Ich denke es kommt auf die jeweilige Lebenssituation an ob Lesen zum Eskapismus werden kann. Es gibt Bücher die dafür sorgen, dass man sich in der einen oder anderen Situation aus der Lebensrealität - für die Dauer des Buches - verabschieden kann.
Ist Lesen Eskapismus?
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Wow, ich freue mich über die vielen Antworten!
Der Tenor scheint, dass Lesen als positives Abtauchen aus dem Alltag empfunden wird.Die Verknüpfung von Eskapismus mit der Art der gewählten Lektüre hat jedoch noch niemand angesprochen.
Sind nicht manche Genres besonders gut dafür geeignet, der Wirklichkeit zu entfliehen? Zum Beispiel Liebesromane oder Fantasy?
Oder hat es vielmehr mit dem Lesenden selbst zu tun, wie tief er bereit ist, abzutauchen?Im Grunde kann man die Frage des Eskapismus natürlich auch auf Autoren ausweiten. (wie Fay angesprochen hat)
Allerdings sehe ich auch hier eine Wechselwirkung mit der Art des zu schreibenden Buches. Wenn ein Autor über eine Vergewaltigung schreibt, sehe ich es eigentlich nicht als Realitätsflucht, ganz im Gegenteil. Die intensive Beschäftigung mit der Materie ist kein Abtauchen, sondern vielmehr ein Eintauchen in eine ganz bittere Realität. Das sehe ich nicht als Flucht, sondern als Konfrontation.Wie gesagt, ich würde gerne den Zusammenhang von Eskapismus mit der Art der Lektüre ausloten.
Oder ist es auch eine Art Flucht, in ernste, erschütternde Themen abzutauchen, um mit dem Gefühl der Erleichterung in die eigene, geregelte Welt wieder zurückkehren zu können?
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Eskapismus klingt für mich negativ, als würde ein Küchenpsychologe darüber befinden, wo die Grenze zwischen normal und krankhaft verläuft. Als Kind, das bei den Hausaufgaben meist einen Karl-May-Band unter den Schulbüchern versteckt hatte, war Lesen bei mir vermutlich Neugier, später habe ich es oft als Privileg empfunden (es zu können und zu dürfen), aber auch als Verpflichtung (das gesamte Werk eines Autors zu lesen, den ich mag) - oder als Nahrung. Nichts ist mit dem Gefühl vergleichbar, wenn ein kleines Kind selbstständig genug ist, um öfter allein zu spielen, so dass die Mutter sich - endlich - wieder geistige Nahrung gönnen kann, die kein Kinderbuch ist.
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Original von Frettchen
In der Psychologie gilt das übrigens als "Fähigkeit" und nicht als "krank", wenn man in der Lage ist, mittels Büchern oder auch Filmen oder sonstwas einfach mal alles um sich herum zu vergessen.
Absolute Zustimmung von mir!Ich hatte mit dem Begriff Eskapismus schon immer erhebliche Probleme, denn er offenbart für mich eine eingeschränkte und einschränkende Verwendung des Begriffs Realität.
Ist jemand, der den Raum verlässt, in dem er sich den größten Teil des Tages aufhält, um in einen anderen zu gehen, ein Flüchtender? Doch nur aus der Sicht eines Gefängniswärters.
In der Regel wird es doch so sein, dass wir, unbewusst oder instinktgeleitet, uns als Freizeitaktivität das aussuchen, was ergänzt, einen heilsamen Kontrast schafft, ungestillte Bedürfnisse befriedigt. Ein Zuviel (und wer wollte das festlegen?) bedeutet doch nur, dass es in einem anderen Bereich ein Defizit gibt, das möglicherweise auch anders derzeit nicht ausgleichbar ist.
Ich bin ein großer Feind davon, Menschen auch noch in ihrer Freizeit, in ihrer freien Zeit, vorschreiben zu wollen, was wertvoll und was wertlos ist. Weiß ich, was sie brauchen? -
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Original von Katerina
(...) Ist jemand, der den Raum verlässt, in dem er sich den größten Teil des Tages aufhält, um in einen anderen zu gehen, ein Flüchtender? Doch nur aus der Sicht eines Gefängniswärters.
In der Regel wird es doch so sein, dass wir, unbewusst oder instinktgeleitet, uns als Freizeitaktivität das aussuchen, was ergänzt, einen heilsamen Kontrast schafft, ungestillte Bedürfnisse befriedigt. (...)Genau das hatte ich gemeint und weiterhin sogar unterstellt, dass derjenige, der einen gewohnten Raum verlässt, um einen anderen zu erkunden, wahrscheinlich mit neuen Ideen, vielleicht gar Erkenntnissen, sicher aber mit einem Gewinn für seine Gefühlswelt in seinen Raum zurückkehren wird. Insofern also ist Lesen nur dann Eskapismus, wenn man den Begriff nicht automatisch negativ besetzt.
