Sebastian Barry - Mein fernes, fremdes Land

  • Außergewöhnlich feinfühlig erzählt


    Der irische Schriftsteller Sebastian Barry hat bereits mehrere Romane und Theaterstücke geschrieben, von denen einige mit renommierten Literaturpreisen honoriert wurden. So erhielt "Ein verborgenes Leben" im Jahr 2008 den Costa Book of the Year Award und wurde 2009 bei den Irish Book Awards zum Roman des Jahres gewählt. Außerdem stand es auf der Shortlist für den Booker Prize. Andere Werke von Sebastian Barry waren aber bislang nicht in deutscher Übersetzung erhältlich. Das vor Jahren veröffentlichte "Die Zeitläufte des Eneas McNulty" ist leider schon seit längerem vergriffen. Umso erfreulicher, dass mit "Mein fernes, fremdes Land" nun der neueste Roman des Autors bei uns erschienen ist.


    Erzählt wird die Geschichte der Irin Lilly Bere, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts geboren wurde und mit 89 Jahren beschließt, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Zuvor jedoch will sie genau dieses Leben in schriftlicher Form festhalten. In Ich-Form berichtet Lilly, wie sie als junge Frau gemeinsam mit ihrem Verlobten Tadg vor der IRA nach Amerika flüchten musste, was Tadg aber dennoch nicht vor der Rache seiner Verfolger bewahrte. Daraufhin war Lilly zwar auf sich alleine gestellt, verlor aber nie den Mut durchzuhalten. Schließlich fand sie eine Anstellung bei einer reichen Frau in Cleveland, schloss bleibende Freundschaften, verliebte sich wieder und baute sich eine neue Existenz auf. Die Angst vor ihren irischen Verfolgern ließ sie dabei jedoch nie los und hinderte sie daran, sich jemals vorbehaltslos einem anderen Menschen anzuvertrauen.


    Viele geschichtliche Ereignisse von großer Wichtigkeit erschütterten in dem beschriebenen Zeitraum Irland und Amerika. Die 1919 gegründete Irisch-Republikanische Armee (IRA) kämpfte mit allen Mitteln für die völlige Unabhängigkeit Irlands von Großbritannien. Ihre Gegner waren unter anderem die paramilitärischen "Black and Tans", denen auch Tadg angehörte und die ihre Ziele ebenfalls rücksichtslos verfolgten. Sebastian Barry demonstriert sehr schön, wie schwierig es damals gewesen sein muss, in der eigenen Familie und im näheren Umfeld Befürworter beider Parteien gehabt zu haben, was natürlich ein großes Konfliktpotenzial bot. Lillys Erinnerungen machen deutlich, was es heißt, die geliebte Heimat verlassen zu müssen, sie aber trotzdem immer im Herzen zu tragen. Besonders tragisch mutet an, aus welchen Gründen Lilly ins Exil geht, denn eigentlich ist sie nur passive Zuschauerin des damaligen Geschehens.


    In Amerika kam es ein paar Jahre nach dem Ersten Weltkrieg zur Großen Depression, die bis in den Zweiten Weltkrieg hinein andauerte und von der sich etliche Bürger finanziell nicht wieder erholten. Ende der 50er Jahre und in den 60ern gab es dann die schweren Rassenunruhen, die die Bürgerrechtsbewegung auf den Plan riefen und viele Menschenleben forderten. Es folgten der Vietnam-Krieg und einige Zeit danach der Golfkrieg. Auch hierauf geht der Autor anhand von Einzelschicksalen ein, ebenso wie auf die beklagenswerten Lebensumstände der American Natives. Lillys eigenes Dasein wird von diesen Ereignissen immer wieder auf leidvolle und lebensverändernde Weise berührt, was ihr viele Enttäuschungen und Verluste beschert. Von dem letzten kann und mag sie sich dann nicht mehr erholen. Sie ist dabei in ihrem ganzen Verhalten eine Frau ihrer Zeit. Duldsam fügt sie sich in ihr Schicksal, begehrt auch in den schlimmsten Momenten nicht auf und nimmt alles so, wie es kommt. Trotzdem habe ich als Leserin ihre Haltung verstanden und ihre Handlungen nachvollziehen können, denn sie werden plausibel begründet und passen zu Lillys Erziehung und dem damaligen Frauenbild.


    Besonders gut gefallen hat mir persönlich der Schreibstil des Autors. Er bedient sich einer wunderbar poetischen und bildhaften Sprache, die alle Sinne anspricht und nahezu perfekt die Gefühle und Gedanken der mitwirkenden Personen widerspiegelt. Zudem besticht Barrys Erzählkunst durch große Ruhe und Gelassenheit, die in einem faszinierenden Kontrast zu der spannenden Handlung und den überraschenden Wendungen der Geschichte stehen. Der Schreck fährt dem Leser umso heftiger in die Knochen, da er auf ganz leisen Sohlen daherkommt. Ohne Vorankündigung, quasi im Vorübergehen und ohne viele Worte, gleiten einige besonders bedeutsame Augenblicke so schnell vorbei, dass man sich umdrehen und sagen möchte "huch, was war das denn gerade" und dann "oh Gott, diese schreckliche Sache hat der Autor hier aufgriffen". Obwohl die Geschichte durch die Kombination von Themen wie Rassismus, Kriegstrauma, Leben im Exil, Freundesverrat und Tod des Partners sehr traurig und dramatisch wirkt, gelingt es Sebastian Barry auf wundersame Weise, keine niederdrückende oder verbitterte Stimmung entstehen zu lassen. Denn Lilly erlebt auch viele glückliche Tage und schöne Augenblicke, die sie nach bestem Vermögen genießt. Die Einblicke in ihr Leben sind recht intim, doch nie würdelos oder erniedrigend.


    Mich hat der Roman in seiner Authentizität und Einfühlsamkeit tief berührt. Man merkt Sebastian Barry auf jeder Seite die Sympathie für seine Figuren und seine große Liebe zu seiner irischen Heimat an. Gerade die Zartheit und der leise Humor der Erzählung machten für mich ihren besonderen Reiz aus. Das Land Kanaan, auch "Land der Verheißung" genannt, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch (engl. Originaltitel: "On Canaan's Side") und steht immer für die ganz unterschiedlichen Hoffnungen der Menschen auf ein gutes und gerechtes Leben in Amerika. Eine Garantie für die Erfüllung ihrer Erwartungen gibt es aber nicht. Fast scheint es so, als wenn alle positiven und negativen Erfahrungen, die Lilly und alle anderen Personen machen, einer gewissen Zwangsläufigkeit unterliegen und sich einem bewussten Eingreifen entziehen. Was am Ende bleibt, ist die süße Wehmut der Erinnerungen. Und der Eindruck, dass dieser Roman zu Recht 2011 auf der Longlist für den Man Booker Prize stand und 2012 den Walter Scott Prize bekommen hat.


    10 Eulenpunkte!
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