'Schlafes Bruder' - Seiten 092 - 149

  • Das Buch ist ziemlich fatalistisch und zeichnet das Weltbild einer verrohten Gesellschaft. Das zeigt sich immer wieder, z.B. als die Geburt dritten Sohnes der Seffin vor aller Augen erfolgt,
    oder als unter der Führung von Nulf Adler geplündert wird.
    Gibt es doch einmal einen Hoffnungsschimmer wird er sofort wieder zerstört, als z.B. die Bauern im harten Hungerswinter zusammenhalten, dann aber die Helfenden die vom Brand Betroffenen schon im Sommer zu ihren Schuldnern machen.
    Zudem ist die Gesellschaft sehr anfällig für religiöse Hysterie, lässt sich von einem Scharlatan, der als Schauprediger auftritt, beeindrucken.


    Elias wendet sich endgültig innerlich von seiner Familie ab, mit der einen Ausnahme seines Bruders, der das Down-Syndrom hat.


    Es wird 1920 und Elias ist nun erwachsen und sucht die Nähe zu Elsbeth, die als eine der wenigen Figuren anscheinend zu einem vernünftigen Menschen heranwächst, Schneider zeichnet ihren Charakter als angenehm.


    Die musikalischen Passagen sind ebenfalls großartig beschrieben: Elias gelingt endlich die musikalische Entfaltung. Er spielt in der Kirche so hervorragend, dass er die Leute tatsächlich erreicht.



    Auf Seite 96 meiner Ausgabe ist mir ein Satz aufgefallen:
    „Unser Leser, mit dem uns zwischenzeitlich ein Gefühl fremder Vertrautheit verbindet ...“
    Das zeigt wieder einmal die ungewöhnliche Erzählweise. Als Leser ist mir nicht wohl dabei, vom Erzähler eingeschätzt zu werden. Ich empfinde es als dreist, aber wirkungsvoll. Robert Schneider geht weit um sein Buch lebendig zu gestalten.



    Weiter geht es bei mir mit dem Abschnitt "Das Weib im Mondschein".

  • Mir ist ebenfalls aufgefallen, dass es in der Dorfgemeinschaft für niemanden die Hoffnung auf ein besseres Leben zu geben scheint. Keimt irgendwo ein Glücks- oder Zusammengehörigkeitsgefühl auf, wird es durch die Umstände oder missgünstige Personen sofort wieder zerstört.


    Dies gilt für die sehr eigennützige Hilfe der vom Feuer verschont gebliebenen Dorfbewohner ebenso wie für Elias. Für einen kurzen Zeitraum geht er ganz in der Musik auf, komponiert wunderbar, spielt leidenschaftlich die Orgel und erwacht jeden Morgen mit Freudentränen. Doch dieses Glück ist nur von kurzer Dauer. Die Liebe zu und das Werben um Elsbeth "zehren wie eine Krankheit" an ihm und bald wird die Musik mühselig und spendet ihm keinen Trost mehr.


    Das Kapitel "Das Weib im Mondschein" habe ich gerade beendet. Hier wird die Boshaftigkeit und der Egoismus Peters deutlich herausgearbeitet. Mit Hilfe von Elias täuscht und demütigt er Burga. Auf diese Weise will er Elias beweisen, dass Frauen dumm und schwach sind und seine Liebe nicht verdienen. Offenbar hofft er, dass Elias diese vorgebliche Schwäche auch in Elsbeth erkennt und sich von ihr abwendet.
    Doch Elias ist durch den Vorfall sehr verstört. Ihn quält das schlechte Gewissen, Burga tut ihm Leid.
    Seine verzweifelte Liebe zu Elsbeth und die Gewissensqualen wegen Burga verleiden ihm endgültig den Trost und das Schöne in der Musik. Von nun an bevorzugt er Dissonanzen.


