Sybil Volks: Torstraße 1

  • Klappentext:
    Für die letzte Party des Lebens kann man noch einmal Schlange stehen, auch wenn die Füße schmerzen und man offiziell keine Einladung hat für die »Club Opening Night«. Aber irgendwie wird Elsa an diesem windigen Frühlingsabend schon in das imposante Gebäude gelangen, das wie sie selbst in den vergangenen acht Jahrzehnten etliche Male den Namen gewechselt hat.
    Die meisten Gäste um sie herum verbinden nichts mit seiner Vergangenheit. Doch für Elsa steckt das vom Keller bis zum Dach luxussanierte Haus voller persönlicher Erinnerungen: 1929, genau am Tag der Eröffnung des ersten Kreditkaufhauses von Berlin, kam sie hier überstürzt auf dem Packtisch der Poststelle zur Welt; hier spielte sie als uneheliche Tochter einer jungen
    Verkäuferin tagein, tagaus und bestaunte die Olympiaringe an seiner Fassade; hier musste sie aber auch mit ansehen, wie die jüdischen Besitzer die zersplitterten Scheiben der Schaufenster wegkehrten, und nach dem Krieg starrte sie schweigend auf das rußgeschwärzte, doch nahezu
    unversehrte Gebäude, auf dem ein riesengroßes rotes Banner mit den Konterfeis von Marx, Engels, Lenin und Stalin prangte …
    All dies und noch viel mehr verbindet sie mit diesem Haus, aber auch mit Bernhard, Sohn des Zimmermanns Wilhelm Glaser, der zufällig Elsas Geburtshelfer und danach ein verlässlicher Freund ihrer Mutter wurde. Bernhard wurde am selben Tag, ja sogar zur selben Stunde geboren
    wie sie und sie bleiben einander ein Leben lang nahe. Auch dann, als eine Mauer Elsa und Bernhard trennt.
    (Quelle: Verlagswebsite)


    Autoreninfo:


    Sybil Volks, geboren 1965, lebt in Berlin und arbeitet als freie Redakteurin und Autorin. Sie hat zahlreiche Erzählungen und Gedichte veröffentlicht und erhielt ein Literaturstipendium des Berliner Senats. Ihr historischer Berlin-Krimi ›Café Größenwahn‹ war nominiert für den Sir-Walter-Scott-Preis sowie den Glauser-Preis 2008 als bestes Krimidebüt.
    (Quelle: Verlagswebsite)


    Aufbau/Allgemeines:
    "Torstraße 1" erscheint im November 2012 als Hardcover im dtv-Verlag.
    Die 400 Seiten des Romans beschäftigen sich mit der Geschichte Berlins zwischen dem Ende der Zwanziger Jahre des 20.Jahrhunderts bis ins Jahr 2009.
    Das erste und das letzte Kapitel spielen im Jahr 2009 bei der Eröffnung des "Soho House Berlin", eines exklusiven Privat-Clubs und Hotels in der Torstraße 1. Dieses Haus blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück, während der letzten acht Jahrzehnte diente es unter verschiedenen Besitzern unterschiedlichen Zwecken. Eng mit dem Haus ist die Geschichte der beiden fiktiven Protagonisten Elsa und Bernhard verbunden, über deren Schicksal in den unruhigen Zeiten des Nationalsozialismus, der Nachkriegszeit, der Teilung und
    Wiedervereinigung Deutschlands aus wechselnden Perspektiven berichtet wird.
    In einem informativen Nachwort fasst die Autorin kurz die wichtigsten Stationen des Hauses
    "Torstraße1" zusammen.


