Ian McEwan: Der Zementgarten

  • Irgendwo in England, zu irgendeiner Zeit. Das Elternhaus steht in einem Abrißviertel, der Vater zementiert den Garten, die Mutter kränkelt. Der dreizehnjährige Jack und seine größere Schwester Julie übernehmen mehr und mehr die Fürsorge um die beiden jüngeren Geschwister Tom und Sue, nachdem der Vater an einem Herzanfall stirbt und die Mutter bettlägrig wird. Als auch die Mutter dahinscheidet, gießen die Kinder die Leiche in Zement ein, im Keller des Hauses, um zu vermeiden, daß ihre kleine Gemeinschaft auseinandergerissen wird. Es folgt eine Zeit des Laissez-Faire, in der Julie streunert, Jack seine eigene Sexualität entdeckt, Tom mehr und mehr zum Baby wird, Sue sich in ihren Büchern vergräbt. Dann bringt Julie ihren Liebhaber mit nach Hause, der alsbald hinter das Geheimnis der Geschwister kommt, und die Polizei ruft, als er Julie und Jack beim inzestiösen Sex ertappt.


    Das bedrückende Buch wurde zum Fundament für McEwans Welterfolg, der in unkapriziöser, dichter Sprache von der Isolation berichtet, von Nähe, Distanz, Angst und Liebe, der seine Protagonisten schutzlos, aber einfühlsam präsentiert, und den Leser vereinnahmt, der ebenso schutzlos zum empathischen Beobachter wird bei dieser Tragödie gewaltigen Ausmaßes. Ein heftiges, ergreifendes und brillant konstruiertes Buch.

  • Vor zwei Wochen hab ich es noch mal gelesen, und wieder in einem Rutsch! Man fühlt sich manchmal wie ein Voyeur. Auf jeden Fall nicht nur als Leser, man wird irgendwie mit reingezogen, man ist das kleine Mäuschen in der Ecke, alles läuft auf die Katastrophe raus und man sieht zu und ist starr vor Schreck. Tolles Buch. Ob es bei diesem Buch funktioniert, wenn es nach dem Film gelesen wird? Kanns mir nicht so recht vorstellen.

  • Hallo Tom und Flöt und alle,


    "DerZementgarten" ist auch eins meiner Lieblingsbücher.


    Ich empfand die Lektüre auch als genauso intensiv, wie ihr es beschrieben habt. Und obwohl Thema und Atmosphäre bedrückend sind, habe ich nicht das Gefühl, dass das Buch einen runterzieht, wie es bei einigen solcher düsteren Werke durchaus vorkommen kann. Der Roman zeigt auch sehr viel Wärme im Umgang der Geschwister miteinander und auch Humor kann man ihm nicht absprechen.


    Mc Ewans Erzählungen sind auch schön, allerdings habe ich allgemein für die kleinen Formen nicht so viel übrig.


    "Abbitte" spar ich mir schon ganz lang auf meinem SUB auf, in der Hoffnung, dass es genauso schön ist wie "Der Zementgarten".


    Habt ihr "Abbitte" schon gelesen?


    HG


    finsbury

  • Hallo, Finsbury.


    Zitat

    Und obwohl Thema und Atmosphäre bedrückend sind, habe ich nicht das Gefühl, dass das Buch einen runterzieht, wie es bei einigen solcher düsteren Werke durchaus vorkommen kann.


    Stimmt. Es ist bedrückend, aber nicht ... deprimierend. Das läßt sich schwer jemandem erklären, der es nicht kennt.


    "Abbitte" habe ich gelesen und auch rezensiert:


