Nadine Gordimer: Keine Zeit wie diese
Berlin Verlag 2012. 512 Seiten
ISBN-13: 978-3827011039. 22,99€
Originaltitel: No Time like the Present
Übersetzerin: Barbara Schaden
Verlagstext
Fast zwanzig Jahre nach Ende der Apartheid blickt Nadine Gordimer auf Möglichkeiten und vergebene Chancen, auf Errungenschaften und Stagnation der neuen Ära. Tief taucht sie ein in das Leben eines Paares, das, gerade noch als illegal geächtet, nun gefordert ist, das Land und ihr Leben neu zu gestalten. Keine Zeit wie diese. Aus Revolutionären sind Bürger geworden. Jabulile und Steve, die sich im Untergrund kennenlernten, im Kampf gegen das Regime, das ihnen die Ehe und ein Leben miteinander verbot, stehen nun alle Wege offen. Von Glengrove Place, dem Ort, an dem sie geduldet wurden, ziehen sie in ein kleines Haus mit Garten, in eine Siedlung, in der sich die Genossen von einst sammeln. Der Vorort der Freiheit. Steve nimmt einen Job an der Uni an, Jabulile studiert Jura. Am Leben dieser beiden entfaltet sich ein Bild des neuen Südafrika, wie es eindringlicher nicht sein könnte. Nadine Gordimer hat sich nie als politische Autorin gesehen, doch mit "Keine Zeit wie diese" hat sie einen großen politischen Roman geschrieben. Korruption, disparate Besitzverhältnisse, Studentenproteste, eine sich immer weiter öffnende Kluft zwischen Arm und Reich - die Nobelpreisträgerin benennt mit poetischer Präzision die ungelösten Probleme ihres Landes. Doch dagegen setzt sie das zärtliche Einverständnis zweier Menschen, deren Vertrauen ineinander und in die Zukunft ihres Landes nicht zu erschüttern ist. Unsentimental, ohne falsches Pathos ist dieser Roman, dessen emotionaler Kraft man sich gleichwohl nicht wird entziehen können.
Die Autorin
Nadine Gordimer wurde am 20. Nov. 1923 in Springs/Transvaal bei Johannesburg als Tochter jüdischer Eltern geboren. Die Mutter stammte aus England, der Vater aus Litauen. Schon während der Schulzeit unternahm sie mit Kindergeschichte die ersten schriftstellerischen Versuche. Mit 15 wurde ihre erste Erzählung publiziert. Nach dem Studium der Geisteswissenschaften widmete sie sich ganz dem Schreiben. 1949 erschien ein erster Band mit Kurzgeschichten, 1953 folgte ihr, noch stark autobiographisch geprägter Debütroman The Lying Days (dt. Entzauberung). Seit ihrer Kindheit mit der Realität der Apartheidspolitik konfroniert, beschreibt sie in ihren Büchern immer wieder schwarze und weiße Opfer des Rassismus. Ihr politisches Engagement für die Gleichberechtigung der schwarzen Bevölkerung machte sie bald zur persona non grata in Südafrika. Dennoch beruht ihre Wirkung nicht auf agitatorischer Polemik, sondern auf einer seismographischen Sensibilität. Sie wird gerühmt als eine Meisterin der leisen Töne und »Schriftstellerin der Nuance« (François Bondy). Gordimer erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter 1974 den begehrten englischen Booker Prize für »The Conservationist« (dt. »Der Besitzer«) und 1985 den Nelly-Sachs-Preis der Stadt Darmstadt. 1991 erhielt sie als siebte Frau den Nobelpreis für Literatur.
Obwohl die Frage nach der Zukunft des kolonisierten Afrika und das Engagement gegen den Rassismus, oder die Frage nach dem Platz der »weißen Afrikaner« in Südafrika nach einem Sieg der schwarzen Mehrheit, die Gordimer in Essays und Romanen immer wieder stellt, ihrer Literatur einen unverwechselbaren Stempel aufdrücken, begreift sich die Südafrikanerin nicht in erster Linie als politische Autorin. Als der ANC, dessen Mitglied Gordimer seit 1990 ist, sie als Kandidatin für die ersten freien und demokratischen Wahlen aufstellen wollte, lehnte sie mit der Begründung ab, sie sei Künstlerin nicht Politikerin. Über sich selbst sagt sie, »Ich bin ein unpolitischer Mensch in einer Situation, in der man politisch sein muss, um Wirkung zu haben.« »Ich habe nichts anzubieten als mein schriftstellerisches Talent.« Dieses Talent erlaubt ihr, der Welt verständlich zu machen, »inwieweit die Apartheid das Leben ganz normaler Leute durcheinander gebracht hat«. Auch als »unpolitischer Mensch« nimmt Gordimer in zahllosen Organisationen aktiv an den Veränderung in ihrem Land teil und gestaltet auf ihre Weise, mit einer unbestechlichen Beobachtungsgabe und ihrer Aufmerksamkeit für die Psychologie des Individuums in bestimmten, sozialen und politischen Situationen, das neue Südafrika.
Die Übersetzerin
Barbara Schaden arbeitete nach dem Studium der Romanistik und Turkologie als Verlagslektorin und ist heute Übersetzerin, u. a. von Patricia Duncker, Jean-Claude Guillebaud, Maurizio Maggiani und Karen Armstrong.