    Inhalt:


    1928 eröffnet im Osten Berlins das Kreditkaufhaus Jonass des jüdischen Kaufmanns Heinrich Grünberg, in dem sich auch die ärmeren Familien Berlins fast alle Wünsche erfüllen können, indem sie ein Viertel des Kaufpreises anzahlen und den Rest in Ratenzahlung begleichen. Bei der feierlichen Eröffnung wird die hochschwangere Angestellte Vicky Springer von den Wehen überfallen und bringt in der Poststelle des Kaufhauses ihre Tochter Elsa zur Welt. Niemand außer
    ihrer Freundin Elsie weiß, dass der Juniorchef des Kaufhauses, Harry Grünberg, der Vater ihres Kindes ist. Bei der Geburt assistiert neben einer alten Frau auch der Zimmermann Wilhelm Glaser, der am Bau des Gebäudes beteiligt war und deshalb zur Feier eingeladen ist. Am selben Tag bringt
    seine Frau Martha ihren Sohn Bernhard zur Welt. Die ledige Vicky, deren Beziehung zu ihrem jüdischen Liebhaber geheim bleiben muss, findet einen gewissen "Familienanschluss" an die Familie Glaser und die beiden gleichaltrigen Kinder wachsen zunächst fast wie Geschwister auf, bis sie durch die politischen Ereignisse auseinander gerissen werden, jedoch immer in Kontakt
    bleiben, so gut es unter den Umständen möglich ist. Dem Kaufhaus Jonass steht eine wechselvolle Existenz bevor: nach der Enteignung der jüdischen Besitzer und deren Emigration nach Amerika bemächtigen sich die Nationalsozialisten des Gebäudes und bringen dort die Leitzentrale ihrer Hitlerjugend ("Reichsjugendführung") unter. Nach dem Krieg wird es als "Haus der Einheit" als
    SED-Parteisitz genutzt, ab 1959 beherbergt es außerdem das "Institut für Marxismus-Leninismus". Jahre später, nach der Wende, steht es zunächst leer, bis es nach der Rückübertragung an die Erben und dem Wiederverkauf zum "Soho House Berlin" wird.
    Diese ganzen Entwicklungen verfolgt der Leser abwechselnd aus der Perspektive Elsas, die in Westberlin lebt, und Bernhards, der in der DDR als Journalist für die Zeitung "Neues Deutschland" tätig ist und -zumindest zu Beginn - an die propagierten Ideale seines Landes glaubt. Sowohl Elsa
    als auch Bernhard gründen Familien, die im losen und zu DDR-Zeiten heimlichen Kontakt stehen, das Leben ihrer Kinder und Enkelkinder steht exemplarisch für die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in den beiden deutschen Staaten.


    Meinung/Bewertung:


    "Torstraße 1 " hat mich von der ersten bis zur letzten Seite komplett gefesselt. Die Kapitel erzählen abwechselnd aus der Perspektive der beiden Hauptfiguren und ihrer Familien, dabei liegen zwischen den einzelnen Kapiteln oft mehrere Jahre. Ich hätte es begrüßt, wenn die Jahreszahlen in den Kapitelüberschriften angegeben gewesen wären, so muss man den zeitlichen Abstand zum vorhergehenden Abschnitt an den geschilderten Ereignissen ablesen. In jedem
    Kapitel wird die Haupthandlung nicht nur geradlinig vorangetrieben, sondern auch die Vorfälle aus den "Zwischenzeiten" werden anhand der Rückblicke und Erinnerungen der Romanfiguren für den Leser nachvollziehbar. Der Leser muss mit Konzentration bei der Sache bleiben, wird aber durch ein faszinierendes Panorama der deutsch-deutschen Geschichte belohnt. Man verfolgt die
    Ereignisse durch die Augen der einfachen Leute, mit denen man sich identifizieren kann. Bei älteren Lesern werden sicherlich auch Erinnerungen an die Erzählungen ihrer Eltern und an die eigene Jugend geweckt.
    Sehr gut haben mir die Charakterzeichnung der Romanfiguren und ihr Umgang mit Zweifeln und Konflikten gefallen, die realistisch wirken.


    Fazit:


    "Torstraße 1" ist ein ebenso unterhaltsamer wie auch informativer/lehrreicher Roman, der Lesern mit Interesse für die (deutsch-deutsche) Geschichte des 20.Jahrhunderts ein eindrucksvolles Bild der letzten acht Jahrzehnte erschließt und das Gefühl vermittelt, man wäre selbst dabei gewesen.
    Sehr empfehlenswert! 9 Punkte

  • Sybil Volks erzählt die Geschichte zweier Familien, eine im Westen und eine im Osten Berlins. Eine gutlesbare Kulturgeschichte über 80 Jahre, angefangen 1929 durch das Nazireich und das DDR Regime.