    "Abbitte" beginnt wie ein Sittenbild, wie einer dieser viktorianischen Romane: Sommer-Landleben, flirrende Hitze, Herrenhaus, die Töchter, die Köchin, der Gärtner - im britischen Surrey, im Jahr 1935. Familie Tallis hat zum Essen geladen, der Bruder Leon kommt aus Cambridge, bringt einen Freund mit, Paul Marshall, den Schokoriegel-Millionär, der bereits eine Army-Version seiner Süßigkeit plant, weil alle davon ausgehen, daß es wieder Krieg geben wird. Lola, Jackson und Pierrot sind zugegen, die Kinder der Mutterschwester, weil die und ihr Mann sich gerade hoffnungslos entzweit haben. Cecilia Tallis ist dreiundzwanzig, Leon zwei Jahre älter und Briony, das etwas introvertierte Nesthäkchen, dreizehn. Robbie Turner, der Sohn des Gärtners, Zögling des Tallis-Familienoberhauptes und ausgezeichneter Cambridge-Absolvent, blickt erwartungsfroh dem Medizinstudium entgegen, das, so steht zu hoffen, ebenfalls von Jack Tallis finanziert werden wird. Er und die drei Kinder des Hauses sind seit jeher Freunde, doch mit Cecilia verbindet ihn inzwischen mehr, wie beide merken - der Beginn einer zärtlichen, anfangs noch unbeholfen tastenden, nichtsdestotrotz sehr leidenschaftlichen Liebe steht bevor. Wenn da nicht Briony wäre.


    Briony schreibt, früher Märchen, jetzt Theaterstücke, kleine, kinderweltliche Romanzen mit Helden und Antihelden; vor dem Abendessen soll "Die Heimsuchungen der Arabella" aufgeführt werden, zu Leons Ehren, mit den jetzt elternlosen Zwillingen Jack und Pierrot in Neben-, Briony und Lola in Hauptrollen.
    Doch die kurzfristigen Proben scheitern, die Hitze macht allen zu schaffen, der elterliche Bruch liegt nur Tage zurück, und Briony hat ganz andere Sorgen, weil sie vom Fenster aus eine Szene zwischen Cecilia und Robbie beobachtet hat, die nach ihrer schriftstellerischen Deutung gewalttätig, zwanghaft war. Ein Brief, den sie in Robbies Auftrag der Schwester übergeben soll, und der fälschlicherweise in einer etwas obszönen Fassung im Umschlag steckt, nährt ihre Befürchtungen, und eine Begegnung in der düsteren Bibliothek, in der Cecilia und Robbie halbentkleidet zu kämpfen scheinen, verfestigt ihre Meinung, daß sich der Freund zum Triebtäter, zum Psychopathen entwickelt hat. Nach dem Essen verschwinden die Zwillinge, hinterlassen einen herzergreifenden Abschiedsbrief - Suchtrupps machen sich auf den Weg, Briony alleine, findet statt der Zwillinge aber die verstörte Lola, die im dunklen Park vergewaltigt wurde - Briony sah den Täter fliehen, und ist sich sicher, daß es sich um Robbie handelte. Das kindliche Gemüt in seinem frühschriftstellerischen Schwarzweißdenken wird zum Ankläger, vernichtet im Antagonistenglauben Robbies Existenz und die Liebe zur Schwester. Die Familie zerbricht, der Krieg bricht aus.


    Anfangs wußte ich nicht, ob ich je über Seite zwanzig, dreißig hinauskommen würde, zu possierlich, hausbacken schienen die Schilderungen, bis ich spürte, wie unglaublich dicht und zwingend, wahrhaftig achtsam McEwan seine Figuren und ihre Entwicklung komponiert. Die Erzählung hat etwas von der Fahrt auf einer alten Holzachterbahn: Anfangs lächelt man, inzwischen Zehnfachloopings gewöhnt, senkrechte Abstürze aus hundert Metern Höhe, aber dann zeigt das alte Ding seine Zähne, seinen leicht anachronistischen Reiz, die ganz eigene, sehr unhölzerne Wucht, gegen die moderne Superlative nie anstinken können. In einer sanften, fast "hohen" Sprache, mit großem Feingefühl und in einer fantastischen Diktion folgen die Kriegserlebnisse Robbies, Brionys und Cecilias, die Wiederannäherung, der Sühneversuch der kleinen Schwester. McEwan erzählt innerhalb der Erzählung, modelliert aus drei Perspektiven dann doch ein Sittenbild, aber eines um Wahrheit und Schuld, um Fiktion und Schicksal. Eine Art Manifest gegen den Augenschein, aber gleichzeitig weit mehr als das.