    Als erstaunlich emfpand ich Burgas Reaktion auf die Grausamkeit, die ihr die beiden jungen Männer antaten. Sie weiß genau, wer die Übeltäter sind, stellt sie jedoch nicht zur Rede und wirft ihnen nicht einmal böse Blicke zu. Ihre Grundeinstellung ist so positiv (oder wahrhaft christlich), dass sie ihnen offenbar vergibt und weiterhin die kleinen Freuden ihres Lebens genießt. Dies ist sehr ungewöhnlich für eine Bewohnerin dieses Dorfes.

  • Diesen Buchabschnitt empfinde ich als Kernstück der Geschichte. Elias entwickelt sich und seine Fähigkeiten in besonders konzentrierter Form und gerät in einen Kampf um Gut und Böse, der unentschieden bleiben muss.


    Mit seiner Begabung trägt er dazu bei, dass der bisherige Organist stirbt und er selbst dessen Stelle einnehmen kann. Aber er sorgt auch dafür, dass es seiner verhämten Mutter wieder besser geht.


    Eine Widersprüchlichkeit erlebt er auch in der Beziehung zu Peter, dessen Bösartigkeit er ja durchaus erkennt. Trotzdem ist er bereit, mit ihm gemeinsam Burga zu demütigen.


    Vickie, ich kann Dir gut folgen: Elias fühlt sich schuldig, weil er spürt, dass er sich von Peter für den groben Scherz hat missbrauchen lassen. Nun hätte er die Möglichkeit, sich bei der gutmütigen Burga (m.E. eine sympathische, aber auch hilflose Figur) zu entschuldigen. Doch dazu kann er sich nicht überwinden. Offenbar ist seine Bindung zu Peter (d.h. zum Reiz der Macht und des Bösen) doch zu stark. Elias erlebt die Ambivalenz in sich selbst und in der Welt noch einmal besonders intensiv.


    M.E. verliert Elias spätestens in diesem Kapitel seine "seelische Unschuld" und damit auch die musikalische: Sein Spiel wird dissonanter.


    Ich finde, selbst wenn wir nicht schon vom Anfang des Buchs den tragischen Ausgang kennen würden, wüssten wir spätestens jetzt, dass die Geschichte nicht mehr gut enden kann.

  • Die Burga-Szene war wieder wirklich heftig! Eigentlich müsste man inzwischen in diesem Buch daran gewöhnt sein, aber Robert Schneider schafft mich immer wieder.


    Zitat

    Original von Vickie
    Für einen kurzen Zeitraum geht er ganz in der Musik auf, komponiert wunderbar, spielt leidenschaftlich die Orgel und erwacht jeden Morgen mit Freudentränen.


    Das Thema des künstlerischen Schöpfungsprozesses hat mich schon immer interessiert und kann ich auch in diesem Roman etwas abgewinnen.


    Durch reinen Zufall habe ich heute Morgen das Essay „Das Geheimnis des künstlerischen Schaffens“ gehört, enthalten in der Stefan Zweig-Box.
    Zweig stellt da den kreativen Prozess der Schaffung durch purer Inspiration und Leichtigkeit (Mozart) dem der hart erarbeiteten (Beethoven) gegenüber.
    Da habe ich natürlich sofort an Elias denken müssen. Robert Schneider zeigt m.E. nach, wie die Inspiration und der künstlerischer Funke in seinem inneren entstehen und von ihm als wirkungsvolles Output transportiert wird. Dieser Prozess, der so im inneren abläuft, prägt natürlich den Künstler und letztendlich wird Elias vor allen dadurch zum Außenseiter und Verlierer, denn in seiner Zeit und Gegend zählte nur das Bodenständige.


    Zitat

    Original von Vickie
    Die Liebe zu und das Werben um Elsbeth "zehren wie eine Krankheit" an ihm


    Love stinks!


    Elias hat gegenüber Lukas Adler das Nachsehen, weil dessen tatkräftiges „mit beiden Beinen fest im Leben“ mehr Ansehen genießt als Elias Introvertiertheit.
    Dennoch hätte Elias Elsbeth leicht für sich gewinnen können, hätten sie nur mehr miteinander geredet. Der Satz „Elias saß schweigend auf dem Bock“ wird mehrfach wiederholt.