    Elsa wird als uneheliches Kind von Vicki in der Postzentrale des Kaufhauses Jonass am Einweihungstag geboren. Der Vater ist der Sohn des jüdischen Inhabers, der sich aber nicht zu ihr bekennt. Bei der Geburt ist der Zimmermann Wilhelm dabei, zu gleicher Zeit wird sein Sohn Bernhard geboren. Die beiden Familien bleiben in Kontakt und die Kinder sehen sich immer wieder. Das wird ein nettes Verhältnis, mit 10 Jahren spielen sie, das sie verlobt sind.


    Dann kommt alles ganz anders. Einmal wird jetzt die Familiengeschichte Elsas im Westen und dann Bernhards im Osten Berlins erzählt und man erlebt beide Seiten.


    Trotz allem gibt es ein besonderes Band zwischen Elsa und Bernhard. Zum 80. Geburtstag haben sie sich in dem Haus, das gerade mal wieder neu eröffnet wird, als privates Clubhaus, verabredet.


    Das Kaufhaus Jonass Torstraße 1 gibt es wirklich und nachdem es zwischenzeitlich Das Haus der Einheit war, ist es jetzt das Soho Haus Berlin, toll wie hier eine fiktive aber glaubwürdige Geschichte darum herum gewoben wurde.


    Ich habe es gerne und mit Begeisterung gelesen.

  • Kurzbeschreibung: ( amazon )


    Zwei Menschen, die am selben Tag geboren werden, zwei Lebensgeschichten, die ein Jahrhundert deutscher Geschichte erzählen.
    Für die letzte Party ihres Lebens steht Elsa vor dem Soho House in der Torstraße 1, das voller Erinnerungen für sie ist. Hier kam sie vor achtzig Jahren zur Welt, als das Kaufhaus Jonass glanzvoll eröffnete. Zur selben Stunde wurde Bernhard geboren, dessen Vater das Haus mit gebaut hat. Zwischen den beiden Kindern und ihren Familien knüpft sich ein enges Band.
    Sie alle müssen erleben, wie die Zentrale der Hitlerjugend in das Kaufhaus einzieht und die jüdischen Besitzer aus Deutschland vertrieben werden. Nach dem Krieg wird das Gebäude zum Institut für Marxismus-Leninismus der SED, wo Bernhard zu arbeiten beginnt. Krieg und Mauer trennen die Familien - doch Elsa und Bernhard bleiben einander nahe.
    Ein atmosphärischer Roman über Liebe und Zugehörigkeit - ausgehend von der wahren Geschichte des Hauses in der Torstraße 1.



    Meine Meinung:


    Das Buch beginnt mit dem Treffen von Elsa und Bernhard an ihrem 80. Geburtstag im Soho House Berlin zur feierlichen Eröffnung.
    Abwechselnd aus der Perspektive der beiden Hauptfiguren Elsa und Bernhard und ihrer Familien erleben wir dann in Rückblicken ein Stück Zeitgeschichte der letzten achtzig Jahre.
    Der beginnende Antisemitismus, die Nazizeit, der 2. Weltkrieg, der kalte Krieg, der Mauerbau und letztlich auch der Fall der Mauer sind Thema in diesem Roman, immer verbunden mit dem Wandel und der Geschichte des Hauses Torstr. 1. Aber man erfährt auch viel über das Leben in Berlin, die Probleme die durch die Teilung der Stadt entstanden sind und die unterschiedliche Entwicklung der Familien.


    Das Buch hat mich von der ersten Seite an gefesselt. Obwohl es sich ja um eine fiktive Geschichte ausgehend von der wahren Geschichte des Hauses handelt, wirkte es auf mich so real und echt, gerade auch die Erzählungen von Bernhard über das Leben im Ostteil der Stadt.
    Ich habe mich beim Lesen oft bei der Frage ertappt, in welchem Teil von Berlin die Autorin Sibyl Volks wohl groß geworden ist. Einziger Kritikpunkt für mich wären doch die teilweise sehr großen Zeitsprünge und die fehlenden Jahreszahlen.
    Aber mich hat das Buch trotzdem begeistert und ich würde das Buch jederzeit weiterempfehlen.


