erstmals erschienen 1981
Die Geschichte von Tilla, die eigentlich die Geschichte von Tilla und Anne ist, gehört zu den Kinderbuchklassikern der DDR.
Anne muß eine andere Schule besuchen, weil ihre Schule umgebaut wird. In der neuen Klasse gefällt es ihr ganz gut, in den Klassenlehrer ist sie sogar ein bißchen verliebt. Dann steht eines Morgens Tilla da. Tilla hatte einige Wochen gefehlt, sie hatte sich ein Bein gebrochen. Für Tilla genügt ein Blick auf Anne, um zu wissen, daß sie die Neue nicht leiden kann. Da sie keine ist, die mit ihrer Meinung hinterm Berg hält und zudem Anführerin der Klasse, fängt sie umgehend Streit mit Anne an.
Anne ist völlig verdutzt und dann auch verängstigt. Sie ist klein, schmal, trägt eine Brille. Tilla ist ein gutes Stück größer als sie, dick und laut. Und ihr Wort ist Gesetz in der Klasse, selbst die Gruppenratsvorsitzende wagt nicht, ihr zu widersprechen. Anne steht auf verlorenem Posten.
Ausgehend von diesem ganz zufällig entstandenen und im Grund unerklärlichen Konflikt zwischen zwei ca. zwölfjährigen Mädchen, erzählt Klein eine spannende und facettenreiche Geschichte über Mobbing unter Kindern. Sowohl Anne als auch Tilla sind vielschichtige kleine Persönlichkeiten, die keineswegs ausschließlich auf Täterinnen - oder Opferrolle festgelegt sind. Im Gegenteil zeigt Klein, wie nahe Recht und Unrecht beieinander liegen, wie schmal der Grat zwischen Wahrheit und Lüge ist, zwischen Mut und Feigheit. Tilla hat einige Probleme, die sie verschweigt und allein durch körperliche Stärke überwinden will. Die zurückhaltende und sensible Anne muß feststellen, daß sie einen beträchtlichen Hang zu Trotz und Gewalttätigkeit hat. Es gibt Szenen schierer körperlicher Gewalt zwischen den Protagonistinnen, die in einem Mädchenbuch für diese Altersklasse ihresgleichen suchen.
Die Nebenfiguren, Tillas Freunde, allen voran Knut ‚Knutschi’, und Annes Freund Felix werden in den Konflikt hineingezogen. Ihre Entscheidungen fallen kaum besser aus als die der beiden Hauptfiguren. Sie sind feige, lügen aus falscher Solidarität oder mangelndem Mut, sind eifersüchtig. Alle miteinander machen eine Menge dummer Fehler, oft die schlimmsten, wenn sie es gut meinen.
Der Fokus liegt bei all dem immer auf den Kindern. Sie und nach der Lektüre dann die jungen LeserInnen dürfen selbst darüber nachdenken, was und warum etwas falsch war. Die Erwachsenen mischen wenig mit in diesem Buch. Sie haben einen anderen Blickwinkel, entscheiden aufgrund mangelnder Information nicht immer richtig. Die Kinder müssen ihre Probleme selbst lösen. Das tun sie, ihr Leidensweg ist allerdings beträchtlich.
Einen Teil der Geschichte nimmt Annes phantasievolle innere Verarbeitung ihrer schlimmen Erlebnisse mit Tilla ein. Anne erfindet Geschichten und malt gerne. Wenn sie flüchten will, kommt ein riesiger Fisch angeflogen und nimmt sie mit auf eine Reise. Im Dialog mit dem Fisch kommen Anne auch einige Erkenntnisse. Schade, daß die Illustrationen von Regien Röder, die die Magie dieser Stellen wunderschön wiedergeben, nicht auch noch bunt sind. Allerdings werden die Frabe so gut beschrieben, daß man das vieleicht wirklich nicht braucht.
Erzählt wird immer kindgerecht, aber trotzdem vielschichtig. Klein appelliert nicht nur an die Gefühle der jungen LeserInnenschaft, sondern auch beträchtlich an ihren Verstand.
Das Zusammenleben ist nicht einfach, man muß sich bemühen, sagt das Buch. Gewalt ist keine Lösung und lügen auch nicht. Ebenso wenig gibt es eindeutiges Schwarz und Weiß. Unterscheiden zu lernen ist die große Kunst und reden allemal besser als zuschlagen.
Spannende, sehr anspruchsvolle Geschichte mit lebendigen Mädchenfiguren, phantasievoll und mit einigen besonderen Überraschungen.