    Leider ist das Buch zeitweise ein bißchen langweilig und nebensächlich, und der Autor ist sehr auf seine drei Hauptfiguren fixiert, plaziert alle Nebendarsteller so weit hinten im Achterbahnzug, daß sie nichts mehr von der Fahrt haben, vor allem im zweiten und dritten Teil des Romans. Dessen ungeachtet bleibt es eine sehr ansprechende, hochklassige Lektüre, die ihren Reiz beileibe nicht nur aus der zeitgeschichtlichen Bedeutung, sondern insbesondere aus der einzigartigen literarischen Umsetzung bezieht. Die Botschaft ist vielleicht ein bißchen fad und zu früh allzu leicht erkennbar - der einzige wirkliche Makel des ansonsten sehr empfehlenswerten Buches.



  • Hallo Finsbury,


    "Der Zementgarten" kenne ich zwar nicht, aber "Abbitte" habe ich gelesen und mir hat es sehr gut gefallen! Ich kann Toms Rezi nur zustimmen.


    Ein paar Längen hatte es, das finde ich auch. Allerdings hatte ich das Buch in einer Leserunde gelesen und die Leute haben die Längen an unterschiedlichen Stellen gesehen: Für mich waren die Kriegsbeschreibungen eher langweilig, für andere der pittoreske Auftakt im Herrenhaus, den ich wiederum ausgesprochen gut fand!


    Grüße, die Waldfee

  • Bei Ian McEwan fällt mir "Zwischen den Laken" ein. Das müßte aber bestimmt schon mehr als 20 Jahre her sein, daß ich das las. War ziemlich ferkelig. Kann das sein... oder spielt mir meine Erinnerung da einen wüsten Streich?


    *zu faul zum Suchen bin* ;-)

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Abbitte hab ich noch nicht gelesen. Ist aber unbedingt vorgemerkt. Hab bei einem Buchladenbesuch jetzt "Amsterdam" von ihm ergattert. Hat das schon jemand gelesen?
    Und wie schon in einem anderen thread geschrieben: Es lohnt sich auch im Original! Ich lese relativ selten englische Titel und roste dann immer etwas ein. Aber "Enduring love" von McEwan war wirklich große Klasse, und ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man bestimmte Stellen übersetzen kann, ohne dass etwas verloren geht dabei.

  • Hallo, Tom, Flöt, Waldfee und Batcat,


    danke für die Stellungnahmen

    @ Tom, das Hereinkopieren der ausführlichen Rezi war prima: Klingt so, als würde es mir in der Tat gut gefallen: Ich mag eine behäbige Erzählweise, die viele als langweilig betrachten.



    Batcat ,
    du hast ganz Recht: einige der Erzählungen sind schweinigelig, wobei meine Lektüre ähnlich lange zurückliegt wie deine. Ich erinnere mich an eine Erzählung aus "Erste Liebe, letzte Riten", in der es um eine Kastration mit der Schere ging, ausgeführt von zwei Frauen an ihrem nervtötenden Liebhaber, bin mir in den Details aber nicht mehr sicher.


    HG
    finsbury

  • Ich hab es auch soeben beendet und hier ein paar mehr Infos:


    Klappentext:
    Jack und seine Geschwister scheinen zunächst ein ganz normales Leben in einer ganz normalen englischen Vorstadtsiedlung zu führen. dich dann stirbt der Vater- nicht ohne Zutun des 15-jährigen Jack- und schließlich auch die krebskranke Mutter. Da ihnen nun das Waisenhaus droht, beschließen die Kinder, die Leiche der Mutter in einem Privatbegräbnis im Kellerzu verbergen. Jack und seine Schwester Julie bilden nun das neue Elternpaar, das sich in einer gespenstischen Szene schließlich auch sexuell vereinigt. 2Im Hintergurnd htte ich das Gefühl, als säßen wir da und warteten auf ein schreckliches Ereignis, und dann fiel mir ein, daß es schon geschehen war", kommentiert Jack seine Geschichte.


    Ian McEwan gelingt mit seinem roman "Der Zementgarten"(1978) eine beklemmende psychologische Studie, die unter die Haut geht.Abgestoßen und fasziniert zugleich folgt der Leser den Lügen und Begierden, den Perversionen und Leidenschaften der Jugendlichen. Andrew Birkin verfilmte den Roman 1992 mit Andrew Robertson und Charlotte Gainsbourg in den Hauptrollen.