    Hier mal ein Link zum Haus Torstraße 1.
    Die haben da aber ganz schön gepfefferte Preise. Aber edel sieht es schon aus. :-]


    9 von 10 Punkte

    Kein Buch ist so schlecht, dass es nicht auf irgendeine Weise nütze.
    (Gaius Plinius Secundus d.Ä., röm. Schriftsteller)

  • Die junge Vicky ist verliebt - leider in den falschen Mann und zur falschen Zeit, denn wir befinden uns im Berlin der 1930er Jahre und Harry ist Jude. Aber auch für Harry ist Vicky die falsche Frau, zumindest nach Meinung seiner Eltern, denn sie ist weder jüdisch noch wohlhabend. Da ändert auch die kleine Tochter Elsa nichts. Harry emigriert nach Amerika und Vicky heiratet einen anderen. Vergessen jedoch kann sie Harry nicht und diese große Liebe wirft ihren Schatten nicht nur auf Vickys weiteres Leben, sondern auch auf das von Elsa und ihrem Kindheitsfreund Bernhard. Diese beiden trennt keine Rassenfrage, sondern eine Mauer, die jedoch ebenso unüberwindbar ist. Erst nach Jahren können sie sich wiedersehen und im Mittelpunkt beider großer Lieben steht das große Haus in der Torstraße 1 in Berlin, das ehemalige Kaufhaus Jonass…


    Sybil Volks ist mit "Torstraße 1" ein Roman gelungen, der die gesamte Zeitspanne zwischen 1930 und 2010 einfängt, eine lange Zeit, in der in Deutschland vieles in Bewegung war. Viele Schicksale spielen dabei eine Rolle, es geht um arisch und jüdisch, reich und arm, Frieden und Krieg, sozialistisch und kapitalistisch. Und immer geht es um die Liebe, die so leicht und doch so schwer ist. Mit Spannung liest man von Vicky und Harry, von Elsa und Bernhard und den vielen Lieben dazwischen, denn sie sind nun einmal Königskinder.
    Das Buch liest sich flüssig und sowohl Zeitgeist als auch Atmosphäre Berlins werden perfekt eingefangen. Leider jedoch wird es an einigen Stellen langatmig, darüber können auch die einigen wirklich sehr berührenden Momente nicht hinwegtäuschen. Und man muß schon genau lesen, um in den vielen, auch kurzfristigen, Perspektiv- und Zeitenwechseln nicht den Überblick zu verlieren.
    "Torstraße 1" ist ein gelungener Roman, der viel Geschichte vermittelt und dabei sehr persönlich bleibt. Durch dieses Buch wird das Kaufhaus Jonass für einige Momente wieder lebendig.

    liebe Grüße
    Nell


    Ich bin zu alt um nur zu spielen, zu jung um ohne Wunsch zu sein (Goethe)

  • Nun habe ich diese Buch auch durchgelesen. Wie die Überschrift schon verlauten lässt, bin ich durch das Buch einfach durchgerauscht. Was sich vielleicht auf den ersten Blick positiv anhört, hat mir nicht gefallen.
    Das Thema "Kaufhausgeschichte" hat mich zu Beginn neugierig gemacht. Aber während des ganzen Buches stand ja nur das Haus im Mittelpunkt. Die damit verbundenen Geschichten und Personen wurden über 80 Jahre im Buch begleitet. Diese Zeitspanne war mir eindeutig zu lang. Die Folge: viele Zeitsprünge und die Tiefe der Personen bleib auf der Strecke. Mit mehr Tiefgang hätte man daraus vielleicht eine Serie schaffen können, so wie Ken Follet es versucht. So kratzt das Buch vielfach an der Oberfläche. Deshalb bin ich auch einfach durch das Buch durchgerauscht. Wirklich nachhaltig werden mir die Personen nicht in Erinnerung bleiben. Schade.
    2 von 5 Punkten


    Ich habe das Buch bei vorablesen gewonnen.

  • Tolles Zeitbild anhand eines Hauses, so würde ich es in kurzen Worten sagen.


