Musiker
Ich saß im Zug, auf dem Weg in den Süden Deutschlands, zu einem Treffen mit alten Freunden. Ich fuhr erster Klasse, diesmal wollte ich es mir gutgehen lassen. Strom für den Laptop, Drinks am Platz für mich.
In Frankfurt betrat ein Mann das Abteil, ein hektischer Mensch, fragte, ob noch ein Platz frei sei, ich nickte, und er blieb. Er hatte einen großen, schäbigen Koffer bei sich, den ich auf den Gepäckträger wuchtete, und einen abgegriffenen Geigenkasten, den er nicht aus den Händen gab.
Wir kamen schnell ins Gespräch. Er heißt Armin und ist Geiger. Er lebt in Ecuador, wo er eine Musikschule leitet, und reist die meiste Zeit durch die Welt, um Konzerte zu geben.
Armin spricht deutsch. Er wurde in Hamburg geboren. 1938. In eine jüdische Kaufmannsfamilie. Der Großvater war ein hochdekorierter Veteran des Ersten Weltkriegs gewesen, der Vater wählte deutsch-national. Seinen Eltern gelang ein Jahr später die Ausreise in die Schweiz, von dort ging es nach Südamerika. Der Rest seiner Familie wollte abwarten. Schließlich waren Hamburg, Bremen, Oldenburg ihre Heimat.
Nur eine Tante blieb übrig, die sich 1946 zu den Emigranten gesellte, Tante Sarah, die eigentlich Auguste hieß und nun den von den Nazis aufgezwungenen Namen trug wie eine Auszeichnung. Sie hatte nach Israel gehen wollen, aber allein hatte ihr der Mut gefehlt. Darum ging sie nach Quito.
Sie wurde Armins Erzieherin. Sie nannte ihn David und lernte mit ihm. Sie erzählte von Judenhäusern, Viehwaggons und Lagern. Sie verschwieg weder den beißenden Geruch nach Rauch, der sie weit draußen in Polen empfing, wo er die Luft schwängerte, noch den samtfeinen, trockenen Film, der sich über alles legte, als wolle er trösten. Zwischen den Fingern zerrieb er sich zu feinem Mehl. Deutsche, das waren Uniformen und Befehlsgebell, bemitleidenswert dumme Menschen, die unentwegt salutierten und Befehle ausführten.
Nie lernte sie ein Wort Spanisch.
Armin, der Geiger, fliegt nach Deutschland, um die armen Menschen mit seiner Musik zu trösten, damit sie keine warme Asche mehr machen, sondern still sitzen und nicht mehr bellen, sondern lauschen. Armin spricht mit den armen Menschen, freut sich über die, die zuhören und von seiner Musik schwärmen, denn sie bellen nicht.
Aber Armin fühlt sich unwohl in Deutschland, weil er sich fürchtet vor den Uniformen, den grünen der Polizisten, den blauen der Bahnbediensteten, den schwarzen der Sicherheitsleute. In der Schweiz, in Österreich, überall außerhalb von Deutschland ist das anders, da wecken Uniformen Vertrauen, ihnen kann Armin seinen Koffer, sein Leben, seine Amati anvertrauen.
Armin reist mit der Eisenbahn, wenn er nicht fliegt, und er erzählt Mitreisenden seine Geschichte. Er erzählt die Geschichte einer glücklichen Kindheit, einer Begabung, er erzählt von der Musik und seiner Liebe zu ihr, er läßt sich die Geschichten der Mitreisenden erzählen, lauscht aufmerksam und mitfühlend anderen Schicksalen. Er spricht deutsch, denn es ist seine Muttersprache, er kennt und liebt die deutsche Literatur, die deutsche Kunst, vor allem die Musik und wittert dennoch die Rückkehr der Nationalsozialisten in jedem Winkel Deutschlands.
Ich hielt ihn für ein wenig verschroben, insbesondere als er mir riet, auszuwandern, bevor es wieder losgehe, in die Schweiz, denn die Schweiz sei solide, sei sicher. Und wenn es schlimm komme, nach Südamerika. Er wolle mich gerne wiedersehen. Er bat mich, gut auf mich achtzugeben und drückte mir zum Abschied sein Konzertprogramm in die Hand.
Ich lächelte, ein wenig geschmeichelt, ein wenig verlegen und sehr verwundert. Wie kam er darauf anzunehmen, es könne wieder losgehen?
Später saß ich mit den alten Freunden in geselliger Runde, wir speisten und tranken, plauderten und lachten, es war ein gelungener Abend. Robert, der alternde Gitarrero, entkorkte eine Flasche nach der anderen. Seine Münchhausiaden wurden immer absurder, unser Gelächter wollte gar nicht mehr abebben, trotzte seinen Beteuerungen, erst recht, als er anfing zu politisieren. Bis er eine Dollarnote aus der Tasche zog.
Ich wollte sie nicht hören, die Ein-Dollar-Theorie, die Idee von einer Verschwörung, die alle Fäden zieht, Menschen nach ihren Vorstellungen züchtet und manipuliert, niemand weiß etwas, niemand darf etwas sagen, aber zu später Stunde in einer süddeutschen Gastwirtschaft erleuchtet einer, der es aus ganz sicherer Quelle weiß, die Ahnungslosen. Ich wollte es nicht hören, lehnte mich zurück und verschränkte die Arme. Und dennoch konnte ich es nicht überhören, das Wort, das schlimme Wort, das die identifiziert, die hinter allem stecken, die noch die Freimaurer als ihre Marionetten benutzen und alle Fäden ziehen. Die Juden.
Armin war in diesem Augenblick in der Schweiz. Der Gedanke „Er ist in Sicherheit“ schoß mir durch den Kopf, während ich Robert fixierte. Robert, der beteuerte, das sehe man ja schon daran, wieviel Einfluß der Friedman habe, daß die ganze CDU, die FDP nur sage, was er wolle. Robert, dessen Augen strahlten, als die Runde der Freunde nach kurzem Zögern nickte, als jemand sagte, ja, da sei was dran. Und er setzte nach, das sehe man ja schon daran, daß keine Kritik erlaubt sei, was immer Israel tue, das sei richtig, und jede Kritik werde als Antisemitismus vom Tisch gewischt. Schließlich verstehe Israel sich als der Judenstaat, und die Juden unterschieden ja auch nicht zwischen israelisch und jüdisch.
Ich stand auf und ging zur Toilette, drehte das Wasser auf und ließ es kalt über meine Hände rinnen. In meinem Rücken noch immer Roberts Grinsen. Und in meinen Ohren dröhnte es: „Und wißt ihr auch, warum die Türken Israel nie kritisieren?“
Jule stand in der Tür, Roberts Freundin seit Kindertagen, sie lächelte, sie umarmte mich, ach, sei das ein schöner Abend! Es tue so gut, nach dieser langen Zeit wieder zusammenzusitzen. Das müßten wir bald mal wiederholen.
Ja, das müssten wir mal wiederholen, murmelte ich, befreite mich behutsam von ihr und ging hinaus. Ich holte die Jacke von der Garderobe und verabschiedete mich ins Bett. Das schlimme Wort begleitete mich.
(©2005 Iris Kammerer)