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Ich habe das Lesen wirklich schon 1-2 Mal bewusst dazu genutzt der Realität zu entfliehen. Ich habe 1 x bei schrecklichem Liebeskummer jede freie Minute, die ganze Nacht hindurch bis ich nicht mehr konnte gelesen, nur beim Arbeiten nicht----
nur um nicht an den Schmerz zu denken. Das ging 3 Wochen so....
Ich habe da alle dicken Bücher, die ich in die Hand bekam gelesen. In Rekordzeit.Das war wirklich eine Flucht.
Genauso war es einmal in Trauerstimmung, als ich darüber nicht nachdenken wollte.
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Alles, womit man seine Gedanken freiwillig (also nicht für Schule, Ausbildung etc. Lernen, berufliche Fachbücher wälzen) und ohne Bezug zur gegenwärtigen Situation befasst, ist für mich Eskapismus bzw. der Wunsch nach Unterhaltung, Träumen usw.
Warum sollte man sich sonst den Kopf mit etwas vollstopfen, wenn nicht aus dem Wunsch heraus, zumindest in der Vorstellung an einem anderen Ort, einer anderen Zeit oder in einer anderen Haut zu sein.
Genausogut könnte man doch stundenlange Spaziergänge, Shoppingtouren etc. unternehmen.Das Lesen stillt eine Sehnsucht nach mehr Spannung, Drama, Abenteuer, Romantik etc. im Leben auf die einfachste, schnellste und kostengünstigste Weise: Kopfkino.
Lesen betrachte ich daher immer auch als eine Art Flucht, und zwar nicht im negativen Sinne, und zugleich als eine Suche nach einer besseren Stimulanz für die eigene Wahrnehmung als das Hier und Jetzt.
Ein bisschen Suchtverhalten dürfte damit wohl auch einhergehen.
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Alice Thierry
Das hast Du wirklich wunderschön formuilert, genauso empfinde ich das auch.
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Zitat
Original von Fay
Als negativ habe ich die Realitätsflucht durch aus schon einmal empfunden. Als ich jeden Tag ein Buch verschlungen habe, hatte das erhebliche Auswirkunken auf meinen Geldbeutel, weshalb bin ich dann mit dem Schreiben angefangen bin.Also die einzige Zeit, wo ich in der Lage war jeden Tag ein Buch zu verschlingen und das auch getan hab, da war ich ein Pre-Teen/Teenager und hatte 0 Geld zur Verfuegung. Die Lesesucht hatte 0 Auswirkung auf meinen Geldbeutel. Oder vielleicht doch in dem Sinne, dass ich statt zum shoppen zu gehen zu Haus blieb und gelesen hab ...
Hab erst viele Jahre spaeter angefangen Buecher zu kaufen.
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Zitat
Original von Alice Thierry
Das Lesen stillt eine Sehnsucht nach mehr Spannung, Drama, Abenteuer, Romantik etc. im Leben auf die einfachste, schnellste und kostengünstigste Weise: Kopfkino.Lesen betrachte ich daher immer auch als eine Art Flucht, und zwar nicht im negativen Sinne, und zugleich als eine Suche nach einer besseren Stimulanz für die eigene Wahrnehmung als das Hier und Jetzt.
Toll, Alice, du hast in Worte gekleidet, was mir ungeordnet im Kopf herumgerollt ist.
Ich war erstaunt, dass das Wort Eskapismus bei vielen hier derart negativ besetzt ist. Für mich hat es diesen unguten Beigeschmack nicht.
Ich denke nämlich, dass es für einen Autor kein größeres Kompliment gibt, als wenn der Leser komplett im Buch abtauchen kann, alles rings um sich herum vergisst, weil er völlig in der Geschichte aufgeht.
Eine zeitweilige Flucht aus der Realität betrachte ich in keinster Weise als bedenklich. Erst recht nicht, wenn man es mittels Lesen schafft. Denn im Gegensatz zum Fernsehschauen betäubt das Lesen den Geist nicht, sondern animiert ihn zur Tätigkeit.
Vielen Dank für eure Eindrücke. Ich habe sie mit großem Interesse gelesen und freue mich auf weitere!
Lg, Rosha
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Ich finde es auch weder bedenklich noch bedauernswert, wenn man gedanklich mit Hilfe eines Buchs "abtaucht". Ich denke, man braucht diese "Fluchten", weil sie die Fantasie anregen und eben Spaß machen.
Es ist ja nicht so, als ob man komplett in einer Traumwelt lebt, fern jeder Realitätswahrnehmung.
Der Begriff "Eskapismus" schafft wahrscheinlich diese Assoziation, weil es nach etwasPathologischem klingt. -
Für mich bedeutet Eskapismus Unterhaltung ohne Nachhall, ohne besonderen Erkenntnis- oder Informationsgewinn, den ich dann nach der "Flucht" verwenden könnte, um die reale Welt besser zu verstehen. Das ist erst einmal nicht negativ gemeint. Die Qualität eines Buches misst sich für mich nach der Absicht des Autors (will ein Autor ausschließlich unterhalten und wenn es genau das 100% tut, dann ist es ein sehr gutes Buch).
