Klappentext:
Für die letzte Party des Lebens kann man noch einmal Schlange stehen, auch wenn die Füße schmerzen und man offiziell keine Einladung hat für die »Club Opening Night«. Aber irgendwie wird Elsa an diesem windigen Frühlingsabend schon in das imposante Gebäude gelangen, das wie sie selbst in den vergangenen acht Jahrzehnten etliche Male den Namen gewechselt hat.
Die meisten Gäste um sie herum verbinden nichts mit seiner Vergangenheit. Doch für Elsa steckt das vom Keller bis zum Dach luxussanierte Haus voller persönlicher Erinnerungen: 1929, genau am Tag der Eröffnung des ersten Kreditkaufhauses von Berlin, kam sie hier überstürzt auf dem Packtisch der Poststelle zur Welt; hier spielte sie als uneheliche Tochter einer jungen
Verkäuferin tagein, tagaus und bestaunte die Olympiaringe an seiner Fassade; hier musste sie aber auch mit ansehen, wie die jüdischen Besitzer die zersplitterten Scheiben der Schaufenster wegkehrten, und nach dem Krieg starrte sie schweigend auf das rußgeschwärzte, doch nahezu
unversehrte Gebäude, auf dem ein riesengroßes rotes Banner mit den Konterfeis von Marx, Engels, Lenin und Stalin prangte …
All dies und noch viel mehr verbindet sie mit diesem Haus, aber auch mit Bernhard, Sohn des Zimmermanns Wilhelm Glaser, der zufällig Elsas Geburtshelfer und danach ein verlässlicher Freund ihrer Mutter wurde. Bernhard wurde am selben Tag, ja sogar zur selben Stunde geboren
wie sie und sie bleiben einander ein Leben lang nahe. Auch dann, als eine Mauer Elsa und Bernhard trennt.
(Quelle: Verlagswebsite)
Autoreninfo:
Sybil Volks, geboren 1965, lebt in Berlin und arbeitet als freie Redakteurin und Autorin. Sie hat zahlreiche Erzählungen und Gedichte veröffentlicht und erhielt ein Literaturstipendium des Berliner Senats. Ihr historischer Berlin-Krimi ›Café Größenwahn‹ war nominiert für den Sir-Walter-Scott-Preis sowie den Glauser-Preis 2008 als bestes Krimidebüt.
(Quelle: Verlagswebsite)
Aufbau/Allgemeines:
"Torstraße 1" erscheint im November 2012 als Hardcover im dtv-Verlag.
Die 400 Seiten des Romans beschäftigen sich mit der Geschichte Berlins zwischen dem Ende der Zwanziger Jahre des 20.Jahrhunderts bis ins Jahr 2009.
Das erste und das letzte Kapitel spielen im Jahr 2009 bei der Eröffnung des "Soho House Berlin", eines exklusiven Privat-Clubs und Hotels in der Torstraße 1. Dieses Haus blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück, während der letzten acht Jahrzehnte diente es unter verschiedenen Besitzern unterschiedlichen Zwecken. Eng mit dem Haus ist die Geschichte der beiden fiktiven Protagonisten Elsa und Bernhard verbunden, über deren Schicksal in den unruhigen Zeiten des Nationalsozialismus, der Nachkriegszeit, der Teilung und
Wiedervereinigung Deutschlands aus wechselnden Perspektiven berichtet wird.
In einem informativen Nachwort fasst die Autorin kurz die wichtigsten Stationen des Hauses
"Torstraße1" zusammen.