  • Die Wiederholung dieses Satzes ist mir auch aufgefallen. Hier zeigt sich, dass Elias trotz seiner Außergewöhnlichkeit einiges mit den übrigen Dorfbewohnern gemein hat. Wie sein Vater ist er kein "Redner". Er kann zwar über die Musik seine Gefühle kommunizieren, doch bei Worten versagt er. An sich wäre in diesem Moment noch nicht alles verloren, denn von keinem der jungen Männer wird Eloquenz erwartet, das gilt wohl eher als unmännlich. Doch Elias hat keinen Fürsprecher, niemanden, der ihn als potenziellen Ehemann für Elsbeth anpreist, wie Peter es mit Lukas tut. Wäre dies anders gewesen, kann ich mir durchaus vorstellen, dass Elsbeth sich für Elias entschieden hätte.

  • Mir ist gerade aufgefallen, dass in diesen Abschnitt auch noch das Kapitel "Gott fürchtet den Elias" gehört.


    Die Szene in der Kirche ist meines Erachtens noch symbolträchtiger und emotional aufwühlender als Elias' erste Verwandlung. Nachdem Elias nun mit endgültiger Sicherheit weiß, dass Elsbeth Lukas heiraten wird, lässt er sich wiederum für eine Nacht in der Kirche einschließen. Dieses Mal aber nicht, um Orgel zu spielen.


    Er hadert mit seinem Glauben, kann nicht fassen, dass Gott ihm das Gefühl einer solchen Liebe gewährt, aber die geliebte Person unerreichbar für ihn macht. Er ist von so großem Zorn und solcher Verzweiflung erfüllt, dass er Gott herausfordert: "Wisse, dass ich nicht aufhören werde, Elsbeth zu lieben. Wisse, dass ich mich gegen Deine Fügungen stelle."


    Nach diesen herausfordernden Worten, glaubt Elias plötzlich, die Anwesenheit einer zweiten Person zu spüren. Er entdeckt ein merkwürdiges Kind in einer der Kirchenbänke. Es trägt einen Kopfverband und zerlumpte Kleidung und hat, wie Elias beim Näherkommen feststellt, keinen Nabel. Elias glaubt, dass ihm Gott erschienen ist. Die meisten Menschen der heutigen Zeit würden eher an eine Halluzination glauben.
    Bemerkenswert ist aber auf jeden Fall, dass das Kind zurückzuckt, wenn Elias es berühren will. Wenn man dies mit dem Kapiteltitel in Verbindung bringt, so fürchtet Gott offenbar tatsächlich den Elias. Er hat Angst vor seiner eigenen Schöpfung. Diese Furcht scheint sogar zur Folge zu haben, dass er Elias nicht das sagen kann, was er möchte. Er versucht mehrmals zu sprechen, bleibt jedoch stumm.


    Am nächsten Morgen hat sich das Gelb von Elias' Augen wieder in das ursprüngliche Grün zurückverwandelt. Es drängt sich die Vermutung auf, dass dies nicht die einzige Veränderung sein wird, ähnlich wie bei der ersten "Verwandlung.


    Außerdem stellt sich heraus, dass - wahrscheinlich - zur selben Zeit von Elias' Begegnung mit "Gott" sein Vater aus seinem halbkomatösen Zustand erwacht ist und eine "lichte" Stunde hatte. Beide Väter ("Gott" und Seff) konnten jedoch Elias in seinem Leid nicht helfen.

