Keto von Waberer: Mingus
dtv 2012. 300 Seiten
ISBN-13: 978-3423249379. 14,90€
Vom Verlag empfohlen ab 14 Jahre
Verlagstext
Für die einen ist dieses Wesen ein Wunder, für die anderen der neue Messias oder eine mörderische Waffe: Mingus. Alle wollen ihn haben. Er ist aus den Wäldern gekommen und ahnte nichts von seiner Einzigartigkeit. Ein Mädchen war bei ihm, Nin, vor Jahren entführt aus der Stadt. Alle denken, er hätte sie geraubt. Niemand glaubt Nin, als sie beteuert, dass Mingus ihr Retter sei. Alle suchen ihn. Doch Mingus findet immer wieder Unterstützer, die ihn vor allem für ihre Ziele einzuspannen versuchen. Dabei will er nur eins: Nin finden und mit ihr dorthin zurückkehren, wo sie beide glücklich waren. Für Nin ist es unerträglich, nicht zu wissen, ob Mingus noch lebt. Er muss leben, sie würde doch spüren, wenn der Liebe ihres Lebens etwas Schreckliches zugestoßen wäre. Und so macht sie sich auf die Suche...
Die Autorin
Keto von Waberer, geboren in Augsburg, studierte Architektur in München und Mexiko. Neben ihrer schriftstellerischen Arbeit, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde, u.a. mit dem Literaturpreis der Stadt München 2011, ist sie auch als Übersetzerin aus dem Spanischen und Englischen hervorgetreten. Außerdem lehrt sie seit 1998 Creative Writing an der Hochschule für Film und Fernsehen in München.
Inhalt
Mingus ist eine sehr gut aussehende Chimäre, eine Kreuzung zwischen Mensch und Tier. Sein Schöpfer, den Mingus "Papa" nennt, hat dieses im Labor entstandene Wesen trainiert und lange vor der Welt verborgen. Nun ist Papa tot und Mingus ist auf das angewiesen, was er in seiner abgeschlossenen Welt lernen durfte. Mingus Schöpfer Leo wollte nicht, dass sein Schützling lesen und schreiben lernt. Mingus kann nur das wissen, was ihm "Papa" beigebracht hat und deshalb müssen wir uns als Leser mit dem zufrieden geben, was Mingus aus seiner eingeschränkten Sicht wahrnehmen kann. Dinge, die Menschen herstellen und benutzen, kann Mingus sehr anschaulich aus seiner Mensch-Tier-Perspektive beschreiben, bei abstrakten Begriffen wird das schon schwieriger. Mingus lebt in einer dystopischen Welt, in der ein ganzer Kontinent unbewohnbar ist und Tiere ausgestorben sind. Es gibt zwar noch Ratten und ein paar verwilderte Schweine, die Menschen trauen sich jedoch nicht mehr, Fleisch zu essen.
Zum Glück für Mingus gerät er auf seinem Weg in bewohnte Zonen an Tara, eine betagte Frau, die in einem früheren Leben einmal eine fähige Chemikerin war. Tara sollte eigentlich, wie alle Frauen, in einer staatlich geduldeten Sekte leben, doch sie hat sich in ein Leben als Vogelfreie in der Illegalität abgesetzt. Die anderen Frauen verbringen ihr Leben in der Sekte der Goyanerinnen hauptsächlich mit dem Versuch, mit ein paar zu diesem Zweck gefangen gehaltenen Männern Nachwuchs zu zeugen. Da ihre Versuche selten erfolgreich waren, werden die Menschen demnächst aussterben. Taras Leben ist so sterbenslangweilig, dass es ihr völlig egal ist, ob das schnarchende Wesen sie töten wird, das ihr in die Ruine geschneit ist - Hauptsache ein Lebewesen! Mit der Erkenntnis, dass Tara von Heuschrecken und ein paar Speisepilzen aus eigenem Anbau lebt und Mingus als Fleischfresser kaum satt zu kriegen ist, ahnt man bereits, welch tragikomische Szenen in dieser dystopischen Geschichte noch bevorstehen. Eine der insgesamt 7 Erzählerstimmen gehört Nin, weit und breit der einzigen Jugendlichen in Mingus Welt. Nin hat ein traumatisches Erlebnis hinter sich, über das sie sich mit einer Zuhörerin unterhalten soll, die ihre genetisch optimierten Oberschicht-Eltern für sie bestellt haben. Um Nin vor der feindlichen Umwelt zu schützen, wurde die Haustechnik abgestellt und Nins Roboterhund zerlegt und versteckt. Gonzo, das Robotier, wird eine für die Handlung entscheidende Rolle spielen. Das Viech reagiert sehr ironisch. Für diese Programmierleistung muss man Nin Bewunderung zollen - künstliche Intelligenz mit Sinn für Ironie würde ich auch gern programmieren können.