    Die Autorin nimmt einen Zeitungsartikel über das Haus "Torstraße 1" in Berlin zum Anlass, einen Roman zu schreiben mit Figuren, die eine Verbindung zu diesem Haus haben. Beginnend mit dem Hausbau, Ende der 20er Jahre durch die dunklen Zeiten der Naziherrschaft, der Nachkriegszeit, der DDR und schließlich in und nach der Wende.


    Die Idee fand ich einfach klasse und der Roman hat mich von Beginn an gefesselt. Ich fand nur, dass man am Ball bleiben musste (was mir überhaupt nicht schwer fiel), da doch etliche Personen vorkommen und durch fehlende Jahreszahlen nicht immer gleich klar war, wann man sich in der Geschichte befindet.


    Trotzdem, absolut lesenswert, genauso ein Buch wollte ich immer gerne lesen.


    Von mir 9 Punkte, der eine Punkt Abzug ist nur aufgrund der fehlenden Jahreszahlen.

  • Berlin, Berlin - dein Herz kennt keine Mauern...


    Wissen Sie noch, wie das war, wenn man sich verliebt hatte? Es war ein Zustand ein wenig jenseits der Rationalität. Sicher kann man sich erinnern, welche Momente einen ergriffen und bezaubert haben. Aber letztlich "erklären" lässt sich Verliebtheit nicht. Mit diesem Buch nun geht es mir ganz ähnlich. Ab einem bestimmten Punkt war ich einfach nur noch "verliebt", und habe mich von der ganzen Atmosphäre mitreißen lassen. Von Dingen wie Perfektion oder Anspruch will ich nicht einmal reden. Aber von einer Autorin und von Charakteren, die das Herz am sprichwörtlichen "rechten Fleck" haben.


    Ich habe lange überlegt, was ich als Hauptgrund für meine "Verliebtheit" bezeichnen würde. Ich denke, es ist die - für mich - perfekt ausbalancierte Absicht und "Botschaft" des Buches. Es vereint in sich sowohl die Geschichte zweier Familien, diverse amouröse Verstrickungen und verhinderte Lebensentwürfe, deutsche Zeitgeschichte, sowie die Geschichte eines berühmten Gebäudes, nämlich des Hauses Torstraße 1 in Berlin. Keiner dieser Anteile bekommt mehr Raum als die anderen, und keiner wird vernachlässigt. Das fand ich schon ein großes Kunststück!


    Schon allein die Rahmenhandlung hat mir wunderbar gefallen. Das Buch wird nämlich eingeleitet (und abgeschlossen!) mit Zitaten aus "Cabaret", dem berühmten Film, der ja ebenfalls in Berlin spielt, und Zeitgeschichte behandelt. "Willkommen, bienvenue, welcome", in der Tat! Ich habe Liza Minnelli förmlich vor mir gesehen, wie sie durch diese "Revue" leitet. Womit ich die Handlung keineswegs abwerten möchte! Für mich hat das einfach nur betont, dass die Autorin ein Porträt und Panorama zeichnen möchte, und sich einer Wertung weitestgehend enthält. Genau der richtige Ansatz! Ich gestehe, ich habe auch ein oder zwei Tränchen verdrückt. Denn die Rahmenhandlung, das erste und letzte Kapitel, stellt ja dar, wie Elsa und Bernhard, die Kinder von Vicky und Wilhelm, sich nach langer Zeit wieder finden. Und zwar - wie könnte es anders sein - in "ihrem" Haus, der Torstraße 1...


    Ich mag die Handlung einfach nicht wiederkäuen. Das würde für mich den Zauber des Buches zerstören. Es reicht völlig aus, zwei Sätze hierzu zu schreiben. Vicky und Wilhelm lernen sich im Berlin des Jahres 1929 kennen, und zwar anlässlich der Eröffnung des (jüdischen) Kaufhauses Jonass. Ihre Geschichte, die wechselhafte Geschichte des Gebäudes, und die Wirren ihrer beider Familien, ziehen sich (mit diversen Sprüngen) durch das ganze Buch, bis in die Gegenwart hinein.