    Über den Autor:
    Ian McEwan wurde 1948 als Sohn eines Berufssoldaten in der Garnisonsstadt Aldershot geboren und verbrachte seine Kindheit an wechselnden Stützpunkten in Singapur, Libyen und England. Nach seinem Literaturstudium unter anderem bei den Schriftstellern Malcom Bradburry und Angus Wilson reiste er in einem VW-Bus durch Europa und bis nach Afghanistan. Bereits der Erfolg seines Erzählungsbandes "Erste Liebe, letzte Riten" (1975) erlaubte ihm die Existenz als freier Schriftsteller. Heute gehört er zu den erfolgreichsten britischen Schriftstellern. Zuletzt erschien 2002 der Roman "Abbitte".

    Mein Fazit:
    Hm... was soll ich sagen, ein sehr seltsames Buch, ich weiß nicht ob es nun total schlecht oder überragend gut war.
    Der Klappentext trifft es schon genau, einerseits ist man abgestoßen, andererseits total fasziniert.
    "Abbitte" ist auf jeden Fall schon mal auf meinr TRL notiert.

  • Von Ian McEwan habe ich einige Bücher gelesen, es war keins dabei, das mir nicht gefallen hat.


    Die Verfilmung des Zementgartens habe ich vor einige Jahren gesehen, das Buch aber erst gelesen, als es bei SB herauskam. Dass ich den Film kannte, hat meine Lust am Lesen keinesfalls beinträchtigt.


    Jorinde

  • Hallo!


    Ich habe gestern `Der Zementgarten` ausgelesen, und befinde mich noch ganz im Banne dieser Geschichte.


    Es ist schwer zu beschreiben, einerseits ist die Geschichte unheimlich skurril, auf eine eigene Art witzig, unheimlich beklemmend aber trotzdem nicht deprimierend, einzelne Szenen fand ich schlicht und ergreifend abstoszend und ekelerregend. McEwan schafft eine unheimliche Atmosphaere, ohne `grobe, deftige` Worte zu verwenden.


    Es wird aber gany sicher nicht das letzte Buch von Ian McEwan sein (`Liebeswahn` liegt bereits auf meinem SUB).

  • Zitat

    Original von Tom
    Ein heftiges, ergreifendes und brillant konstruiertes Buch.


    Ich fand und finde das Buch auch gut. Ich bin mir nicht sicher, was genau mich so anzieht, aber es liest sich auch beim dritten Mal noch richtig gut. Es ist heftig, das stimmt, aber es steckt auch Liebe und Unabhängigkeit drin. Auf der einen Seite bemerkt kein Aussenstehender das Fehlen der Mutter, andererseits schwingt sich einer zur Retter der Geschwister auf ohne auf deren Befindlichkeiten Rücksicht nehmen zu wollen.


    Tom
    macht es dir was aus, mir nach so langer Zeit noch kurz zu erläutern, worin das "brilliant konstruiert" besteht? Vielen Dank ;-)


    Liesbett

  • Für mich war das nix. Irgendwie blieben mir die Protagonisten komplett gleichgültig. Es hat mich ein wenig an einen Film mit Jodie Foster erinnert aus den siebziger Jahren: Das Mädchen am Ende der Strasse.
    Es gibt auch ein Buch dazu von Laird Koenig, aber ich hab nur den Film gesehen, der mich damals ziemlich bedrückt hat.

  • Ich habe das Buch vor Jahren gelesen, da war ich, glaube ich, noch nicht mal 18....ich fand das Buch klasse! Es ist eines der wenigen, die sich in mein Gehirn eingebrannt haben. Seine Sprache ist einfach der Wahnsinn! (Auch den Film fand ich super...)

    Ich möchte auch demnächst unbedingt "Abbitte" lesen...

    lg afrodita

  • Mir geht es so wie BJ: Ich weiß auch nicht so richtig, was ich davon halten soll.


    Es ist eine Geschichte, eine kurze, die man gut und gerne in drei Stunden schafft.


    Ich kann die Beweggründe der verstorbenen Mutter nicht verstehen, deren Tod absehbar war und die die Kinder nicht auf die kommende Situation vorbereitet.


    Das die beiden älteren Kinder die Verantwortung als Eltern übernehmen (lt. Klappentext) sehe ich nicht so. Zumindest Jack ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt...


    Das Buch läßt viele Fragen offen, so fühlte ich mich relativ alleingelassen, als die sexuelle Geschwisterbeziehung offenkundig wurde und das Buch abbricht.


    Mir fehlt das Ende, ein Abschluß dieser ganzen Tragödie.