Mingus gerät durch seine Flucht aus der Wüste zwischen alle Fronten. Tara ist ihm wohlgesonnen, will ihn beschützen und kann sich ihm erstaunlich gut verständlich machen. Die lüsternen Goyanerinnen wollen Mingus (ist ja klar, wofür), der Herrscher und die letzten betagten Wissenschaftler wollen Mingus und die Aufzeichnungen seines Schöpfers Leo. Wer über die Technologie des Züchtens von Mutanten verfügt, wird zukünftig die verbleibenden Menschen regieren. Mit Ausnahme von Tara und Nin wollen die konkurrierenden Grüppchen Mingus für ihre Zwecke instrumentalisieren - es kommt zum Aufruhr.
Fazit
Dystopien sind häufig einfach gestrickt, um sprachlich und inhaltlich mühelos konsumiert werden zu können. Leser erwarten das inziwschen. Eine verwüstete Welt nach dem Ende unserer Zivilisation dient als Kulisse, vor der die Figuren um ihr umittelbares Überleben kämpfen und sich auch ineinander verlieben dürfen, da sich die Bücher an eine Lesergruppe ab 14 richten. Die Hauptfiguren empfinden so wie ihre jugendlichen Leser, so dass man sich nicht groß anstrengen muss, um sich in sie hineinzuversetzen. Zu interessanten Fagestellungen, wie genau die Menschen in lebensfeindlicher Umgebung existieren und sich fortpflanzen, kommt es in dystopischen Stoffen nur selten. In einem überlaufenen Genre etwas Neues zu wagen, finde ich deshalb sehr mutig von Keto von Waberer.
Mingus, der als erster Icherzähler auftritt, kann nur das ausdrücken, was ihm bewusst ist. Als Leser ist man sich dieses eingeschränkten Blickes von Anfang an bewusst und muss sich aus den Berichten aller Beteiligten die Informationen zusammensuchen. Leider hat Mingus als entscheidender Charakter mich am wenigstens überzeugt, weil er zu stark mit der Stimme der Autorin spricht und nicht konsequent als eigenes, für den Roman erdachtes Wesen. Aus den verschiedensten Gründen haben auch die anderen Figuren ihren persönlichen Tunnelblick, z. B. weil sie Sektenmitglieder sind, in einem totalitären Staat leben oder von jemanden beschützt werden wie Nin. Für die Leser könnte am Ende der Geschichte unbekanntes Terrain zurückbleiben, über das sie nichts erfahren. Mingus Vorgeschichte und die Möglichkeit der Zeugung in der Petrischale ist wichtig für das Verständnis der Handlung, wird jedoch nicht weiter vertieft. Deshalb wirkt die Geschichte auf mich wie das obere Achtel eines Eisbergs - sie verbirgt ihren größeren Teil; beim Lesen muss ich ihn mir erst erarbeiten. Da Keto von Waberers dystopische Welt außer von Nin mit erwachsenen, teils sehr alten, Figuren bevölkert ist, gibt es für Jugendliche wenig Identifikationsmöglichkeiten.
Die Vorgänge bei den Männer verschlingenden Goyanerinnen schildert die Autorin mit sehr viel Witz, allerdings bezweifele ich, dass diese Anspielungen bei Jugendlichen ankommen. Zu erfahren, wer die Figuren sind und welche Verbindungen zwischen ihnen bestehen, fand ich aus der Perspektive des Erwachsenen äußerst spannend. Für eine jugendliche Zielgruppe fehlt dem Buch ein roter Faden; das Handlungstempo scheint sich zum Schluss sogar zu verlangsamen. "Mingus" ragt mit pfiffigen Ideen aus dem Dystopien-Durchnitt hervor. Es wird durch die anspruchsvolle Konstruktion aus sieben Erzählerstimmen leider ein Buch sein, das von erwachsenen Kritikern gelobt oder ausgezeichnet, aber nur von sehr geübten jugendlichen Lesern gelesen wird. Ohne die unglückliche Einstufung als Jugendbuch hätte ich Mingus gern 8 von 10 Sternen gegeben.
6 von 10 Sternen