Negativ wird dieser Begriff für mich vor allem dann, wenn er pauschal auf ein Genre angewandt wird, z.B. Science Fiction, obwohl es unzählige Geschichten dieses Genres gibt, die alles andere als Grundlagen für puren Eskapismus sind.
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Zitat
Original von Beatrix
Also die einzige Zeit, wo ich in der Lage war jeden Tag ein Buch zu verschlingen und das auch getan hab, da war ich ein Pre-Teen/Teenager und hatte 0 Geld zur Verfuegung. Die Lesesucht hatte 0 Auswirkung auf meinen Geldbeutel. Oder vielleicht doch in dem Sinne, dass ich statt zum shoppen zu gehen zu Haus blieb und gelesen hab ...
Hab erst viele Jahre spaeter angefangen Buecher zu kaufen.
Ich mag einfach Bücherhallen nicht. Wenn ich nicht weiß wer das Buch in der Hand hatte, mag ich es nicht anpacken.
Gruß
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Zitat
Original von Fay
Ich mag einfach Bücherhallen nicht. Wenn ich nicht weiß wer das Buch in der Hand hatte, mag ich es nicht anpacken.
Gruß
Och, ich kann Dir die Filialen nennen, in denen sie ganz gut erhalten und vor allem neue Bücher haben.
Da schlag ich dann ja immer zuWenn die gammelig aussehen oder fleckig sind, laß ich sie auch stehen
Es gibt immer in den meisten Bücherhallen so nette Sonderständer, in denen die Neuerscheinungen sind. Da haben das dann noch kaum, oft gar keine anderen gelesen.
Da renn ich immer zuerst hin -
Lesung ist Eskapismus, Bildung, Entspannung und Aufregung.
Für mich ist Lesen geistige Nahrung, auch wenn es doof klingt.
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Realitätsflucht? - Nein.
Realitätspause. - Ja.So sehe ich das.
Dazu kommt der therapierender Begleitumstand des Lesens, vor allem in der Unterhaltungsliteratur. Da spricht jedes Motiv (idR unbewusst) gewisse Ängste und/ oder Sehnsüchte an, und hilft damit dem Leser, sich damit auseinanderzusetzen, was der Psyche gut tut.
Als Beispiel: Der Liebesroman in dem sich eine unscheinbare Person in eine schier unglaublich tolle, unerreichbare zweite Figur verliebt (und beide sich kriegen).
Das ist das Motiv einer unerfüllten großen Liebe (wer kennt die nicht?) und das Durchfantasieren dieser kann helfen, eine solche in der Realität besser zu verkraften.Von Realitätsflucht kann man da nicht sprechen - es ist eher ein Verarbeiten der Realität; besonders intensiv, weil man es nicht bewusst tut und die Vorgänge damit viel tiefer in den Geist eindringen lässt.
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Zitat
Original von Rosha: Ich lese durchaus um andere Welten kennenzulernen und ja, es tut auch gut, der eigenen, wohlvertrauten und dadurch manchmal langweiligen Welt temporär den Rücken zu kehren. Aber ist das dann auch abhängig vom Buch? Kann man von Eskapismus sprechen, wenn man ein Buch über einen Krieg liest? Oder ist das vielmehr ein tieferes Eintauchen in eine Realtität, die man sonst nicht erfahren würde?
Einfache Fragen erfordern umständliche Antworten ;-).
Hättest Du diese Fragen vor einem Jahr gestellt, wären meine Antworten mit einer Gegenfrage ausgefallen, die sich danach erkundigt hätte, welche Bücher es noch vermögen, mich völlig abtauchen zu lassen?
Das Jahr 2012 ist bislang nicht mein bestes Jahr gewesen, nur die Literatur hat es in den letzten elf Monaten geschafft, an das letzte Jahr nicht als vergeudete Zeit zu denken.
Es wird mittlerweile zu viel geschrieben; jeder darf schreiben und beinahe alles wird veröffentlicht. Zwangsläufige Folge ist, dass es immer schwieriger wird, die Perlen zu finden, die ein völliges Abtauchen ermöglichen.
Selbst unter den Glücksgriffen finden sich nur wenige Stoffe, die mich tatsächlich in eine andere Welt entführen, mich mit Protagonisten verbunden fühlen lassen und länger im Kopf bleiben.
Die Literatur sehe ich weniger als Eskapismus (übrigens was für ein Wortmonster) denn als Offenbarung, Chance, Selbstverwirklichung für Schreibende etc. an, etwas ausleben zu dürfen, was das eigene (dürftige) Leben einem nicht bietet. Ob diese Tatsache Eskapismus, Realitätspause oder -flucht genannt wird, ist für mich unerheblich, denn ich benötige hierfür weder ein Wort noch eine psychologische Kategorisierung solange ich keiner anderen Person schade. -
Edit: Doppelbeitrag.
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Zitat
Original von Mulle
Von Realitätsflucht kann man da nicht sprechen - es ist eher ein Verarbeiten der Realität; besonders intensiv, weil man es nicht bewusst tut und die Vorgänge damit viel tiefer in den Geist eindringen lässt.