  • Zitat

    Original von Vickie
    ...
    Nach diesen herausfordernden Worten, glaubt Elias plötzlich, die Anwesenheit einer zweiten Person zu spüren. Er entdeckt ein merkwürdiges Kind in einer der Kirchenbänke. Es trägt einen Kopfverband und zerlumpte Kleidung und hat, wie Elias beim Näherkommen feststellt, keinen Nabel. Elias glaubt, dass ihm Gott erschienen ist. Die meisten Menschen der heutigen Zeit würden eher an eine Halluzination glauben.
    Bemerkenswert ist aber auf jeden Fall, dass das Kind zurückzuckt, wenn Elias es berühren will. Wenn man dies mit dem Kapiteltitel in Verbindung bringt, so fürchtet Gott offenbar tatsächlich den Elias. Er hat Angst vor seiner eigenen Schöpfung. Diese Furcht scheint sogar zur Folge zu haben, dass er Elias nicht das sagen kann, was er möchte. Er versucht mehrmals zu sprechen, bleibt jedoch stumm.
    ...
    Außerdem stellt sich heraus, dass - wahrscheinlich - zur selben Zeit von Elias' Begegnung mit "Gott" sein Vater aus seinem halbkomatösen Zustand erwacht ist und eine "lichte" Stunde hatte. Beide Väter ("Gott" und Seff) konnten jedoch Elias in seinem Leid nicht helfen.


    Ich finde die Szene, die dem Ganzen voraus geht, fast noch wichtiger, denn sie bringt Elias erst an den Punkt, seine Hoffnungen auf Gefühle, die erwidert werden und ein halbwegs normales Leben aufzugeben.
    Ich meine die Fahrt auf dem Ochsenkarren mit Elsbeth.


    Alles, was Elias fühlt, spielt sich nur in seinem Kopf ab bisher, weil er nicht darüber reden kann. Als er sich doch dazu durchringt, ist es zu spät, und Elsbeth kann ihn nicht mehr hören, ohnmächtig geworden und in der Stille des gemeinsamen Schweigens zu einem Entschluss gekommen.
    Während dieser Fahrt lauschen wir den Gedanken von Elsbeth, wie aus ihren Zweifeln ein Entschluss wird, ein Entschluss für die Vernunft und gegen Elias.
    Alles, was Elias zur Unterhaltung beiträgt ist, vom Autor 4x niedergeschrieben zwischen den Stufen von Elsbeths Gedanken:
    "Elias saß schweigend auf dem Bock."


    Und es ist wieder Peter, der zur Stelle ist und Elias von Elsbeths Schwangerschaft und Hochzeit berichtet. Peter, der herumschleicht und sich in seiner Hassliebe von Elias Verzweiflung zu ernähren scheint.

  • Zitat

    Original von Clare
    Peter, der herumschleicht und sich in seiner Hassliebe von Elias Verzweiflung zu ernähren scheint.


    Absolut. Peter ist und bleibt eine ambivalente Figur, die schwer fassbar ist.
    Mich wundert eigentlich, dass Elias, der Peter sein Leben lang gedeckt hat, ihn so akzeptiert, sowohl das Böse wie das Gute nimmt. Aber Toleranz gehört wohl auch zu den positiven Eigenschaften von Elias, die sich dann gegen ihn wenden.

  • Ich bin absolut von den Figuren und dem Erzählstil begeistert. Wie der Autor es schafft einem die teilweise doch sehr abstoßende Handlung nahe zu bringen. Und was für ein Leben er für Elias konstruiert hat, das zudem sehr authentisch wirkt.


    Für mich ist das eines der Bücher, bei denen ich nicht einfach so einen Leseeindruck abgeben kann. ich haber immer das Gefühl, dass ich erst einmal alles sacken lassen möchte, bevor ich etwas dazu schreibe und es kommentiere.


    Zitat

    Original von Vickie
    Bemerkenswert ist aber auf jeden Fall, dass das Kind zurückzuckt, wenn Elias es berühren will. Wenn man dies mit dem Kapiteltitel in Verbindung bringt, so fürchtet Gott offenbar tatsächlich den Elias. Er hat Angst vor seiner eigenen Schöpfung. Diese Furcht scheint sogar zur Folge zu haben, dass er Elias nicht das sagen kann, was er möchte. Er versucht mehrmals zu sprechen, bleibt jedoch stumm.


    Diese Stelle hat´s mir auch angetan. Hat Gott wirklich Angst vor seiner Schöpfung? Hätte er es nicht wissen müssen?


    Mit dieser Leserunde wurde mir klar, dass ich unbedingt mehr Bücher von Robert Schneider lesen muss!