Inhalt:
1928 eröffnet im Osten Berlins das Kreditkaufhaus Jonass des jüdischen Kaufmanns Heinrich Grünberg, in dem sich auch die ärmeren Familien Berlins fast alle Wünsche erfüllen können, indem sie ein Viertel des Kaufpreises anzahlen und den Rest in Ratenzahlung begleichen. Bei der feierlichen Eröffnung wird die hochschwangere Angestellte Vicky Springer von den Wehen überfallen und bringt in der Poststelle des Kaufhauses ihre Tochter Elsa zur Welt. Niemand außer
ihrer Freundin Elsie weiß, dass der Juniorchef des Kaufhauses, Harry Grünberg, der Vater ihres Kindes ist. Bei der Geburt assistiert neben einer alten Frau auch der Zimmermann Wilhelm Glaser, der am Bau des Gebäudes beteiligt war und deshalb zur Feier eingeladen ist. Am selben Tag bringt
seine Frau Martha ihren Sohn Bernhard zur Welt. Die ledige Vicky, deren Beziehung zu ihrem jüdischen Liebhaber geheim bleiben muss, findet einen gewissen "Familienanschluss" an die Familie Glaser und die beiden gleichaltrigen Kinder wachsen zunächst fast wie Geschwister auf, bis sie durch die politischen Ereignisse auseinander gerissen werden, jedoch immer in Kontakt
bleiben, so gut es unter den Umständen möglich ist. Dem Kaufhaus Jonass steht eine wechselvolle Existenz bevor: nach der Enteignung der jüdischen Besitzer und deren Emigration nach Amerika bemächtigen sich die Nationalsozialisten des Gebäudes und bringen dort die Leitzentrale ihrer Hitlerjugend ("Reichsjugendführung") unter. Nach dem Krieg wird es als "Haus der Einheit" als
SED-Parteisitz genutzt, ab 1959 beherbergt es außerdem das "Institut für Marxismus-Leninismus". Jahre später, nach der Wende, steht es zunächst leer, bis es nach der Rückübertragung an die Erben und dem Wiederverkauf zum "Soho House Berlin" wird.
Diese ganzen Entwicklungen verfolgt der Leser abwechselnd aus der Perspektive Elsas, die in Westberlin lebt, und Bernhards, der in der DDR als Journalist für die Zeitung "Neues Deutschland" tätig ist und -zumindest zu Beginn - an die propagierten Ideale seines Landes glaubt. Sowohl Elsa
als auch Bernhard gründen Familien, die im losen und zu DDR-Zeiten heimlichen Kontakt stehen, das Leben ihrer Kinder und Enkelkinder steht exemplarisch für die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in den beiden deutschen Staaten.
Meinung/Bewertung:
"Torstraße 1 " hat mich von der ersten bis zur letzten Seite komplett gefesselt. Die Kapitel erzählen abwechselnd aus der Perspektive der beiden Hauptfiguren und ihrer Familien, dabei liegen zwischen den einzelnen Kapiteln oft mehrere Jahre. Ich hätte es begrüßt, wenn die Jahreszahlen in den Kapitelüberschriften angegeben gewesen wären, so muss man den zeitlichen Abstand zum vorhergehenden Abschnitt an den geschilderten Ereignissen ablesen. In jedem
Kapitel wird die Haupthandlung nicht nur geradlinig vorangetrieben, sondern auch die Vorfälle aus den "Zwischenzeiten" werden anhand der Rückblicke und Erinnerungen der Romanfiguren für den Leser nachvollziehbar. Der Leser muss mit Konzentration bei der Sache bleiben, wird aber durch ein faszinierendes Panorama der deutsch-deutschen Geschichte belohnt. Man verfolgt die
Ereignisse durch die Augen der einfachen Leute, mit denen man sich identifizieren kann. Bei älteren Lesern werden sicherlich auch Erinnerungen an die Erzählungen ihrer Eltern und an die eigene Jugend geweckt.
Sehr gut haben mir die Charakterzeichnung der Romanfiguren und ihr Umgang mit Zweifeln und Konflikten gefallen, die realistisch wirken.
Fazit:
"Torstraße 1" ist ein ebenso unterhaltsamer wie auch informativer/lehrreicher Roman, der Lesern mit Interesse für die (deutsch-deutsche) Geschichte des 20.Jahrhunderts ein eindrucksvolles Bild der letzten acht Jahrzehnte erschließt und das Gefühl vermittelt, man wäre selbst dabei gewesen.
Sehr empfehlenswert! 9 Punkte