    Ich muss wirklich sagen, dass Berlin für mich so eine Art "heimlicher Held" des Buches ist. Man merkt auf jeder Seite, dass die Autorin selber aus Berlin stammt und dort auch lebt. Das Buch "atmet" Berlin! Das reicht von politischen Stimmungen, zeitgeschichtlichen Episoden, bekannten Schlagern, Dialekt-Passagen, Straßennamen, Lokalen bis hin zu Kleidungsstücken. Det fand ick dufte!


    Beeindruckt hat mich außerdem die schriftstellerische Technik. Ich würde sie fast ein wenig wie "Korbflechten" bezeichnen. Man musste sich schon ein wenig konzentrieren beim Lesen; gefällige Unterhaltung war dies gewiss nicht...! Die Kapitel handeln immer abwechselnd von einer der beiden Familien. Und innerhalb der Kapitel wechseln auch die Perspektiven der Personen. Mal von Mutter zu Tochter, oder von Sohn zu Vater. Zeitliche Sprünge von geschätzten 10 Jahren liegen zwischen den einzelnen Kapiteln, was zusätzliche Denkarbeit erforderte. Doch gerade das habe ich genossen. Ich mag es, wenn ich als Leser an der Sinnkonstruktion beteiligt werde! Nur ganz zum Ende hin hatte ich das Gefühl, dass ein paar Fäden offen gelassen wurden. Doch das führt bei mir zu keinem Punktabzug. Das Buch war insgesamt reichhaltig genug! Ich habe einen grandiosen Einblick erhalten in all die politischen Wirren, die sich in Berlin abgespielt haben - über die Nazis, die Sozis, bis hin zum Heute. Und das Merkwürdige war, ich habe (fast) alle Beteiligten gut verstehen können.


    Abschließend möchte ich noch einmal meine persönlichen Vermutungen überdenken, die ich nach dem Überfliegen der Leseprobe hatte. Buddenbrooks? Nee, det war et nich. Schon eher "Vom Winde verweht". Doch, Vicky hat mich ein wenig an Scarlett O'Hara erinnert - halsstarrig, leidenschaftlich, heiratet halb aus Berechnung einen Anderen - und hängt ihr ganzes Leben an einem Haus, der Torstraße 1... Ach, ich kann und will meine Verzauberung nicht letztlich erklären. Aber ich will das Buch unbedingt weiterempfehlen! Es ist für viele Gruppen von Lesern geeignet: sowohl solche, die sich für deutsche Geschichte interessieren, als auch für diejenigen, die Familiendramen und Liebesgeschichten mögen. Von mir völlig verdient die volle Punktzahl.

  • Torstraße 1 ist wirklich ein tolles Buch in dem sich Geschichte und fiktiver Roman gut miteinander verbinden.
    Es werden 80 Jahre Zeitgeschichte in Berlin eindrucksvoll an einem Haus und zwei Familien durchlaufen. Man bekommt einen sehr guten Einblick über die Ereignisse in der Zeit…Nazizeit, dritter Weltkrieg, geteiltes Berlin, Mauerfall…bis in die Gegenwart.
    Einige Passagen waren mir zu lang, aber alles in allem ein guter Roman.

  • Das Haus in der Torstraße 1 gibt es wirklich. Ende der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts eröffnet als Kreditkaufhaus, wurde es später von der NSDAP und der SED genutzt und schließlich, 80 Jahre später, als exklusiver Club neu eröffnet. Der Roman erzählt neben seiner (fast) realen Geschichte auch die Lebensgeschichten fiktiver Personen. Elsa wurde am Eröffnungstag in der Poststation des Hauses geboren, wer ihr Vater ist, erfährt sie erst viele Jahre später. Zufällig bei ihrer Geburt anwesend ist der Zimmermann Wilhelm, dessen Sohn Bernhard in der selben Stunde geboren wird. Diese Gemeinsamkeiten verbinden die Familien und vor allem Elsa und Bernhard über die Jahrzehnte.


    Es dauerte viele Seiten, bis ich mich mit dem Roman wohl fühlte, zunächst zog es sich doch sehr, ich langweilte mich. Doch irgendwann fingen die Geschichten doch an, mich zu interessieren. Erzählt wird nämlich nicht eine einzelne Geschichte, es sind tatsächlich mehrere, wobei die Geschichte des Hauses eher im Hintergrund abläuft, transportiert wird durch die Geschichten der Protagonisten. Diese laufen nur teilweise parallel, ab einem gewissen Punkt sind sie nur noch marginal verbunden.


