August. Erzählung - Christa Wolf

  • August ist Ende sechzig und immer noch in der Lage, das zu tun, was ihm am besten gefällt: lange Zeit auf scheinbar endlosen Landstraßen zu fahren. Heutzutage lenkt er allerdings keine Lastwagen mehr, sondern Reisebusse voller munterer Rentnerinnen und Rentner, von Berlin aus Richtung Osten und zurück. Die Richtung stört ihn nicht, eher stört ihn die Gesellschaft im Bus, sie ist meist laut. Dauernd will jemand singen. August hat es lieber ruhig. Aber er erträgt den Gesang. August kann viel ertragen, das hat er gelernt in seinem Leben.
    Bei Kriegsende landete er, gerade acht Jahre alt, allein in Mecklenburg. ‚Waise’ stand auf dem Schild, das ihm jemand vom Roten Kreuz um den Hals hängte. Vom Bahnhof aus ging es in eine Lungenheilanstalt, die Mottenburg wie sie bei den PatientInnen, Pflegepersonal und überhaupt allen hieß, die damit zu tun hatten.


    Das Leben im Sanatorium hatte seinen eigenen Rhythmus, fernab vom Alltag derer, die schon dabei waren, nach dem Krieg etwas Neues aufzubauen. Die Folgen des Kriegs, knappste Versorgung nicht nur mit Nahrung, sondern mit allem Notwendigen aber spürte man auch in der Mottenburg. Das Überleben und das Sterben hing eher vom Glück ab als von guter Versorgung und Pflege. Gestorben wurde viel.


    Kinder gab es nicht viele, aber es gab Lilo. Sie war schon sechzehn oder erst sechzehn, je nachdem, ob man es aus Augusts Augen oder aus denen der Oberschwester betrachtete. Lilo nämlich gab sich nicht zufrieden damit, Patientin zu sein. In kürzester Zeit wurde sie Hilfsschwester, Kindergärtnerin, Spielkameradin, Trösterin. Das ganze Sanatorium kreiste um Lilo, aber vielleicht kommt es August nur so vor. Sie überlebten beide, doch nachdem Lilo entlassen wurde, sahen sie sich nie wieder. August wurde erwachsen, machte eine Lehre, entdeckte seine Liebe zum Fahren und lernte seinen neuen Beruf. Er heiratete und führte eine ruhige Ehe, ohne Kinder. Heute ist er Witwer. Er hatte Glück, sagt er, wenn er an sein Leben denkt.


    Diese Erzählung ist die letzte, die Wolf geschrieben hat. Sie handelt von einem stillen, bescheidenen, unauffälligen Mann. An ihm ist nichts Besonderes, wäre da nicht das Glück. Das Wunderbare an der Geschichte ist, daß es Wolf gelingt, das Unauffällige in den Mittelpunkt zu rücken, ohne daß es bieder, selbstgefällig oder gar selbstgerecht wird. Es geht nicht um das klischeehafte Glück im Kleinen, nicht um Bescheidenheit oder gar Selbstbescheidung. Es ist die Geschichte vom Glück eines kleinen Mannes, schlicht erzählt, jeder Gedanke kommt an der rechten Stelle, jedes Wort sitzt. Eine glücklich geglückte Geschichte.


    Das Datum und ein am Ende abgedruckter Brief von Christa Wolf an ihren Mann Gerhard zeigen, daß die Geschichte ein Geburtstagsgeschenk war. Der Brief ist wunderschön, aber so privat, daß es fast unangenehm ist, ihn zu lesen. Er gehört jedoch zu Augusts Geschichte, rundet sie auf seine Art ab. Diese Vorstellung von Glück besteht nicht nur auf dem Papier, erfunden für erfundene Figuren, dieses Glück, das Wolf August spüren läßt, ist Realität.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Ich weiß noch genau, wo ich gerade war und was ich gemacht habe, als im Radio die Nachricht kam, dass Christa Wolf gestorben ist.


    Dies ist Christa Wolfs letzte Erzählung, 2011 als Geschenk für ihren Mann Gerhard Wolf entstanden, ihr handschriftlicher Brief an ihn ist im Anhang abgedruckt. Die Erzählung wurde 2012 postum veröffentlicht.
    Erzählt werden Kindheitserinnerungen an Flucht und Nachkriegszeit des damals achtjährigen August, diese Erinnerungen verbinden sich mit anderen Lebenserinnerungen und mit der Gegenwart. Der Erzählton ist unaufgeregt, unspektakulär, ruhig und gerade in seiner Einfachheit berührend.


    „August bleibt gelassen. Er wird niemals ungeduldig. Du hast eine Engelsgeduld, hatte Trude öfter zu ihm gesagt. Er gerät niemals außer sich. Seine Kollegen wissen das zu schätzen. Manchmal halten sie ihn wohl für ein bisschen langweilig. Sag du doch auch mal was, haben sie ihn anfangs angestoßen, wenn sie in der Pause zusammensaßen. Aber was sollte er sagen.“ (S. 20)


    Ein leiser, freundlicher Gruß zum Abschied von einer großen Autorin, die viel zu sagen hatte.


    8 Punkte


    Den Beginn der Erzählung gibt es als Leseprobe auf der Seite des Suhrkamp Verlages. <klick>

  • Eine Geschichte vom Alltag im Ausnahmezustand, in einem provisorisch eingerichteten Krankenhaus für Lungenkranke kurz nach dem Krieg.
    Es geht um Leben, Tod, Glück, Trauer, Verzweiflung, Lebensfreude, Stärke, Einsamkeit. Alles auf engstem Raum.
    Absolut lesenswert!

  • Wunderbar geschrieben. Jedes Wort, jeder Satz sitzt. Ich wollte nicht, dass diese Geschichte nach nur 38 Seiten aufhört - und doch wäre kein weiteres Wort notwendig gewesen.


    Es ist ein leiser, ruhiger Text, genau wie das Leben des Protagonisten. Christa Wolf lässt August die Momente des Glücks in seinem Leben mit dieser Erzählung wieder erleben. Sie erzählt sowohl von seiner Kindheit in der Nachkriegszeit als auch parallel von seinem jetzigen Leben kurz vor der Rente am Beispiel eines Arbeitstages als Reisebusfahrer. Er führt ein einfaches Leben, das keine schlagzeilenwürdige Moment des Glücks braucht. Es sind Momente des kleinen Glückes, Alltagsglück.


    Sie stehen vor einem Leben, das auch viel Leid gesehen hat, doch August lässt sich nicht allein dadurch definieren. Ja, die Jahre im Kinderheim waren schlimm, sie werden erwähnt und sicherlich niemals vergessen, doch weder August noch Christa Wolf wollen sie breit reden. Er hat Menschen verloren, doch er hat eben auch Wärme von ihm Nahestehenden erfahren dürfen.


    Augusts Erinnerungen in Christa Wolfs Worten rufen auch viele meiner Erinnerungen wach. "Kartoffel stoppeln", das hab auch ich als Kind gemacht, aber seitdem niemanden mehr drüber reden hören. Auch meine Mutter hatte TB als Kind der Nachkriegszeit und ich erinnere mich an ihre Erzählungen.


    Mit "August" hat Christa Wolf eine kleine Geschichte geschaffen, die sehr berührt und den Leser lange beschäftigen wird.

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich

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