Inge Barth-Grözinger: Geliebte Berthe
Thienemann Verlag 2012. 352 Seiten
ISBN-13: 978-3522201490. 19,95€
Vom Verlag empfohlen ab 13 Jahre
Verlagstext
Unberührt von der tiefen Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich, liebt Berthe die französische Kultur. Bei einem Fest im nahen Straßburg verliebt sie sich Hals über Kopf in Armand. Eine Liebe, die eigentlich unmöglich ist, doch Berthe überwindet die Grenze, zieht ins südfranzösische Villeneuve, heiratet und gründet eine Familie mit Armand. Als Hitler in Paris einmarschiert, brechen sich alte Vorurteile Bahn. Und Berthe wird zunehmend isoliert ...
Die Autorin
Inge Barth-Grözinger, Jahrgang 1950, wurde in Bad Wildbad im Schwarzwald geboren. Seit 25 Jahren unterrichtet sie am Peutinger-Gymnasium in Ellwangen die Fächer Deutsch und Geschichte.
Inhalt
Zur Zeit der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg, als ein einziges Brot eine Einkaufstasche voller Geldscheine kostete, tritt Bertha Merkle in Stuttgart eine Stelle als Hausmädchen an. Rote Haare - hitziges Temperament, so hatte Berthas Vater über seine willensstarke Tochter gespottet. Berthe nennt der verwitwete Professor Fabricius das neue Mädchen, das seinen Junggesellenhaushalt wieder auf Vordermann bringt. Der ehemalige Romanistik-Professor weckt Berthas Interesse für die französische Sprache und das Leben außerhalb des Haushalts. Das Rheinland ist französisch besetzt, der Groll auf "die Franzmänner", die die Versorgungsmängel verschuldet haben sollen, sitzt bei den Deutschen diesseits des Rheins tief. Die Frauen haben den Krieg doppelt und dreifach verloren, sagt man, sie haben die Versehrten und Traumatisierten zu versorgen. Man findet zu Berthas Zeit nicht die richtigen Worte für Männer, die wie ihr Bruder Georg nur körperlich gesund aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt sind. Georg sympathisiert mit den Kommunisten und muss nach Frankreich fliehen. Auf der Suche nach ihrem Bruder, zu dem jahrelang kein persönlicher Kontakt möglich ist, verliebt sich Bertha Hals über Kopf in einen Franzosen. Ihre Liebe auf den ersten Blick steht am Beginn eines schwierigen Lebenswegs zwischen zwei miteinander verfeindeten Nationen. Armand, Berthes große Liebe, übernimmt die Druckerei des Vaters in Villeneuve/Ardèche. Weil der ältere Sohn Pierre im Ersten Welkrieg fiel, lehnt Armands Mutter eine Deutsche als Schwiegertochter ab. Mit ihrer gegen erbitterte Widerstände im Dorf ertrotzten Ehe wagen sich Armand und Berthe wie Pioniere in feindliches Terrain. Als Südfrankreich 1942 von der deutschen Wehrmacht besetzt wird, eskaliert die Situation im Ort. Das Getuschel in Berthes Heimatdorf über ihre roten Haare und ihre Ausgrenzung als "Boche" in Vielleneuve haben die gleichen Wurzeln. Obwohl man Berthe in ihrer neuen französischen Heimat seit langem kennt, verlässt sich kaum jemand auf seine Menschenkenntnis. Im Krieg traut man besser niemandem.
Fazit
Inge Barth-Grözingers fiktive Berthe, zu der die Autorin durch eine Verwandte ihres Mannes angeregt wurde, steht stellvertretend für die ersten Wagemutigen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem für sie vorgesehenen Stand aufstiegen. Berthes Leben war stets erfüllt davon, ihre Dienstherren und später die eigene Familie zu versorgen. Erst kommt die Pflicht und dann die Suche nach den schönen Dingen, war Berthes Leitmotiv. Pflichterfüllung und Sorge für die Familie füllten ihr Leben aus. Politik erlebt Berthe zunächst - unfreiwillig durch ihren Bruder Georg - wie eine Naturgewalt, die Familien zerstört, oder durch das Urteil anderer.
In mehrere Zeitsprüngen folgen wir Berthe ins Elsass, nach Marseille und schließlich in Armands Heimat an die Ardèche. Für den Spannungsbogen eines Jugendromans fand ich die Zeitspanne der Handlung von über 40 Jahren zu lang. In die Details, die Küchen der verschiedenen Häuser, Berthes Beziehungen zu ihren Kollegen und die Atmosphäre unterschiedlicher Regionen lässt Barth-Grözinger ihre Leser so intensiv eintauchen, als wären sie selbst dabei gewesen. Dabei geht die Autorin verschwenderisch mit Adjektiven um. Berthes Urteil über die Menschen, denen sie dient und denen sie begegnet, wirkt für eine Frau, die 1900 geboren wurde, sehr authentisch. Als Nebenfiguren sind der Autorin die Guten wie die Bösen (Stiefmutter, Schwiegermutter, die "Gnädigste" Frau Pfäfflin, Professor Fabricius, Berthes Schwager als fanatischer Nazi) recht stereotyp geraten. Berthes Schicksalsergebenheit, typisch für eine Frau ihrer Generation, hat mich oft wütend gemacht und ich hätte mir gewünscht, dass sie durch ihre Erfahrungen kritischer geworden wäre. So muss erst Berthes Tochter Anne ihre Mutter darauf hinweisen, dass die Rolle der Frauen sich inzwischen verändert hat. Anne braucht keine Aussteuer, weil sie studieren und ihren Haushalt später selbst finanzieren wird. Berthe ist schließlich auch ohne Aussteuer nach Villeneuve gekommen und hat ihre Arbeitskraft in den Familienbetrieb eingebracht.
"Geliebte Berthe" stellt, streckenweise ausschweifend, in einer sehr anrührenden Liebesgeschichte das deutsch-französische Verhältnis bis in die 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts dar. Inge Barth-Grözingers historischer Jugendroman verdeutlicht am Beispiel eines persönlichen Schicksals zusätzlich sehr eindringlich, wie in der Folge des Ersten Weltkriegs der Nationalsozalismus in Deutschland entstehen konnte.
Textauszug
"Madeleine Duchamps [Armands und Berthes Vermieterin] bat ihre Gäste in die Küche, in der sich Bertha gleich wohlfühlte. Sie erinnerte sie ein wenig an die Küche des Professors in Stuttgart und auch an die in ihrem Vaterhaus auf der Alb, mit dem steinernen Ausguss und einem großen, jetzt allerdings noch kalten Holzherd mit Wasserschiff und einem rings umlaufenden Messingrohr, an dem die Küchentücher zum Trocknen hingen. An der anderen Seite stand ein großes, dunkles Holzbüfett, das wohl das gute Geschirr enthielt. In offenen Regalen an der Oberseite waren die Teller aufgestellt, grün und rot bemalt. Schön sah das aus. Das waren wohl Erbstücke der Duchamps, sorgsam gehütet. Ob es in jenem Haus am anderen Ende der Stadt auch ein solches Büfett gab, mit einem solchen Geschirr? Ob sie es jemals sehen dürfte, berühren? Ob es ihr einmal anvertraut werden würde, ihr, der Deutschen, der verhassten boche?" (S. 243)
9 von 10 Punkten