sondern reflektiert sogar einige der üblichen Vorurteile.


    Gerade gefunden: noch aktuell (2012) und wissenschaftlich, Klick

  • An die Zwillinge kann ich mich auch noch erinnern - identische Frisur, den gleichen Frauentyp geheiratet, die gleichen persönlichen Macken, wie immer einen Gummiring ums Handgelenk tragen. Um glaubhaft zu sein, müsste die Studie wohl zuerst untersuchen, wie viele amerikanische Männer sich ebenso verhalten, die keine Zwillinge sind.


    Die Zwillingsforschung ist durch die Verknüpfung mit der Intelligenzforschung ja wieder in den Focus gerückt. Während die Anhänger frühkindlicher Förderung daran glauben wollten, dass alle Menschen gleiche Chancen hätten, wenn sie nur früh genug gefördert würden, hat die Zwillingsforschung eher bewiesen, dass eine fördernde Umgebung einem Kind zwar einen Vorsprung gegenüber dem Zwillingsgeschwister verschafft, das unter ungünstigen Bedingungen aufwächst, dass der Vorsprung sich bis zum Erwachsenenalter aber wieder angleicht. Offenbar war diese Erkenntnis unter Pädagogen unerwünscht und aus den Zwillingsstudien wurde nur herausgelesen, was man darin finden wollte.


    Im Psychothriller könnte man ja vermuten, dass eine aufällige Figur an einer psychischen Krankheit leiden - oder bei Zwillingen beide. Den Thrill macht dann aus, ob es einer ist - und welcher - beide oder keiner.

  • Zitat

    Die Zwillingsforschung ist durch die Verknüpfung mit der Intelligenzforschung ja wieder in den Focus gerückt. Während die Anhänger frühkindlicher Förderung daran glauben wollten, dass alle Menschen gleiche Chancen hätten, wenn sie nur früh genug gefördert würden, hat die Zwillingsforschung eher bewiesen, dass eine fördernde Umgebung einem Kind zwar einen Vorsprung gegenüber dem Zwillingsgeschwister verschafft, das unter ungünstigen Bedingungen aufwächst, dass der Vorsprung sich bis zum Erwachsenenalter aber wieder angleicht. Offenbar war diese Erkenntnis unter Pädagogen unerwünscht und aus den Zwillingsstudien wurde nur herausgelesen, was man darin finden wollte.


    Aha. Wieder was dazu gelernt. Ist doch für Pädagogen/Lehrer eigentlich ganz beruhigend, zu wissen, dass sie im Grunde nicht allzuviel falsch machen können, egal nach welcher Methode sie unterrichten, weil sich die Kids bis zum Erwachsenenalter sowieso noch irgendwoher das holen, was sie zum Ausgleich brauchen. :grin