    Erzählt wird daher auch aus verschiedenen Perspektiven, zunächst stehen Elsas Mutter Vicky und Bernhards Vater Wilhelm im Mittelpunkt, später Elsa und Bernhard selbst, immerhin wird über einen Zeitraum von 80 Jahren berichtet. Das geschieht allerdings nicht fortlaufend, sondern eher in Momentaufnahmen, dazwischen liegen Zeitsprünge, die der Leser selbst einordnen muss, hin und wieder werden historische Ereignisse, selten Jahreszahlen genannt, als Leser sollte man sich in der (deutschen) Geschichte dieser Zeit schon etwas auskennen. Da die herausgegriffenen Ereignisse für mehrere Protagonisten von Bedeutung sein können, kommt es vor, dass Dinge zunächst aus einer, später aus einer anderen Perspektive betrachtet werden.


    Die Charaktere stehen dadurch sehr im Mittelpunkt – und trotzdem wurde ich mit den meisten nicht richtig warm, nur wenige von ihnen, vor allem Wilhelm, konnten mein Herz erreichen. Das ist sehr schade und sicher mit ein Grund, warum ich relativ schlecht in die Geschichte finden konnte.


    Wer sich gerne auch mit den Hintergründen eines historischen Romans auseinandersetzt, kann hier Einiges zum Recherchieren finden, schon allein die Geschichte des Hauses ist interessant und liefert viel deutsche Geschichte.


    Letztlich habe ich den Roman nicht ungern gelesen, eine Empfehlung fällt mir allerdings schwer. Es gibt viele Romane, die die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts verarbeiten, dieser bietet nicht wirklich Neues. Wer aber gerne über diese Epoche liest, liegt sicher nicht falsch.

  • Ein Haus im Wechsel der Zeiten ...

    Ganz anders als vermutet, aber nicht uninteressiert begleite ich Vicky, Harry, Wilhelm, Martha und natürlich als Hauptpersonen Elsa und Berhard, die beide am gleichen Tag im Jahr 1929 das Licht der Welt erblicken. Für Vicky ist es nicht einfach, denn der Vater der kleinen Elsa darf sich nicht zu ihr bekennen und so muss sie Kindererziehung, ihre Arbeit und vor allem die Vorurteile der Menschen um sie herum allein unter einen Hut bringen. Auch für Wilhelm ist es nicht immer leicht, denn seine Frau leidet unter Depressionen und so muss auch er viel jonglieren, um das Leben seiner kleinen Familie zu managen. Ganz unschuldig hingegen scheint die besondere Freundschaft, die Elsa und Bernhard verbindet, sie ahnen noch nichts von den Kämpfen, die ihre Eltern auszufechten haben. Über die Jahre jedoch verlieren sie sich aus den Augen und auch das schöne Gebäude in der Torstraße 1 muss immer wieder Änderung über Änderung über sich ergehen lassen. Viele Jahre gehen ins Land, bis sich die beiden Wahlgeschwister schließlich wieder sehen dürfen, viele Tränen werden vergossen, viele Kinder werden geboren und die Politik scheint willkürlich über alle verfügen zu wollen. Eine spannende Reise in die Vergangenheit nimmt ihren Lauf …

    Während das Kaufhaus Jonass, das in der Torstraße 1 im Osten Berlin als „Kreditkaufhaus auf Pump“ zu Anfang der Geschichte noch sehr im Mittelpunkt steht, tritt es mit jeder Seite, die im umblätterte, immer mehr in den Hintergrund. Im Vordergrund steht die Geschichte um die teilnehmenden Charaktere, wobei ich gestehen muss, dass es mir beim Lesen immer schwerer fiel, den Zugang zu ihnen zu finden. Verwirrend fand ich zudem die Namensähnlichkeit von Elsa, Elisa und wie hieß nochmal die Dritte? Schade, ich hatte mir hier eine flüssigere Geschichte versprochen und vergebe hier diesmal leider nur 3,5 von 5 Sternen. Aber macht euch selbst ein Bild, vielleicht bin ich ja auch ein wenig zu kritisch?