Ferne Tochter - Renate Ahrens

  • Eine Geschichte beginnt immer mit einer Figur, sagt Renate Ahrens. Die Geschichte ihres Lebens begann mit ihrer Geburt 1955 in Herford. Die Autorin studierte Englische Philologie und Romanistik und arbeitete vor ihrer Tätigkeit als freie Autorin als Lehrerin. Ihr Leben teilt sie nach Aufenthalten in Italien, Südafrika, Frankreich und Irland heute zwischen Dublin und Hamburg auf. Sie bezeichnet sich selbst als neugierigen Menschen, der gerne neue Welten – bei Auslandsaufenthalten – entdeckt.


    Die Figur, um die es im neuesten Roman von Renate Ahrens geht, heißt jedoch Judith. Judith ist Restauratorin, lebt in Italien und hütet sehr erfolgreich ein Geheimnis aus ihrer Vergangenheit. Am 28. September diesen Jahres war ich zur Buchpremiere von Ferne Tochter im Speicherstadtmuseum Hamburg eingeladen. Leider konnte ich nicht hingehen. Umso mehr habe ich mich gefreut, als ich dann das Buch in Händen hielt.


    Niemand kann vor seiner Vergangenheit auf Dauer davonlaufen


    Rom, seit nahezu vierzig Jahren die Lieblingsstadt der Autorin, ist einer der Schauplätze, an dem die Geschichte der Hauptfigur Judith spielt. Judiths sorgsam aufgebautes Lügenkonstrukt bezüglich ihrer Vergangenheit samt bis dahin gut funktionierender Verdrängungstaktik droht ihre glückliche, aber kinderlose Ehe mit Francesco von heute auf morgen zu zerbrechen, als eine ehemalige Freundin aus ihrer alten Heimat sich meldet. Er weiß, dass sie alle Brücken hinter sich abgebrochen hat, kennt jedoch nicht den wahren Grund. Er ahnt nicht, dass sie eine mittlerweile erwachsene Tochter hat, die sie gleich nach der Geburt zur Adoption freigab. Er weiß nicht, die wahren Gründe für Judiths Flucht aus Deutschland. Und sie weiß nicht, wie sie ihm erklären soll, warum sie sich alleine um ihre Mutter kümmern muss, die nach einem Schlaganfall im Krankenhaus gelandet ist. Oder wie sie ihm gar von ihrer Tochter erzählen könnte, die den Kontakt zu ihr sucht. Bei ihrem anfangs widerwilligen Versuch, sich um ihre Mutter zu kümmern bzw. die Dinge zu klären, muss sich Judith nicht nur ihrer Vergangenheit stellen. Sie lernt auch ihre Mutter in gewisser Weise neu kennen und bekommt zumindest die Chance die Folgen ihrer aus Verzweiflung getroffenen Entscheidung abzumildern.


    Der Titel passt in meinen Augen sehr gut, spiegelt er doch nicht nur Judiths Verhältnis zu ihrer Mutter, sondern auch zu ihrer Tochter wieder, das anfangs nicht distanzierter hätte sein können. Ferne Tochter ist aus Judiths Sicht geschrieben. Die kurzen Sätze spiegeln nicht nur die innere Zerrissenheit von Ahrens Romanfiguren wieder, sie unterstreichen die aufwühlenden Emotionen der Grundthematik geradezu. Gefühlvoll und emphatisch führt die Autorin ihre LeserInnen wie ihre Figuren durch den Roman. Unfassbar, aber keinesfalls unmöglich, scheint dabei die Denkweise der Eltern Judiths anlässlich der Zeit, in der sie ihr uneheliches Kind bekommt. Die Geschehnisse der Vergangenheit sind gut proportioniert und gezielt in das aktuelle Geschehen eingestreut. Obwohl der Fokus eindeutig auf Judith liegt, bleiben auch Francesco und andere Figuren nicht flach und schon gar nicht nebensächlich.


    Ohne überfrachtete Beschreibungen oder gar melodramatische Auswüchse erzählt Ahrens Judiths Geschichte und regt zum Nachdenken an. Nicht nur, wie gefährlich noch so kleine Lügen sein können, sondern auch welchen Stellenwert die Familie hat oder zumindest haben sollte. Darüber, wie wichtig es ist, seine Wurzeln zu kennen. Darüber, wie blind man gegenüber Hilfsangeboten sein kann, oder wie schwer manche Dinge wieder gutzumachen sind. Erzählt von etwas, das direkt um uns passieren könnte. Authentisch, lebensnah, glaubhaft.


    Fazit


    Ein sehr berührendes Buch, das ich nur empfehlen kann. Ein Roman über Schuld und Vergebung, über Enttäuschung, Verzweiflung und Hilflosigkeit. Keine heitere Geschichte, aber trotz allem ganz und gar nicht hoffnungslos. Ferne Tochter hat mir Appetit auf weitere Romane der Autorin gemacht. Wie gut, dass es da schon welche gibt.


    Copyright © 2012, Antje Jürgens (AJ)

    Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem beinahe richtigen ist derselbe Unterschied wie zwischen einem Blitz und einem Glühwürmchen.
    Mark Twain