Inhalt
Steve und Jabulile sind ein junges Akademikerpaar aus Johannesburg. Als Sohn einer jüdischen Mutter und eines nichtreligiösen Vaters stellt Steve eine Art kulturellen Mischling dar. Jabus Vater dagegen ist als Schulrektor und Gemeindeältester einer Methodistengemeine in der Provinz Kwa Zulu fest in seiner Gemeinde verankert. Jabu ging mit 17 ans Lehrerseminar in Swaziland, die winzige Enklave grenzt an Kwa Zulu. Inzwischen hat sie zusätzlich ein Jurastudium abgeschlossen und ist Mutter einer kleinen Tochter, Sendiswa. "Baba", Jabus Vater, hat seine kluge Tochter bewusst und zu Lasten ihrer Brüder gefördert. Seit den Zeiten des Anti-Apartheids-Kampfes sieht das Paar sich als ehemalige Kampfgenossen. Beide sind sich stets bewusst, dass Jabus berufliche Position und eine Ehe zwischen Schwarz und Weiß in der jungen Demokratie Pioniertaten sind. Die Alltagssorgen der jungen Familie unterscheiden sich kaum von denen junger Eltern in anderen Ländern. Wie lässt sich der Beruf (der Mutter!) mit der Kinderbetreuung vereinbaren, wie viel Einmischung der Großeltern in die Beziehung wollen die beiden zulassen, wer will eigentlich ein zweites Kind, Steve, Jabu oder die Großfamilie in Kwa Zulu? Durch ihren Umzug in eine neue Nachbarschaft werden Steve und Jabu mit dem Strom von Flüchtlingen aus Zimbabwe und dem Kongo konfrontiert, die unter unmenschlichen Bedingungen hausen und Arbeit suchen. Die Zuwanderung hat zu offener Fremdenfeindlichkeit von Schwarzen gegenüber Schwarzen geführt, der die südafrikanische Regierung hilflos gegenübersteht.
Die Beziehung zwischen Steve und Jabu spiegelt im Kleinen die aktuellen Probleme Südafrikas. Steve, der von seiner eigenen Kultur wenig zu vermitteln hat, erlebt sich am Familientisch in der Minderheit, wenn Mutter und Tochter Zulu miteinander sprechen. Steve versteht kein Zulu. Obwohl die Ehe des Mittelschichtpaars im Laufe der Handlung an die 20 Jahre dauert, zeigt er kaum Interesse an der Kultur seiner Frau. Ein Sohn wird geboren, der als Grundschüler Verhaltensauffälligkeiten zeigt. Jabu wendet sich um Rat an ihren Vater und findet Hilfe in seiner entschiedenen Ansicht, dass Kinder nicht allein geliebt werden sollen, sondern Pflichten brauchen. Gary verbringt zukünftig die Schulferien im großväterlichen Clan und entwickelt sich in einer großen Gruppe von Cousins sehr positiv. Wie wird Steve wohl reagieren, wenn wegen seiner Unentschlossenheit in Erziehungsfragen zukünftig die Werte des Großvaters in seiner Familie dominieren werden? Unterbrochen von einer Reise Steves zu einer Tagung in England mit anschließendem klischeehaften Seitensprung sehen sich die Reeds den Sorgen der weißen Mittelschicht um die Schulkarriere ihrer Kinder gegenüber. Beruflich wird Jabu mit der in Südafrika alltäglichen Gewalt gegen Frauen konfrontiert; auch der Prozess gegen Jacob Zuma (2005) bewegt sie. Jabu muss sich eingestehen, dass die Werte der ehemaligen Freiheitskämpfer des ANC und der Generation ihres Vaters im Kampf gegen Aberglauben und Gewalt offensichtlich untauglich sind. Der Auseinandersetzung mit ihrem Vater, der sich im Lauf der Handlung nicht verändert und stramm zu Zuma steht, weicht Jabu aus.
Für die Leser überraschend wird die Auswanderung nach Australien geplant. Die Ehepartner sind gezwungen, sich realistisch mit ihren Berufsaussichten und neuen Anforderungen auseinanderzusetzen. Der zeitliche Ablauf der Ereignisse ist nicht einfach nachvollziehbar, allein aus dem Alter der Kinder können einige Szenen eingeordnet werden. Nadine Gordimer unterhält ihre Leser einerseits duch die bissige Ironie, mit der sie die Nachkommen der ehemaligen Kolonialmächte schildert, andererseits irritiert ihr erhobener pädagogischer Zeigefinger. Wer bis zum Schluss des Buches durchhält, erfährt zum Ende, was man gern früher gewusst hätte, um die plötzlichen Auswanderungspläne der Reeds zu verstehen.
Fazit
Nadine Gordimer hat mit "Keine Zeit wie diese" einen aktuellen politischen Roman vorlegen wollen. Sie spricht die drängenden Probleme im Bildungs- und Gesundheitssystem Südafrikas und dem daraus folgenden Exodus der qualifizierten Mittelschicht auch sehr deutlich an. Um Leser weltweit zu erreichen und nicht nur die, die mit den Verhältnissen im Land vertraut sind, hätten die Ereignisse in der Familie Reed und Südafrikas aktuelle Probleme jedoch etwas gefälliger miteinander verknüpft sein dürfen.
8 von 10 Punkten